- Krieg der Kerne
Richard von Schirach erzählt, wie deutsche Physiker bis 1945 an der atomaren Kettenreaktion tüftelten – und wie sie die Bombe auf Hiroshima erlebten
Auf der Postkarte stand der Bestimmungsort Hechingen, und damit war klar, wo die deutsche Physikerelite mit Uran experimentierte: auf der Schwäbischen Alb, weit weg vom kriegsgefährdeten Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin. Der freundliche junge Mann aber, der den Starphysiker Heisenberg 1944 nach einem Vortrag noch zur Post begleitete, war gar kein aufstrebender Wissenschaftler, sondern ein amerikanischer Agent. Zusammen mit der eigens gegründeten Alsos-Gruppe verfolgte der US-Geheimdienst jede Bewegung der deutschen Kernphysik, die als „Uranverein” bekannt war und die Atombombe entwickeln sollte. Die Amerikaner waren mit ihrem Manhattan Project, dem atomaren Militärprogramm, aber schon unendlich viel weiter – so uneinholbar, dass sich die zehn deutschen Spitzenforscher nach der Vernichtung Hiroshimas resigniert als „zweitklassig” geißelten. Seit Kriegsende waren sie auf dem englischen Landsitz Farm Hall interniert, wo die Alliierten mittels Komplettverwanzung die gescheiterten deutschen Forscher belauschten.
Die Geschichte der Kernspaltung ist die vielleicht atemberaubendste des 20. Jahrhunderts, denn sie revolutioniert nicht nur die physikalischen und philosophischen Weltbilder der Moderne, wie Richard von Schirach in „Die Nacht der Physiker” erzählt. Die Kernspaltung führt innerhalb weniger Jahre von abstraktester Theorie zu furchtbarster Vernichtung; von der Entdeckung des Neutrons über Lise Meitners und Otto Hahns Überlegungen, ob das „Zerplatzen” eines Atomkerns doch möglich sei, bis zu den fieberhaften Experimenten zur Gewinnung und Spaltung des Uranisotops 235 – und zur ersten Atombombe von Hiroshima. Seit die Kerne spaltbar geworden sind, hält die Welt nichts mehr im Innersten zusammen, denn das Vernichtungspotential ist ins Unermessliche gestiegen. Nicht nur angesichts iranischer Atomdrohgebärden werden solche Fragen, über zwei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges, wieder unheimlich und aktuell.
Dass sich die ethischen Grundfragen an die naturwissenschaftliche Forschung seit der Entdeckung der Kernspaltung im Jahr 1938 vollkommen neu stellen, wird allen Beteiligten spät bewusst – oder vielmehr, sie werden vorerst nicht formuliert. Wie auch bei den völkerrechtlich geächteten Giftgasen des Ersten Weltkriegs galt lange: Das Machbare wird gemacht, weil es hilft, einen grausamen Krieg abzukürzen. So schrieb Lise Meitner ihrem Kollegen Otto Hahn, der das Chlorgas als chemischen Kampfstoff mitentwickelt hatte, nach der Zweiten Flandernschlacht von 1915: „Ich beglückwünsche Sie zu dem schönen Erfolg bei Ypern”.
Einen Krieg weiter, 1939, wissen etwa hundert Physiker auf der Welt: Wenn eine atomare Kettenreaktion möglich ist, kann man eine „Uranmaschine” konstruieren – und „wenn Atombomben möglich sind, wird es jemanden geben, der sie macht.” So resümiert Carl Friedrich von Weizsäcker, Bruder des späteren Bundespräsidenten und Sohn des NS-Diplomaten Ernst von Weizsäcker, rückblickend seine Beratungen mit dem Philosophen Georg Picht. 1939, als 27jähriger, zählte er seit Jahren zur Elite der deutschen Atomphysik. Richard von Schirachs erzählerisch weit ausholende und dabei angenehm nüchterne Geschichte der deutschen Kernphysik erwirbt sich das große Verdienst, auch für Nichtphysiker verständlich zu sein: Sie veranschaulicht, wie in den Dreißigern die Entdeckung des Neutron die bis dato unumstößliche Vorstellung eines nicht teilbaren Atomkerns revidiert – und wie die gigantischen Energiemengen der atomaren Kettenreaktion sowohl eine „Uranmaschine” (später Atomreaktor genannt) als auch eine Bombe denkbar machen. Das den Kern spaltende Neutron muss entschleunigt werden, wobei man zwei Bremssubstanzen in Betracht zieht: Schweres Wasser oder Graphit. Die Deutschen verlegen sich auf das Schwere Wasser – eine Fehlentscheidung, die den Amerikanern mit ihren graphitmoderierten Reaktoren den entscheidenden Vorsprung sichert.
