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(picture alliance) Jürgen Trittin macht die Erfahrung: Einfach ist Demokratie nicht zu haben.

Grünen-Urwahl - Vom hohen Preis der Demokratie

Ein wenig mag die Urwahl der Grünen die Gemüter beseelt haben. Endlich durfte man einmal mitreden. Vor einer Selbstadelung aber sei gewarnt

Liegt das Heil der Demokratie in der Basis? Augenblicklich wird wieder einmal suggeriert, die Antwort laute schlicht „ja“, es habe unserer Politik einen neuen Schwung gegeben, dass die Grünen ihre Mitglieder über die Spitzenkandidaten entscheiden ließen. Immerhin die Hälfte von etwa 60 000 soll votiert haben. Noch wird ausgezählt, das Ergebnis wird erst am Wochenende erwartet. Aber schon heißt es, die künftigen Spitzenkandidaten verfügten über eine völlig andere Legitimationsbasis als beispielsweise der Spitzenkandidat der SPD, Peer Steinbrück, den drei Spitzengenossen – er selbst darunter – im stillen Kämmerlein intransparent ausgeknobelt hätten. Das ist, mit Verlaub, eine unzulässige Vereinfachung.

Einlegen möchte ich hier, um es ganz grundsätzlich und meinethalben pathetisch zu sagen, ein Wort für die „repräsentative“ Demokratie, genauer für den „repräsentativen Parlamentarismus“, der ja auch eine starke Basis braucht, um überhaupt zu funktionieren. Dass der Wunsch immer wieder aufflammt, den erstarrten Parteien Beine zu machen, die Fesseln der Politik zu durchschneiden und den Verwaltern der Standardpositionen, den Cheftaktierern den Weg zu versperren – wer wollte dem nicht applaudieren, außer die Betroffenen selber? [gallery:Das sagen grüne Politiker zu ihrer Urwahl]

Mit dem Versprechen, mehr Graswurzeldemokratie ins Parlament zu transportieren, zogen die Grünen erstmals 1983 in den Bundestag ein, mit Sonnenblumen in den Händen, handgestrickten Pullovern und einer ansteckenden Begeisterung. Um diesen Anfangsschwung nicht einzubüßen, propagierten sie – jedenfalls die meisten von ihnen – eine rasche Rotation des Mandats, und einige plädierten auch nachdrücklich dafür, die einzelnen Abgeordneten an „imperative“ Weisungen der Basis zu binden. Das war nicht nur grundgesetzwidrig, es erwies sich auch rasch, dass ein solches Parlament ungleich schneller erstarren würde als eines mit freien, selbstbewussten Mandatsträgern.

Mit den Piraten, denen anfangs niemand so recht einen Sprung in die Parlamente zutraute, kehrte etwas von diesem Wunsch wieder in die politische Arena zurück: Mit ihrem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus und der Aussicht, vom Anfangsschwung sogar in den Bundestag katapultiert zu werden, wurde die sogenannte etablierte Politik erneut mit dem Charme der Graswurzeldemokratie konfrontiert. Wie einst mit den Grünen, hatte man wieder eine Anti-Parteien-Partei vor Augen, Ausdruck der verständlichen Sehnsucht, das Feld nicht den Routiniers und den gestanzten Formeln zu überlassen.

In der Medienwelt übrigens vollzog sich Ähnliches. Die sogenannten „sozialen Medien“, von Twitter, Wikileaks, Google bis zu subjektiven Blogs sowie Facebook, letzteres mit über einer Milliarde „Mitgliedern“, versprachen ja so etwas wie eine Demokratisierung von unten; den etablierten Meinungsmachern, uns Journalisten, sollte ihre herausragende Rolle entzogen werden, hieß es, in der neuen Medienwelt und der „liquid democracy“ habe jeder das gleiche Recht, mitzusprechen. Was auch nicht unsympathisch ist und keine kulturpessimistische Antwort verdient. Nur steckte auch darin bereits ein kleiner Irrtum: Natürlich maßen sich auch klassische Journalisten nicht einfach die Meinungsführerschaft über unsere Köpfe an, auch sie sind – wenn auch nicht gewählt wie Abgeordnete – Repräsentanten. Sie müssen verantworten können, was sie schreiben, sie müssen es rechtfertigen in Kontroversen innerhalb ihres Senders, Magazins oder Blattes, und sie müssen den Lesern Argumente und Kompetenz nachweisen, wenn sie sich auf Dauer behaupten wollen.

