- Eine Heuschrecke gibt Nachhilfe
Ein vierminütiges Homemade-Video, in dem eine Stimme aus dem Off mathematische Grundregeln erklärt, machte ihn zum Internetstar. Und plötzlich lieben alle Salman Khan, den Hedgefonds-Analysten.
Als Salman Khan am 16. November 2006 ein Video ins Netz lädt, weiß er noch nicht, dass dies der Beginn von etwas Großem ist. Er ahnt nichts von den Millionen von Google, den Fans auf der ganzen Welt und seinem Gesicht auf dem Titel des Forbes-Magazins. Der aufstrebende Hedgefonds-Analyst ist gerade 30 geworden, er hat ein Faible für Mathematik – und Cousinen und Cousins, die genau damit Probleme haben.
„Mir hat es immer Spaß gemacht, zu unterrichten“, sagt Khan. Darum gibt er erst einer Cousine Nachhilfe, dann ihren Brüdern und schließlich entfernten Verwandten, die meisten Hunderte Kilometer entfernt. Jeden Abend nach der Arbeit klemmt Khan sich ans Telefon, um Brüche, Additionen oder Gleichungen zu erklären.
Doch am 16. November nimmt er den Hörer nicht in die Hand. Ein Freund hat ihm vom Videoportal Youtube erzählt, und so schaltet Khan den Computer an und filmt den Monitor ab. Es ist sein erstes Video, und es steht immer noch im Netz: Vier Minuten lang krakelt ein Mauszeiger bunte Zahlen auf schwarzen Hintergrund. Dazu hört man Khans Stimme, die geduldig erklärt, wie man das kleinste gemeinsame Vielfache von zwei Zahlen berechnet.
Bis heute hat Khan mehr als 3000 solcher Videos gemacht. Nicht nur für Mathematik, auch über Chemie, Biologie, Geschichte oder Wirtschaft. Das Konzept ist immer gleich: schwarzer Hintergrund, Mauszeiger, Khans Stimme. Keine Effekte, keine Animationen, und nie sieht man Khans Gesicht. Jede Telekolleg-Folge ist aufwendiger – und dennoch: Die Videos haben Khan zum Star gemacht.
Mehr als 200 Millionen Mal wurden sie in den vergangenen zwei Jahren angeklickt, bei Youtube oder der Khan Academy, Khans Lernportal im Internet. Sechs Millionen Menschen besuchen es jeden Monat, Khan hat Fans auf der ganzen Welt, darunter auch Bill Gates. Der sagt: „Die Khan Academy ist der Beginn einer Revolution.“
So würde es Khan selbst nicht bezeichnen. Er spricht lieber über seine Idee: „Wir wollen Bildung für die ganze Welt und das kostenlos.“ Khan will Kindern aus Entwicklungsländern das geben, was sie bisher nicht hatten: eine Chance auf Bildung. Und dort, wo es schon Schulen gibt, will er den Schülern das zurückgeben, was er sich selbst erkämpfen musste: ein eigenes Lerntempo.
Seite 2: Khan als Vorkämpfer der Bildungs-Individualisten
Khan ist ein schlaksiger Mann mit tiefschwarzen Haaren. Seine Eltern sind aus Indien und Bangladesch in die USA eingewandert. 1976 kommt Khan auf die Welt, kurz darauf verlässt der Vater die Familie. Khan wächst bei seiner Mutter in New Orleans auf, Geld ist knapp, doch Bildung wichtig. Er ist gut in Mathe, aber in der Schule hat er Probleme. „Im Unterricht mussten wir alle im gleichen Tempo lernen – ich habe mich oft gelangweilt.“ Der Junge ist seinen Klassenkameraden weit voraus, doch die Schulleitung lässt ihn keine höheren Kurse belegen. Entnervt besorgt er sich Lehrbücher und lernt auf eigene Faust.
Nach der Highschool schafft Khan es auf das renommierte Massachusetts Institute of Technology – und trifft auf das gleiche Problem: Massenvorlesungen mit Hunderten Studenten. Ein eigenes Lerntempo? Nicht vorgesehen. Er besorgt sich wieder Lehrbücher und schwänzt die Vorlesungen, am Ende seines Studiums hat er mehrere Titel: in Elektrotechnik, Computerwissenschaften und Wirtschaft. Von der Migrantenfamilie aus New Orleans hat er sich nach oben gearbeitet: Mit Fleiß, Ehrgeiz – und seinem eigenen Tempo.
„Wahrscheinlich“, sagt er, „wäre nichts passiert, wenn Nadia nicht Probleme in Mathe gehabt hätte.“ Khan weiß, dass seine Cousine eine gute Schülerin ist – und dass alles, was sie braucht, ihr eigenes Tempo ist. Nadia wird Khans erste Schülerin; weitere Verwandte folgen. „Meine Schüler mochten die Videos“, sagt Khan, „ich hab sogar Witze gemacht, dass sie mich auf Youtube lieber mögen als im echten Leben.“ Anders als die telefonischen Nachhilfestunden sind die Videos jederzeit verfügbar. Man kann sie vorspulen, wenn man sich langweilt, oder zurückspulen, wenn man etwas nicht verstanden hat.
Bald hinterlassen auch Fremde Kommentare bei Youtube. „Da stand: ,Das hat mir wirklich geholfen! Ich hab eine Prüfung geschafft!‘“, sagt Khan. Angespornt vom Erfolg macht er weiter. Jeden Tag nach der Arbeit dreht er so viele Videos wie möglich. 2009 beschließt er, seinen Job aufzugeben. Gerade ist sein Sohn geboren worden. „Aber ich habe meiner Familie erklärt, dass das vielleicht die einmalige Chance ist, etwas zu tun, das wirklich zählt.“
Ein Jahr gibt Khan sich, um Fördermittel zu organisieren. Die ersten Monate sind hart, Kahn will sich schon wieder einen Job suchen, da bekommt er 2010 die erste Spende: 10 000 Dollar. Von da an geht alles rasend schnell, Google gibt zwei Millionen Dollar, die Gates Foundation 5,5 Millionen. Bald ist Khan berühmt, er wird in Talkshows eingeladen, und sein Foto landet auf dem Forbes-Magazin.
Heute hat die Khan Academy über 30 Mitarbeiter, mit den Spenden will sie ihr Angebot ausbauen. „In fünf Jahren“, sagt Khan, „sollen Schulen unsere Videos in ihren Lehrplan eingebaut haben.“ Die Schüler sollen von ihm lernen – in ihrem eigenen Tempo. Die Lehrer hätten so mehr Zeit für persönliche Betreuung. „Wir wollen Lehrer befreien“, sagt Kahn, „nicht ersetzen.“ Irgendwann einmal, hofft er, wird sein System Klassen unnötig machen, genau wie Noten und Sommerferien. Klingt unrealistisch? Mag sein. Aber 2006 hätte auch niemand damit gerechnet, dass ein Hedgefonds-Analyst antritt, um das Schulsystem zu revolutionieren. Am wenigsten wahrscheinlich Salman Khan selbst.
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