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Historiker Ian Morris - „Krieg hat die Welt sicherer gemacht“

Krieg ist sinnlos. Falsch, sagt Stanford-Historiker Ian Morris. Krieg habe es der Menschheit erst ermöglicht, friedliche Gesellschaftsordnungen zu errichten

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Cicero: Herr Morris, Sie zitieren gleich zu Beginn Ihres Buches „Krieg: Wozu er gut ist“ aus einem sehr bekannten Anti-Kriegssong: „War! What is it good for? Absolutely nothing!" Stimmt nicht, sagen Sie. Kriege hätten die Welt sicherer gemacht. Das müssen Sie uns erklären.
[[{"fid":"58883","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":904,"width":560,"style":"width: 110px; height: 178px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Ian Morris: Nicht alles, was in diesem Song gesagt wird, ist falsch. In seinem zeitlichen Entstehungskontext der 70er Jahre, zu Zeiten des Vietnamkrieges, macht der Song sogar absolut Sinn. Heute aber, rückblickend, sind wir fähig, die Geschichte und die dazugehörigen Kriege aus einer zeitlich viel größeren Perspektive zu betrachten. Meine Forschungen zeigen, dass Kriege auf lange Sicht die Welt reicher und sicherer gemacht haben. Ich war selbst sehr überrascht von dem, was ich bei meinen Nachforschungen herausfand. Hätten Sie mir vor zehn Jahren gesagt, dass ich dieses Buch schreiben werde, hätte ich Ihnen nicht geglaubt.

Sie behaupten, dass Kriege durch die Schaffung größerer Gesellschaften, stärkerer Staaten und größerer Sicherheit die Welt bereichert hat?
Ja. Es klingt paradox, aber Kriege haben die Welt letztlich sicherer gemacht. Das liegt daran, dass die Sieger von Kriegen begannen, die Besiegten einzuverleiben. Es entstanden immer größere Gesellschaften, die nur funktionieren konnten, wenn sie nach innen stabil waren. Also mussten sie für die Unterdrückung der Gewalt innerhalb der Gesellschaft sorgen. Große Staatsgebilde machen sicherer und Kriege, das zeigt die Geschichte der Staatswerdung, waren in der Regel der einzige Weg dorthin. Krieg hat es der Menschheit so erst ermöglicht, friedliche Gesellschaftsordnungen zu errichten. Ein Beispiel: Für einen Menschen aus dem industrialisierten 20. Jahrhundert war die Wahrscheinlichkeit, durch einen gewaltsamen Tod ums Leben zu kommen, zehnmal geringer als für einen aus der Steinzeit.

Sind Sie Zyniker oder Kriegsfetischist?

Weder noch. Ich habe lediglich eine realistische Sicht auf die Geschichte. In der akademischen Welt sind wir manchmal mehr daran interessiert, dass wir uns mit den Ergebnissen der Forschung wohlfühlen, als einen realistischen Blick darauf zu werfen. Die Geschichte des Krieges ist eine sehr böse Geschichte. Aber auf lange Sicht haben Kriege und Katastrophen auch diese positiven Nebeneffekte. In Europa starben zu Zeiten der Pest ein Drittel der Menschen. Ein schreckliches Desaster. Gleichzeitig aber resultierte aus der Katastrophe die Konsequenz, auf dramatische Weise die europäische Ökonomie zu verbessern. Das mag sich zynisch anhören. Aber auf lange Sicht hat die Katastrophe Europa vorangebracht.

Welchen Nutzen hatte Hitlers Krieg?
Natürlich ist es schwierig, irgendeinen Nutzen in Hitlers Krieg zu finden. Ich bin nicht versucht zu sagen, dass auch nur irgendetwas gut an Hitler war. Ich versuche einfach den Blick weg vom Detail, weg von den einzelnen Kriegen, hin auf das große Ganze zu richten. Hitler war ein Extrem, ganz klar. Der Trend zeigt aber, dass Gewalterfahrungen, das einzelne Individuum betreffend, zurückgehen.

Aber sollten die Zeiten des Fortschritts durch Gewalt nicht eigentlich vorüber sein? Man könnte auch sagen, dass Fortschritt nicht wegen, sondern trotz zahlreicher Kriege entsteht.
Da bin ich mir nicht so sicher. Das ist eines der Dinge, die wir erst begreifen, wenn wir zurücktreten und von sehr weit oben einen Blick auf die Geschichte werfen. Gewalt existiert heute nach wie vor. Sie ist weiterhin Teil der Welt. Aber die Rolle, die sie im Leben spielt, wandelt sich. Vor zehntausend Jahren war der Platz, den die Gewalt im Leben einnahm, noch um ein Vielfaches größer als heute. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinen Studenten. Wir redeten über Raufereien. Einer der Studenten, ein großer Kerl, wusste nicht, wie es sich anfühlte, jemanden zu schlagen. Ich dachte, er würde einen Scherz machen. Als jemand, der sich in seinen späten 50ern befindet, konnte ich mir nicht vorstellen, dass man durch die High School kommt, ohne sich zu prügeln. Doch die Generation der heute 20-Jährigen hat andere Erfahrungen gemacht.