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Das galt selbst für Rudolf Augstein in den Leitartikeln des „Spiegel“ oder Marion Dönhoff und Ted Sommer in der „Zeit“ seinerzeit und es gilt für Günther Nonnenmacher in der „FAZ“ und Kurt Kister in der „SZ“ heute: Sie ließen und lassen nicht einfach privaten Emotionen und Ressentiments freien Lauf, sondern sind eingebunden in ein diskursives Netz, und sie müssen gerade stehen für das, was sie schreiben. Dazu müssen sie unabhängig sein.

Demokratie ist komplizier: Sie setzt auch Vertrauen voraus, dass derjenige, der mit seiner Stimme herausragt oder im Parlament votiert, dies auch aus eigener Überzeugung und eben ungebunden an Aufträge und Weisungen umsetzt. Bei den Piraten übrigens zeigte sich rasch, dass sie – anders als die Grünen 1983 – nur ein gewisses Versprechen der Demokratisierung von unten mitbrachten, aber wenig inhaltliche Interessen. Ihnen fehlte die Neugier an den allermeisten Fragen, mit denen Politik befasst ist. Dauerhaft etablierten sich hingegen die Grünen deshalb, weil sie nachweisen konnten, dass sie sich – Stichwort Wachstum und Zukunft der Lebenswelt, aber auch die angeblich „alternativlose“ Kernenergie – stark machten für eine grundsätzliche Kurskorrektur in vielerlei Fragen, auf welche die Traditionsparteien nur eingeschliffene, eindimensionale Antworten hatten. [gallery:Das sagen grüne Politiker zu ihrer Urwahl]

Um gehört zu werden, mussten sich die Grünen freilich stärker hineinbewegen in die Arena der „Realpolitik“. Das machte sie stärker – und natürlich auch anfällig für die Defizite  der von ihnen kritisierten, etablierten Parteien. Ihr Coup, die Mitgliederbefragung, um die Namen der Spitzenkandidaten herauszufiltern, klingt ein wenig wie ein Zitat. Ja, so toll waren wir Grüne einmal, jung, schön und Basisdemokratie. Dabei wurde die Befragung, wie jedermann weiß, aus purer Not geboren, nicht etwa aus der Überzeugung heraus, nur eine grundsätzliche Rückkehr zur direkten (oder zumindest direkteren) Demokratie verschaffe ihren Spitzenleuten sowie deren politischer Haltung die nötige Legitimation. Nein, plötzlich hatten sich neben Jürgen Trittin auch mehrere andere gemeldet, Claudia Roth, Renate Künast, Katrin Göring-Eckardt, und so wussten sie sich halt nicht anders zu helfen, als die Basis zu bitten, den Knoten zu durchschlagen.

Herauskommen wird vermutlich ein Votum für Trittin und Frau Künast, keine Sensation, wahrlich nicht. Ein wenig mag es die Gemüter beseelt haben, weil man doch endlich mitreden durfte, aber vor einer Selbstadelung sei gewarnt: Der Sieger oder die Siegerin hätte deshalb keineswegs das Mandat, beispielsweise frei zu entscheiden, ob die Grünen in eine Ampelkoalition oder in ein schwarz-grünes Regierungsbündnis mit Angela Merkel einsteigen könnten. Im Gegenteil, eine Basis, die sich selbst ernst nimmt, wird nun erst recht auftrumpfen können, gerade nach diesem Vorlauf über den künftigen Kurs in Grundfragen erneut mitreden zu wollen. Verstehen könnte man es durchaus. Aber es wird verhindert werden.

Einen Befreiungsschlag aus der Not übrigens haben ja auch andere schon riskiert. 1993 durften die SPD-Mitglieder bei einer Urwahl entscheiden, ob sie Rudolf Scharping, Gerhard Schröder oder Heidemarie Wieczorek-Zeul den Vorsitz in ihrer Partei zutrauen. Bekanntlich entschied sich die Mehrheit für Scharping, was dieser automatisch als Auftrag verstand, auch als Kanzlerkandidat anzutreten. Das Basisvotum machte ihn blind für seine Schwächen. In einem Coup von oben wurde es zwei Jahre später revoziert. Von der Mitgliederbefragung hat die SPD seitdem wohlweislich die Finger gelassen.

