- Was dürfen Medien?
Darf man den Co-Piloten der Germanwings-Maschine im Bild zeigen? Soll man seinen Nachnamen nennen? Seit dem Unglück der 4U-9525 sind die Medien wie selten zuvor einer heftigen Echtzeit-Kritik ausgesetzt
Andreas L. sitzt auf einer Steinmauer, die Beine angewinkelt. Im Hintergrund erhebt sich die Golden Gate Bridge in San Francisco. Das Foto, das aus dem sozialen Netzwerk Facebook stammt, findet sich am Freitag prominent in der New York Times. Das US-Blatt hatte offenbar keine Skrupel, das Privatfoto und den vollen Namen des unter Suizid- und Mordverdacht stehenden Co-Piloten der verunglückten Germanwings-Maschine zu veröffentlichen. Auch fast alle großen Qualitätszeitungen in Europa zeigten sein Foto nebst Vor- und Nachnamen.
Wie anders da in Deutschland: Die Magazine Focus, Spiegel und Stern – letzteres brachte wegen des Flugzeugunglücks kurzerhand eine Neuauflage auf den Markt – verzichten in ihren aktuellen Ausgaben alle auf ein Titelbild des Piloten. Spiegel Online erklärte am Freitag sogar, dass die Redaktion weder Bilder noch den vollen Namen von Andreas L. nennen würde. Am Abend änderte das Internetportal seine Strategie und nennt den mutmaßlichen Täter nun bei vollem Namen. Die Welt bleibt bei einer Abkürzung; dort wird der Co-Pilot auch nur verpixelt gezeigt. Chefredakteur Jan-Eric Peters verteidigte seine Entscheidung, die „vielleicht ein bisschen altmodisch erscheint“, in einem internen Brief.
Aber auch in Deutschland gibt es andere Ansätze. Das rote Schwesterblatt im Hause Springer, die Bild-Zeitung, hob am Freitag selbstverständlich Andreas L. samt seiner Fotos auf den Titel. Auch Faz.net macht es wie die ausländischen Kollegen. Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron begründete online, warum seine Redaktion offen mit den Daten des Tatverdächtigen umgeht: Er sei nun eine Person der Zeitgeschichte. Um mehr von seiner Psyche zu erfahren, müssen wir „uns mit ihm beschäftigen, wir müssen ihn ansehen, wir dürfen ihn sehen“. Blumencron verweist dabei auch auf ausländische Medien.
„Wenn irgendjemand für Öffentlichkeit kämpfen sollte, dann Journalisten“
Der Journalistikprofessor Horst Pöttker sagt: „Amerikaner und Franzosen haben andere Traditionen, was Öffentlichkeit angeht.“ Seit es Journalismus gibt, sei es in den USA üblich, Tatverdächtige mit vollen Namen zu nennen – auch deren Adressen, Schulen oder Arbeitsorte. Und in Frankreich gab der Marseiller Staatsanwalt während der Pressekonferenz selbst den vollen Namen des Co-Piloten bekannt. „Das heißt aber nicht, dass Amerikaner und Franzosen unethischer sind. Sie bewerten das nur anders”, sagt Pöttker, der im Fall des Germanwings-Co-Piloten trotzdem für Anonymität plädiert, um die Angehörigen zu schützen.
Dieses Prinzip ist in Deutschland im Pressekodex verankert. Der atmet laut Pöttker noch die Logik der 50er Jahre: In einer Zeit, in der Konrad Adenauer sich einen Sender schaffen wollte, kamen die Medien mit dem Pressekodex staatlicher Kontrolle zuvor - und legten sich selbst Schranken auf.
Dass Namen von Tatverdächtigen hierzulande im Zweifelsfall nicht veröffentlicht werden, findet US-Journalismusforscher Jeff Jarvis „besorgniserregend“. Er argumentiert auf Cicero-Nachfrage für eine grundsätzliche „Offenheit”. Indem man die Namen von Inhaftierten veröffentliche, könne man sie vor staatlichem Missbrauch schützen. In den USA werden Namen von Gefangenen – mit Ausnahme etwa von Minderjährigen – generell veröffentlicht. Jarvis argumentiert aus einer liberalen, staatsskeptischen Haltung: Gerade Deutschland müsse kritisch gegenüber staatlichem Handeln sein, gerade wenn es um die Verhaftung von seinen Staatsbürgern ginge. Eine grundsätzliche Offenheit verhindere, dass eine Regierung seine Bürger einfach „verschwinden” ließe. „Wenn irgendjemand für Öffentlichkeit kämpfen sollte, dann Journalisten.“
Kai Diekmanns Privatkrieg
Warum aber wird die Debatte über die Grenzen der Berichterstattung von Medien so erhitzt geführt? Als 2002 der 19-jährige Robert Steinhäuser an einer Erfurter Schule Amok lief und 16 Menschen mit in den Tod riss, druckten die Zeitungen seinen Namen und sein Bild, ohne große Diskussion. Diese Selbstverständlichkeit ist vorbei. Das hat zwei Gründe.