Sie verweisen in Ihrem Buch auch auf die Biologie zur Unterfütterung Ihrer Thesen. Beispielsweise blicken Sie auf das Verhalten von Zwergschimpansen (Bonobos) und Schimpansen. Die einen setzen auf Sex, die anderen auf Gewalt. Sex oder Krieg, ist es das, was den Menschen am Ende ausmacht?
Auf eine Art, ja. Als Forscher entdeckten, dass Schimpansenbanden regelrechte Kriege untereinander führten, glaubten nicht wenige, das sei der Beweis dafür, dass der Mensch von Natur aus gewalttätig sei. Das sei nun mal Teil unserer Genetik. Dann begannen die Forscher in den 1990er Jahren von den Bonobos zu lernen. Sie lösten Konflikte nicht mit Gewalt, sondern mit Sex. Einige sagten dann, die Gewalttheorie sei falsch. Für mich steht fest, die Gene sind sehr wichtig. Wir sind fähig zur Gewalt, wir sind fähig, Gruppen zu organisieren, um Gewalt gegen andere Gruppen auszuüben. Trotzdem gibt es natürlich riesige Unterschiede zwischen uns und den Affen. Aber ja, Sex und Gewalt sind Teil des Menschen und seiner Geschichte. Es bleibt aber nur ein kleiner Teil. Es ist nicht die ganze Geschichte.

Ihre Argumentation geht auf, wenn man die Menschheitsgeschichte als Kriegsgeschichte definiert. Warum spielt Frieden so eine untergeordnete Rolle in Ihrer Geschichte?
Ich würde nicht sagen, dass ich die Menschheitsgeschichte als eine Geschichte des Krieges definiere. Aber Krieg ist nun einmal zentral für die Geschichte der Menschheit. Ich fand heraus, dass man Geschichte nicht verstehen kann, ohne über Kriege zu reden. Was nicht heißt, dass es die einzigen wichtigen Dinge sind. Die eigentliche Bedeutung der Kriege kommt ja erst zum Tragen, nachdem die Kämpfe beendet sind und der Aufbruch beginnt. Die Bedeutung der Kriege setzt also erst nach der Beendigung der Kriege ein.

Ihre Geschichtsschreibung scheint einer Art Gesetzmäßigkeit zu folgen. Wie bei Karl Marx. Sie argumentieren sehr strukturalistisch: Krieg als eine Art Weltformel der Geschichte?
Das ist ein Punkt, mit dem viele meiner Kollegen nicht einverstanden sind. Ich denke, es gibt in der Geschichte auch gewisse Gesetze, Regelmäßigkeiten und wiederkehrende Prinzipien. Auch hier können wir von den Biologen lernen. Es gibt bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die nun einmal unser Sein bestimmen. Insofern kann Geschichte gesehen werden als ein Teilgebiet der Biologie. Wenn du die Grundsätze von Biologie und Evolution kennst, werden viele Dinge in der Geschichtsschreibung sehr viel klarer.

Sie sagen, die nächsten vierzig Jahre werden die gefährlichsten unserer Geschichte. Warum?

Aus zwei Gründen: Erstens die heutigen Waffen sind viel gefährlicher als die Waffen der Vergangenheit. Die absolute Zahl der nuklearen Waffen ist zwar nach Ende des Kalten Krieges zurückgegangen. Aber sie wieder aufzurüsten, braucht nicht viel Zeit. Der zweite Grund ist ein bisschen kompliziert und auch besorgniserregender. Die USA verlieren vergleichbar mit den Briten im 19. Jahrhundert ihre Rolle als globaler Polizist. Der Erfolg der Briten, basierend auf der industriellen Revolution, hatte für die Weltmacht Großbritannien langfristig den Nachteil, dass sie ihr eigenes Erfolgsrezept in andere Länder importierte. Ihr Erfolg wurde ihnen quasi zum Verhängnis, so dass die Briten ihre Rolle als Weltpolizisten und Ordnungsmacht verloren. Ich sorge mich, das es in 30, 40 Jahren den USA ähnlich ergeht wie den Briten damals. Denn: Dass heute in bestimmten Teilen der Gesellschaft Gewalt kein Thema ist, geht auch zurück auf die Struktur des globalen Systems unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika. Ohne die Supermacht USA würde die Welt ein viel gefährlicherer Ort sein.

Herr Morris, vielen Dank für das Gespräch.

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