Welches Problem hatte die deutsche Nachkriegslinke mit Israel? Wie aus modischem Antiisraelismus offener Judenhass wurde
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War die europäische Linke in Teilen antisemitisch? Diese Frage ist schnell beantwortet, die Geistes- und Ideologiegeschichte lässt keinen Zweifel: Schon der französische Frühsozialismus war – mit geringen Ausnahmen – antisemitisch und wähnte in den Rothschilds sowie einem angeblichen „jüdischen Finanzfeudalismus“ die Wurzel allen Übels. Viele russische Anarchisten waren glühende Judenhasser und auch deutsche Frühsozialisten wie der Komponist Richard Wagner, der junge Karl Marx und etwas später Eugen Dühring schrieben Sätze, deren antijüdisches Ressentiment und deren Hass mit noch so vielen Interpretationskünsten und Kontextuierungen nicht ausgelöscht werden können. Dass der späte Karl Marx, der Verfasser des „Kapitals“, die Kritik der „jüdischen“ Geldwirtschaft durch eine Kritik des abstrakten Kapitalverhältnisses ersetzte, und einer der Begründer der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel, sinnvoll, aber nicht unbedingt richtig, den Antisemitismus als den „Sozialismus des dummen Kerls“ bezeichnete, beweist nur, dass die real existierende Linke nicht in jedem Fall die Höhe ihres möglichen Gedankens erreicht hat. Was für die Geschichte der Linken im Allgemeinen gilt, gilt umso stärker für die westdeutsche Nachkriegslinke.
Nicht erst seit Wolfgang Kraushaars Rekonstruktion des von dem Kommunarden Dieter Kunzelmann geplanten und angeregten Bombenanschlags auf ein jüdisches Gemeindezentrum 1969 in Berlin, sondern schon seit Martin Klokes profunder Arbeit über „Israel und die deutsche Linke“ aus dem Jahr 1990 ist der Befund klar: Der vermeintlich politisch korrekte Antizionismus und Antiisraelismus, der keineswegs nur von radikalen Splittern der Linken vertreten wurde, war in den meisten Fällen ein Fall von Judenhass, wenngleich das Feindbild der jüdischen Wucherer nun gegen den kollektiven Juden, den sogenannten „Vorposten des US-Imperialismus“ ausgetauscht wurde. Dieter Kunzelmann fand in seinen (angeblichen) Briefen aus Amman nach dem missglückten Anschlag die passenden Sätze: „Palästina ist für die BRD und Europa das, was für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das“, so Kunzelmann im November 1969 „noch nicht begriffen. Warum? Der Judenknax. (…) Dass die Politmasken vom Palästinakomitee die Bombenchance nicht genutzt haben, um eine Kampgane zu starten, zeigt nur ihr rein theoretisches Verhältnis zu politischer Arbeit und die Vorherrschaft des Judenkomplexes bei allen Fragestellungen.“
Überwunden hatte diesen „Judenknax“ Wilfried Böse, der im Sommer 1976 bei einer Flugzeugentführung jüdische und nichtjüdische Passagiere selektierte. Und Ulrike Meinhof, die zunächst flüchtige, dann eingekerkerte Ikone eines linksradikalen Terrorismus, hatte noch aus der Haft, 1972, gemeinsam mit Horst Mahler den mörderischen Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft als „mutiges Kommando gegen zionistische Soldaten, die in München als Sportler auftraten“, gefeiert. An anderer Stelle meinte Ulrike Meinhof gar, dass der Antisemitismus in Wirklichkeit nichts anderes als Antikapitalismus sei, Ausdruck der unbewussten Sehnsucht der Menschen nach dem Kommunismus. „Auschwitz“, das hieß in Meinhofs Augen, dass „sechs Millionen Juden ermordet und auf die Müllkippen Europas gekarrt wurden als das, als was man sie ausgab – als Geldjuden.“ Eine verdrehte Reprise von August Bebels Einsicht oder die Apologie eines industriellen Massenmordes?
Diese Fakten sind nicht zu bezweifeln, streitig können alleine die Verbreitung derartiger Einstellungen sowie ihre systematische Deutung sein. Repräsentieren Kraushaars Funde lediglich die bizarre Geschichte einiger randständiger Desperados, die mit ihrem Irrsinn der ganzen Linken nachhaltig schadeten? Oder hat eine Variante der Totalitarismustheorie recht, die allen revolutionären Welterlösungsideologien ein letztlich hasserfülltes, immer wieder in Mord ausbrechendes Ressentiment unterstellt?
