- Zeichen und Wunden
In Schkeuditz haben engagierte Künstler und Studenten ein Festival für Street-Art auf die Beine gestellt. „RoomBoom“, so der Titel, haucht einer alten Industriebrache neues Leben ein
Die Straße ist flüchtig. Nichts, was auf ihr geschieht, ist von Dauer; niemand verweilt hier für Ewigkeiten. Und so wie sie selbst, ist ihre Kunst: vorübergehend, ein Stück weit vergänglich. Als in den 90er-Jahren die Graffitis an den Vorstadtfassaden immer öfter Platz für großformatige Wandmalereien und das schmuddelige Wort tag dem gewählteren Begriff Street-Art Platz machen musste, da schien aus den Brachen der Städte eine neue, eine melancholische Kunst zu erwachsen. Denn wie stets auf der Straße überlebte sie selten einmal zwei, drei volle Jahreszyklen. Heute gemalt, morgen verschwunden. Geboren im Windschatten temporärer Strömungen wie Fluxus oder Happening, schoss die Straßenkunst harsche Breitseiten gegen einen konservativen Werkbegriff. Weit vor Superstars wie Jean-Michel Basquiat oder Banksy war sie ihrem ganzen Wesen nach nicht kommerziell. Es gab nichts zu verkaufen und nichts zu verdienen. Verfall war ihr auf Leib und Fassade geschrieben.
Da ist es eigentlich verständlich, dass auch die sechs jungen Menschen, die sich an einem tristen Frühlingsmorgen des Jahres 2020 vor einem grauen Eisengusstor irgendwo in der nordwestsächsischen Kreisstadt Schkeuditz eingefunden haben, merkwürdig melancholisch dreinschauen. Wetterfest eingepackt in windabweisende Jacken umweht sie ein Hauch von kargem Beton-Blues. Denn was sie einst hier geschaffen haben, ist nicht mehr da; und worauf sie Mühe und Arbeit verwandten, blättert nach und nach von der Fassade herunter. „Unsere Arbeit war von Anfang an befristet“, erklärt Francisco Föse, ein hochgewachsener Architekt und urban artist aus Leipzig, die leicht gedrückte Stimmung der Gruppe. Mit einem Ruck stößt er das graue Eingangstor auf, hinter dem eine weitläufige Industriebrache liegt. Oben im Portal der Tordurchfahrt flattern Fetzen eines rot-weißen Absperrbandes im Wind; letzter Gruß einer Kunstinstallation, die das Berliner Designkollektiv NAICE architecture hier zurückgelassen hat. „Wären all die aufwendig gestalteten Kunstwerke hier tatsächlich nur ein einziges Mal zu sehen gewesen“, sagt Föse, der die Wortführerschaft über die kleine Gruppe übernimmt, „dann wäre eine Wiederbegegnung mit diesem Ort tatsächlich eine traurige Sache.“
Die „Lost Places“ wachküssen
Dieser Ort, von dem Föse da redet, bezeichnet das alte ZAW-Gelände im Norden von Schkeuditz. 1938 erbaut, bot es über viele Jahrzehnte unterschiedlichsten Unternehmen Obdach. Zunächst war in den grau-beige verputzten Gemäuern, aus dessen Rissen längst grüne Wildpflanzen wuchern, ein Anlagen- und Maschinenbauer untergebracht, später ein Aus- und Weiterbildungszentrum der Industrie- und Handelskammer. In verschiedensten Sparten wurde man von hier auf die Zukunft eingeschworen: Elektriker, Schweißer, sogar Kosmetikerinnen haben in dem Gebäude gelernt. 2014 aber war Schluss. Seither steht das Haus leer: 1500 Quadratmeter Brache; Zeuge eines untergegangenen Industriezeitalters, das besonders im Speckgürtel zwischen Halle und Leipzig Wunden und Narben hinterlassen hat. „Ich habe mich in meinem Studium intensiv mit Leerständen wie diesem beschäftigt“, sagt Föse. Gerade in schrumpfenden Mittelstädten gebe es Unmengen davon; Orte, die man neudeutsch „Lost Places“ nennt.
