Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Henning Ritter - Die Entdeckung der Grausamkeit

Henning Ritters Versuch über die Grausamkeit erschüttert unser Vertrauen in die Moral

Autoreninfo

Bisky, Jens

So erreichen Sie Jens Bisky:

Seit der Französischen Revolution ist auch die Grausamkeit nicht mehr das, was sie früher einmal war. Sie hat etwas Geschäftsmäßiges gewonnen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Zeitgenosse der großen Umwälzung, in deren Schatten auch wir noch leben, hat dies aufmerksam registriert: „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit“, schreibt er im wahrscheinlich meistzitierten Abschnitt seiner „Phänomenologie des Geistes“, sei der Tod, und zwar „der kälteste platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers“.

„Die Schreie Verwundeten“, so der Übertitel von Henning Ritters „Versuch über die Grausamkeit“, beginnt  mit einer Szene aus Stendhals Roman „Rot und Schwarz“. Darin behauptet der Graf Altamira, das neue Frankreich werde zwar von Parteigeist beherrscht, doch fehle es im neunzehnten Jahrhundert an „wirklichen Leidenschaften“: „Man begehe die schlimmsten Grausamkeiten – aber ohne Grausamkeit.“ Diese Formel wird für Henning Ritter zum Ausgangspunkt eines Streifzugs von Jules Michelet zu Darwin. In sechs knappen Kapiteln, von denen jedes zum Grundriss eines eigenen Buches taugt, behandelt er Robespierres Schreckensherrschaft, deren „Bewältigung“ in der thermidorianischen Gesellschaft, die dunklen Seiten der amerikanischen Zivilisation, also die Vernichtung der Indianer und die Sklaverei, das Schlachtfeld von Solferino und die Heraufkunft einer „humanitären Moral“ und schließlich Darwins Erschrecken über die Grausamkeit der Natur. Im Zen­t­rum steht ein Kapitel über die Moralphilosophie Arthur Schopenhauers, mit dem man Grausamkeit als einen „Exzess des Egoismus“ verstehen kann. Sie galt dem Philosophen als „antimoralische Potenz schlechthin“, daher können grausame Taten nicht verziehen werden, sie setzten voraus, dass einer völlig ohne Mitleid sei. Schopenhauer sucht eine Hyperbel, um die widerwärtige Größe des Egoismus zu bezeichnen und bietet diese an: „mancher Mensch wäre imstande, einen anderen totzuschlagen, bloß um mit diesem Fette sich die Stiefel zu schmieren.“ Er zweifelte, ob dies wirklich eine Übertreibung sei – zu Recht, wie wir wissen. Henning Ritter schätzt die Illusionslosigkeit, mit der Schopenhauer die menschliche Neigung zur Grausamkeit mit den Mitteln der Moralphilosophie bekämpfen wollte. Diese Aufgabe habe sich die Philosophie seitdem nicht mehr gestellt, sondern sie der Psychologie überlassen. Der „Versuch über die Grausamkeit“ ist auch ein Versuch, das zu ändern. Dadurch unterscheidet sich das Buch von den meisten jüngeren Studien über Gewalt. Ritter bietet weder Trost, sei es durch Einblicke in die Psychopathologie der Täter, sei es durch die Beschwörung des moralischen Fortschritts. Vor allem befriedigt er die voyeuristische Lust an Schilderungen grausamer Taten nicht. Jede Zeitungsseite „Vermischtes“ enthält mehr anziehend-abstoßende Details als sein Buch. Diese Zurückhaltung ist Programm, mit Stendhal teilt Henning Ritter die Skepsis gegenüber Bildern im Dienst moralischer Mobilmachung.

Henning Ritter: Die Schreie der Verwundeten (C.H. Beck)Welche Rolle spielt Grausamkeit für das Selbstbild westlicher Gesellschaften? Das ist, obwohl nirgends explizit formuliert, die entscheidende Frage des Buches. Henning Ritter setzt damit seine Untersuchungen zur moralischen Ökonomie der Moderne fort. Sein Essay ist ein Seitenstück zum „Versuch über das Mitleid“ aus dem Jahr 2004. Wie dort und in seinen enthusiastisch gelobten „Notizheften“, folgt er einem eigenen Weg des Nachdenkens durch genaue Lektüre, er vertraut sich dem Historiker Jules Michelet, dem großen Liberalen Benjamin Constant, dem aristokratischen Demokratie-Kenner Alexis de Tocqueville und einigen mehr an. In knappen Paraphrasen vergegenwärtigt er das Drama des Denkens, angetrieben von tatsächlichen Problemen, nicht von Forschungsdesideraten, und vollzogen immer im Streit, im Konflikt. Das ist der üblichen akademischen Ideengeschichte weit überlegen. Der Leser wird nicht belehrt, sondern in ein Gespräch verwickelt, dessen Ausgang offen bleibt. Einzelne Sätze prägen sich ein, wecken die Lust nachzufragen, zu widersprechen, weiterzugehen. Zum Beispiel Tocquevilles Beobachtung, dass die Legalität in den Vereinigten Staaten überhaupt erst als Mittel der Eroberung gegen die Wilden eingesetzt worden sei. Sie verunsichert jedes triumphale Gefühl angesichts der zivilisierten Moral des Westens: „Man könnte die Menschen nicht mit mehr Ehrfurcht vor den Gesetzen der Menschlichkeit vernichten.“

Wer glatten Lösungen misstraut, gern mit Denkern der Vergangenheit umgeht, als wären sie Zeitgenossen, wer eine Prosa ohne Fett schätzt, der wird Henning Ritters „Versuch über die Grausamkeit“ immer wieder zur Hand nehmen. Je mehr der „Westen“ ideologisch zum Agenten moralischen Fortschritts erhoben wird, desto nützlicher sind solche skeptischen Reflexionen.

Henning Ritter: Die Schreie der Verwundeten. C.H. Beck, München 2013. 189 S., 19,95 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.