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Und hätte ein solcher Akt wirklich geholfen, um aus der Troika einen einzelnen Kandidaten herauszufiltern? Frank Walter Steinmeier wollte sich keine zweite Niederlage als Kanzlerkandidat einhandeln, was man nur allzu gut verstehen kann. Sigmar Gabriel wiederum erhielt im Vorfeld bei nur zwölf Prozent der Befragten Rückenstärkung – obwohl an der Spitze der SPD, konnte er unter diesen Bedingungen ohnehin unmöglich als Spitzenkandidat antreten. Blieb Peer Steinbrück. In Wahrheit hätte die Basis also gar keine Wahl gehabt.

Und was die „demokratische Legitimation“ angeht: Keine Urwahl, vermute ich, hätte diese doch ziemlich lächerliche Debatte verhindert, für einen Sozialdemokraten zieme es sich nicht, stolze Honorare für Vorträge und Bücher einzustreichen. Er hat geglaubt, er sei bereits weg aus der aktiven Politik, sein Marktwert als kompetenter Kommentator der Finanz- und Europakrise sowie Krisenmanager war – nicht zufällig übrigens – enorm, nur hat er den Fehler gemacht, sein Mandat noch zu behalten. Seit er in die Politik zurückgerufen wurde, hat sich die Ausgangslage geändert. [gallery:Das sagen grüne Politiker zu ihrer Urwahl]

Jetzt sollte er daran gemessen werden, was er zu Europa, zur Bankenrettung und zur drohenden Rezession beizutragen hat. Aber das wird schwer, denn es wird nun in manchen Medien geradezu Volkszorn gegen ihn geschürt – und die Umfragen, die sich weiter verschlechtern, besorgen den Rest. Das Rennen scheint aussichtslos, bevor es begonnen hat. Vor dieser Art Stimmungsdemokratie – fast amerikanisch – hätte ihn und uns aber auch keine Basisentscheidung bewahrt.

Was die „Basis“ angeht, muss man auch noch erinnern an ein Votum der FDP-Mitglieder im Jahr 1995: Sie billigten damals den Lauschangriff, einen fatalen Eingriff in das Grundrecht unserer Privatheit, aber im Hintergrund ging es nur darum, die Parteilinke und die Verteidiger der Bürgerrechtstradition in den eigenen Reihen endlich kirre zu machen. Ein Versuch bei den Liberalen wiederum, die „Basis“ gegen die Euro-Rettungspolitik anzurufen, scheiterte – wahrscheinlich wäre darüber sogar die schwarz-gelbe Regierung zerbrochen. Dafür hat das Verfassungsgericht die Rechte des Parlaments in Sachen Euro-Europa gestärkt, was ein wichtigerer und grundsätzlicherer Beitrag zur Demokratisierung der Verhältnisse war, als es jede Basisentscheidung hätte sein können.

Dass der Ruf nach der „Basis“ zeitgemäß wirkt und ja auch sympathisch gedacht ist, sei nicht bestritten. Der Protest gegen „Stuttgart 21“, das Bahnhofsprojekt, mündete zunächst bekanntlich in einem Runden Tisch, der seitdem als Modell dafür propagiert wurde, wie man künftig Großkonflikte an Großbaustellen lösen könne. Aber auch das erwies sich als stolze Überhöhung. Die „Basis“ hatte in den Jahren zuvor schon das Recht, an Anhörungen teilzunehmen und sich einzumischen, aber die Vertreter der Umwelt- und Naturschutzverbände saßen ziemlich einsam herum – mangels Interesse. Und die Volksabstimmung schließlich ergab eine Mehrheit für den Bau des umstrittenen Projektes. Was außer einer gewissen Beruhigung ist erreicht worden, was nicht zuvor schon feststand?

Kurzum: Warnen möchte ich nur, die Graswurzeldemokratie naiv zu verherrlichen, als handele es sich um die Neuerfindung der Demokratie selbst. Eine starke zivile Gesellschaft, eine Einmischung von unten, eine partizipative Demokratie, das muss man sich alles wünschen. Aber das setzt starke, selbstbewusste Parlamente, also demokratische Institutionen, es setzt autonome Abgeordnete, es setzt unabhängige, kritische Journalisten voraus, die gerade nicht darauf schielen, was im Publikum und am Markt gerade gut ankommt. Einfacher ist Demokratie nicht zu haben.

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