Irgendwann hat sich Föse gefragt, wie man diese aus ihrem Dornröschenschlaf wachküssen könne. Nach vielen Überlegungen kam ihm die Antwort: „RoomBoom!“ Ein Festival für Street-Art, Design, Performance, Graffiti, Writings und alles, was sonst noch temporär und vergänglich ist. Keine Wunder, aber Zeichen. Im September 2019 schließlich war es so weit: Drei Tage randvoll gepackt mit Kunst, Musik und kreativer Vernetzung gingen über die Bühne. „Das Gelände hier ist optimal für unser neues Gesamtkunstwerk gewesen“, schwärmt Franziska Rattay, studierte Puppenspielerin und einzige Frau bei „RoomBoom“ noch heute. „Die alte Industrieanlage liegt direkt zwischen den Kunstszenen zweier Landesmetropolen. Wir konnten von daher Studierende der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst sowie der Burg Giebichenstein für die Idee erwärmen.“
Echte Szenegrößen machen mit
Beste Voraussetzungen also für Festivalmacher, die weder über Finanzpolster noch über Erfahrung oder Material verfügten. Mit mehr als 100 Künstlern ging sie dennoch über die Bühne, die „Kreativexplosion, deren Nachbeben man noch weit über die sächsischen Landesgrenzen hinaus wahrnehmen dürfte“. Dass diese im September 2019 via Internet verbreitete Selbstauskunft keine prahlerische Hybris, sondern sichtbare Realität war, das beweist noch immer der Blick auf die lange Teilnehmerliste des Festivals: Sie reicht von unbekannten Sprayern aus der Region bis hin zu echten Szenegrößen. „Am Anfang haben wir einen open call gestartet“, erklärt Initiator Föse. Künstler, die man darüber hinaus mit im Boot haben wollte, habe man direkt angeschrieben. Zuweilen habe man sich verwundert die Augen gerieben, wenn dann der ein oder andere tatsächlich zugesagt habe: Der Hamburger Sprayer Flying Förtress zum Beispiel – mit seinen bunten „Teddy Troops“ hat dieser vor Jahren characters kreiert, die man noch heute weit über die Hansestadt hinaus kennt. Oder das Berliner Kollektiv Klub7, deren Bild eine riesige Außenfassade des ZAW-Gebäudes schmückt.
Franziska Rattay öffnet die schwere Feuerschutztür. Dahinter geht es in den hohl nachhallenden Bauch der Anlage. Er wirkt leer geräumt wie eine fluchtartig verlassene Wohnung. Ab und an liegen Trinkbecher auf dem Estrich, hier und da stolpert man über Utensilien für eine Installation. Sonst aber: gähnende Leere. Wo im letzten Sommer ein Tumult aus Künstlern, Musikern und Besuchern geherrscht haben muss, da hat sich jetzt eine Staub- und Schmutzschicht niedergelassen. Treppauf, treppab geht es durch verwinkelte Räume; vorbei an Restspuren von Wandgemälden und Schablonenbildern. Da ist das in geometrischen Strukturen verlaufende Klebebandbild eines Tape-ArtKünstlers namens Dinopium oder ein fragmentiertes Pop-Art-Mural des prominenten Landshuter Künstlers Martin Gerstenberger, da sind die hastig zurückgelassenen Ventilatoren aus einer Installation namens „5 cool Kids“. Sonst aber ist in der provisorischen Ausstellungshalle nichts mehr. Formen, Farben – aber kein Betrachter. Im kommenden Jahr, sagt Francisco Föse, werde sich das sicherlich ändern. Dann starte die nächste Ausgabe der Raumexplosion „RoomBoom“.
So zumindest haben es sich die sechs Freunde vorgenommen. Francisco Föse lässt die schwere Feuertür erneut ins Schloss fallen. Ein Knall – dann herrscht Stille über der weitläufigen Industrievernarbung. Totenstille. Noch ein Jahr bis zur Auferstehung.
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Mensch & Maschine“ von Cicero und Monopol
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