Erstens: Die Medienkritik hat sich aus dem Schattendasein befreit.
Früher fand man sie auf den Medienseiten der Qualitätszeitungen und in kommunikationswissenschaftlichen Seminaren. Heute findet man sie in den großen Newsportalen, die sich selbst erklären, in einflussreichen Blogs, den sozialen Netzwerken, vor allem: in Echtzeit.
Dass Journalisten andere Journalisten kritisieren, ist nicht neu. Die Schnelligkeit, in der sie es heute tun, ist allerdings atemberaubend. So liefert sich Bild-Chefredakteur Kai Diekmann seit dem Absturz der Germanwings-Maschine am Dienstag einen Privatkrieg nach dem anderen mit Kollegen, die die Berichterstattung der Bild-Zeitung kritisieren. Er griff taz-Chefredakteurin Ines Pohl an, beschwerte sich über die Kritik des Bildblogs, verwies auf die Praxis ausländischer Medien, zitierte den Presserat und lieferte sich eine Privatfehde mit seinem Ex-Kollegen Torsten Beeck. Das alles kann man lächerlich finden oder testosterongesteuert, aber: immerhin stellt sich der Chefredakteur der größten deutschen Boulevardzeitung der Kritik an den journalistischen Methoden seiner Zeitung. Und immerhin gibt es mit Twitter die Möglichkeit, sich direkt bei Bild zu beschweren.
Kritik in Echtzeit bedeutet, dass jahrzehntelang eingeübte Rituale durchbrochen werden können. Dass man sich in Redaktionen immer schlechter darauf berufen kann, dass man das schließlich schon immer so gemacht habe.
Zweitens: Medienkritik ist keine Domäne der Journalisten mehr.
Es gibt mittlerweile eine selbstbewusste und emanzipierte Öffentlichkeit, die immer mehr gehört wird. Dafür gibt es unzählige Beispiele: Die Twitter-Kampagne #aufschrei, unter der Frauen Zeugnisse von Alltagssexismus ablegten und die mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Die Online-Petition „Raus mit Markus Lanz aus meinem Rundfunkbeitrag“, die über 200.000 mal unterzeichnet wurde.
Kritik am „Witwenschütteln“
Und die Kritik an der deutschen Berichterstattung über den Russland-Ukraine-Konflikt. Die Ukraine-Krise war eine Epochenschwelle, wenn auch nur in symptomatischer Hinsicht. Gerade in Deutschland waren Redaktionen mit massiven Vorwürfen ihrer Leserschaft konfrontiert, die ARD wurde von ihrem Programmbeirat gerügt. Natürlich gab es unter den Kritikern auch Verschwörungstheoretiker, die mit Verdrehungen, Unterstellungen und Behauptungen arbeiteten – aber eines hat die Ukrainekrise bewirkt: Die Gegenöffentlichkeit hat sich ihrer Macht versichert. Und deutsche Medien haben sich ihrem Publikum gegenüber sensibilisiert.
Die Kritik der vergangenen Tage an den Medien in den sozialen Netzwerken hat sicherlich vielen Journalisten zu denken gegeben. Zu den meistgeteilten Inhalten bei Twitter gehört ein Stück der Journalistin Sandra Schink. Sie erzählt, wie sie selbst als Kind mit ihrer Mutter Opfer des „Witwenschüttelns“ wurde. Ein Lokalreporter fiel mit seiner Kamera in der Wohnung ein, als Schink und ihre Mutter gerade vom Tod einer befreundeten Familie erfuhren, und machte Fotos vom Familienalbum. Viel geklickt wurde auch ein Aufruf der Facebook-Gruppe „We love Haltern am See“ an die Medien. In der westfälischen Kleinstadt, aus dem die bei der Germanwings-Katastrophe verunglückte Schülergruppe kam, boten offenbar Journalisten Kindern Geld für Interviews. Die Facebook-Gruppe rief dazu auf, Journalisten in ihre Schranken zu weisen.
Dass Journalisten dazu gezwungen werden, ihre Arbeit stärker zu reflektieren als früher, hat Vorteile. Aber die öffentliche Empörung kann übers Ziel hinausschießen. Journalistikprofessor Pöttker sieht vor allem Shitstorms als Bedrohung von professionellem Journalismus. Das trifft auch auf diese Debatte zu: Zum Beispiel, wenn dem Hessischen Rundfunk vorgeworfen wird, nach dem Germanwings-Unglück den Börsenkurs der Lufthansa verkündet zu haben. Die Folge war ein Shitstorm bei Twitter und eine Mahnung beim medienkritischen Bildblog. Eine überzogene Kritik – denn natürlich müssen Journalisten auch über wirtschaftliche Folgen berichten.
Die Zeit, in der Journalisten als alleinige Schleusenwärter entscheiden konnten, welche Informationen es wert waren, veröffentlicht zu werden, sind vorbei. Dass alte Gewissheiten hinterfragt werden und die Debatte in Deutschland lebhaft geführt wird, ist ein Gewinn. Das heißt nicht, dass sich Medienmacher in Zukunft für alles rechtfertigen müssen.
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