Man kann Kraushaars Recherche entsprechend klinisch lesen: als Vorspiel zu einem Drama gleichsam, in dem sämtliche späteren Motive – wenn auch unbewusst und noch verhüllt – schon vorliegen, als Grundierung, die die Strahlkraft des Bildes noch lange bestimmen sollte: vom Termin der geplanten Bombenexplosion, dem 9.November, die ja nur wiederholt hätte, was einunddreißig Jahre zuvor massenhaft geschehen ist, über die offene Verbindung von Gewaltfantasie, geplantem bewaffneten Kampf und Judenhass zur Wahnidee, das eigene Bewusstsein sei von Juden besetzt („Judenknax“); von der Herkunft einiger Täter aus dem notorisch antisemitischen Franken bis zu Vorstufen der Planung des Anschlags auf die israelischen Olympioniken; vom Zusammenspiel des westdeutschen Verfassungsschutzes mit einer terroristischen Linken, die wiederum von der DDR unterstützt wurde. Von einem Plan des Verfassungsschutzes also, der noch 1969 den Tod von Juden in Kauf zu nehmen bereit war.
Aus der Distanz von mehr als vierzig Jahren zeichnet sich so ein den einzelnen Akteuren vermutlich unbewusster Gesamtzusammenhang ab, der das linksradikale Aufbegehren gegen die Generation nationalsozialistischer Eltern als widersprüchlichen Identifikationsprozess mit ihnen und ihrem Judenhass offenbart. Zumal Götz Aly hat diesem Umstand, sieht man einmal von der streckenweise geifernd überzogenen Polemik seines Textes ab, Rechnung getragen: Am Ende seines Pamphlets entfaltet er einen komplexen, sozialpsychologischen Zusammenhang, gemäß dessen die Eltern der „68er“, Aly bezeichnet sie als die „33er“, ihrerseits in einer Situation der Kälte und „Vaterlosigkeit“ aufgewachsen seien, die es ihnen nach der Begeisterung für den Nationalsozialismus, nach der Verstörung einer vom Krieg geprägten Adoleszenz sowie einer durch die deutsche Niederlage bewirkten Zerstörung aller Orientierungen unmöglich gemacht habe, den eigenen Kindern Vertrauen und Orientierung zu vermitteln. Somit wurden deren Kinder – die künftigen „68er“, so Aly – zu einer „emotional frierenden Generation“, die ihr Heil „in der Simplizität“ suchte: „im Ausstieg, im gewaltsamen Absprung, in der widerspruchsarmen ideologischen oder prinzipiell ‚alternativen‘ Selbstausrichtung…“
Das, was damals als „Antisemitismus“ bezeichnet wurde, wies demnach zwei Komponenten auf: eine außerordentlich schlichte Theorie des Imperialismus sowie eine vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte nur als projektiv zu bezeichnende Wahrnehmung der in vielen Fällen tatsächlich diskriminierenden israelischen Politik gegenüber den Palästinensern sowie ein in der Tat erstaunliches Desinteresse an der seit Beginn der sechziger Jahre mindestens juristisch höchst intensiv geführten Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Wenn überhaupt, so ließe sich sagen, wurde dieser Teil der Geschichte vor allem dazu verwendet, einen bitter ausgetragenen Generationenkonflikt gegen Eltern, die meist Täter oder Mitläufer waren, auszufechten. Deren Opfer interessierten dabei kaum.
Indes: Ist das ein wirklich erstaunliches Ergebnis? Was anders wäre realistischerweise zu erwarten gewesen? Hätte eine Generation, die ja wie jede andere von ihren Eltern geprägt wurde, überhaupt die Chance gehabt, anders zu agieren? Die Revolte war, lässt man sich auf eine psychoanalytische Betrachtung ein, von einer tiefen Ambivalenz getragen. Der ödipale Aufstand gegen den Vater (und in diesem Fall auch gegen die Mütter) erfolgte mit deren eigenen Mitteln: mit einem zwar oberflächlich linken, aber dennoch in vielen Fällen unerbittlichen, dichotomen Weltbild, begleitet von einem hasserfüllten Ressentiment gegen „die USA“ und „den Zionismus“ sowie einer vielfach unbedachten Identifikation mit jenen politischen Kräften, die entweder von den USA oder dem Staat Israel bekämpft und unterdrückt wurden oder gar als Hoffnungsträger für eine befreite Gesellschaft galten. Spätestens bei der identifikatorischen Stellungnahme mit solchen Staaten und Bewegungen gingen denn auch Ressentiment und erfahrungsresistente Ideologie ein unauflösliches Amalgam ein. Das war jedoch in den Zeiten des Kalten Krieges keineswegs nur eine Angelegenheit der 68er.