Nächste Seite: 6. August 1945: Die Amerikaner „konnten es besser”
„Die Nacht der Physiker” heißt der Band, weil dramaturgisch alles auf eine bestimme Nacht hinausläuft: Am Abend des 6. August 1945 wurde in Farm Hall zunächst vom beaufsichtigenden Major Rittner, dann von den 18-Uhr-Nachrichten der BBC der Abwurf einer Atombombe über Hiroshima vermeldet. Die versammelten Physiker waren zunächst fassungslos, danach liefen die Abhörmikrofone heiß, die in allen Zimmern ganz simpel auf der Rückseite der Bilderrahmen angebracht waren. Bis in die Nacht besprach die Gruppe die grundstürzende Tatsache, dass „die Amerikaner es besser konnten” – was zu Nervenzusammenbrüchen, enttäuschter Selbstkritik oder zynischen Kommentaren führte. Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker, Otto Hahn, Paul Harteck, Walther Gerlach, Erich Bagge, Kurt Diebner und die anderen waren sich uneinig in ihrer Interpretation der Lage – aber aus ihren Debatten spricht das Entsetzen darüber, wie viel erfolgreicher die wissenschaftliche Konkurrenz gearbeitet hatte.
Das Abhörteam der „Operation Epsilon” – sechs stets unsichtbare Engländer mit deutscher Muttersprache belauschten die Atomphysiker Tag und Nacht – konzentrierte sich dabei auf politische Anmerkungen wie auch auf den technischen Stand der Gefangenen: Schließlich wollte man nicht nur wissen, wie weit die deutschen Wissenschaftler gekommen waren, sondern man wollte auch verhindern, dass die deutsche Forscher-Intelligenz den Russen in die Hände fiel. Die Tonaufzeichnungen wurden abgetippt, übersetzt und zur Auswertung an höhere Stellen weitergeleitet.
Die Protokolle der „Operation Epsilon” wurden erst 1993 in England veröffentlicht und erschienen im selben Jahr auch in einer deutschen Rückübersetzung. Historiker wie Michael Schaaf („Heisenberg, Hitler und die Bombe”), Konrad Lindner („Carl Friedrich von Weizsäckers Wanderung ins Atomzeitalter”) und Rainer Karlsch („Hitlers Bombe”) gingen den Verstrickungen der deutschen Kernphysik nach und bezogen sich teilweise auch auf die Protokolle aus Farm Hall. Richard von Schirach, der im Jahr 2005 ein Buch über seinen Vater Baldur veröffentlichte, birgt nun das fast schon Krimi-taugliche Potenzial dieses Stoffs; man ist versucht, seine Darstellung packend zu nennen, auch wenn das angesichts des Naziregimes, dem die Forscher gedient hatten, wohl doch die falsche Vokabel wäre.
Vor allem aber wird in den zurückhaltenden Kommentaren und Ausführungen Schirachs klar, wie sehr die Gefangenen unmittelbar nach Hiroshima eine Umdeutung ihrer eigenen Forschertätigkeiten in Gang setzten. Vielleicht hatte man weder eine funktionierende Uranmaschine, geschweige denn eine Bombe zustande gebracht, weil man sie diesem Regime nicht an die Hand geben wollte? Dagegen spricht unter anderem, dass noch 1945 fieberhaft mit einem geheimen Reaktor experimentiert wurde, der im Bierkeller des Haigerlocher Schwanenwirts installiert wurde; Forscherpech war, dass der Nachschub an Schwerem Wasser aus Norwegen kriegsbedingt ausblieb.
Richard von Schirachs aufschlussreiche Darstellung legt viel eher nahe, dass eine Gemengelage aus entfesseltem Ehrgeiz, dem Glauben an den überragenden deutschen Geist und einer ordentlichen Dosis Größenwahn sich wie eine dunkle Wolke vor die Verantwortungsfrage schob (vielleicht könnte man sogar von einer langen Umnachtung der Physiker sprechen). Er habe geglaubt, mit den Plänen einer Atombombe könne er „Hitler rumkriegen, eine vernünftige Politik zu machen”, bekennt Weizsäcker in einem Gespräch von 1993. Zu Silvester 1945 in Farm Hall hatte der dichterisch begabte Physiker einen Limerick verfasst, der bei aller Ironie die Erfolgsgetriebenheit aufs Schönste zusammenfasst: „Und fragt man Wozu / Denn das ganze Getu’? / S’ist nur wegen unsrer Karrieren.”
Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker. Berenberg, Berlin 2012. 272 S., 25 €
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.