In den ersten Junitagen des Jahres 1967 kam es zu einem Zerwürfnis zwischen damals etwa 60 Jahre alten sozialistischen Intellektuellen über die Haltung zu Israel und dem Nahen Osten. Im Juni 1967 wechselten der jüdische Linkssozialist und Professor für Pädagogik in Frankfurt/Main, Berthold Simonsohn, und der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth Briefe, in denen Simonsohn Wolfgang Abendroth um eine Solidaritätsbekundung zugunsten des Staates Israel bat. Abendroth lehnte dies in einem Brief, der in einer neuen, aus der Feder von Wilma Grossmann stammenden Biografie von Simonsohn enthalten ist, mit folgenden Worten ab:
„Auch bei dem gegenwärtigen Präventivkrieg muss daher Israel keineswegs nur den Feudalherren der monarchischen arabischen Staaten, sondern vor allem der Bevölkerung der im Wesentlichen progressiven republikanischen Militärdiktaturen als Vortrupp amerikanischer imperialistischer Interessen erscheinen. Deshalb ist eine Identifikation des sozialistischen Internationalismus in den kapitalistischen Staaten Europas mit der gegenwärtigen Politik Israels bei aller Sympathie für die israelische Bevölkerung völlig unmöglich.“
Simonsohn antwortete enttäuscht:
„Niemand verlangt eine einseitige Identifikation des internationalen Sozialismus mit der israelischen Politik, aber ich dachte, dass eine eindeutige Stellungnahme gegen Chauvinismus und Kriegshetzerei der Araber, gegen deren bedingungslose Aufrüstung durch die Sowjetunion und für ein Programm der Verständigung mit dessen Grundsätzen durchaus vereinbar sei. Ich bin der Meinung, dass es für Sozialisten auch in der Politik einen Grundtatbestand an moralischen Prinzipien gibt, die man nicht ungestraft verletzen darf.“
Dieser Briefwechsel zeigt, dass es bei dem, was man als (in vielen, nicht allen Fällen judenfeindlichen) „Antizionismus“ bezeichnen kann, nicht nur um ein Generationenphänomen, sondern um eine weltanschauliche Differenz ging. Eine Differenz, die von einer unterschiedlichen Betrachtung der deutschen Geschichte getragen war, einer Geschichte, in der damals der Holocaust noch nicht jene Bedeutung hatte, die ihm heute aufgrund intensiver Lern- und Diskussionsprozesse zu Recht zukommt.
Viele Angehörige der Protestbewegung haben anders, nicht so „antizionistisch“ gehandelt oder lebten doch wenigstens in Umständen, die ihnen das Ausleben destruktiver Energien und die Übernahme elterlicher Delegation unmöglich machte. Darauf stolz zu sein, wäre ebenso töricht, wie sich im Rückblick von über vierzig Jahren als in jeder Hinsicht politisch zurechnungsfähige Individuen zu betrachten. Ebenso töricht wäre es freilich, die genannten judenfeindlichen Haltungen mit leichter Hand als vernachlässigbare Jugendsünde abzutun. Weise wäre es stattdessen, die eigene Bedingtheit anzuerkennen und zu realisieren, dass die von den nationalsozialistischen Eltern geprägten Jahre ebenso vergangen sind wie die Zeiten des Kalten Krieges, der dieser Form der Judenfeindschaft erst politischen und moralischen Sukkurs verliehen hat. Nicht vergangen, Gegenwart ist hingegen, dass derzeit mehr als 50 Prozent aller Deutschen glauben, dass Israel mit den Palästinensern im Prinzip dasselbe tut wie Nationalsozialisten mit den Juden.
Foto: Picture Alliance
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