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(druckfrisch / ARD) Herr über das Gute, Schöne, Wahre: Denis Scheck

Literaturkritiker Denis Scheck - „Kein Sex in Entenhausen!“

Er steht am Gipfelpunkt der menschlichen Evolution: Der Literaturkritiker. Zumindest behauptet das Kritiker-Koryphäe Denis Scheck. Im Interview spricht er über literarische Windbeutel, Todesangst beim Lesen und die Gefahren der Ironie

Wenn der Regenwald wieder um ein paar Hektar ärmer ist und die Nation den Duft druckfrischer Bücher verströmt, scharrt das lesehungrige Volk bereits nervös mit den Hufen, denn: die Buchmesse hat begonnen. Grund genug, den publizistischen Wahnsinn einmal aus sicherer Entfernung kritisch zu beäugen, mit einem waschechten Literaturpionier an der Seite, der an so manchem sparen mag, nur nicht an der Kritik. Schnell ist eine 069-Nummer gewählt, es tutet und sogleich raunt am anderen Ende der Leitung eine sonore Stimme in die Sprechmuschel: Scheck?

Denis Scheck, Kritiker aus Leidenschaft, kennt den Literaturbetrieb wie seine Westentasche. Mit 13 Jahren gründete er seine erste Literaturzeitschrift und arbeitet seither als Literaturagent, Übersetzer, Herausgeber und Literaturredakteur. Szenisch schildert er noch, wie er sich in Laokoon’scher Anmut von der kunstvoll verzwirbelten Schnur seines Hoteltelefons löst, um dieses in die Nähe einer Tasse Kaffee zu bugsieren. Und dann ist er ganz Ohr:

Lieber Herr Scheck, was hat es mit Ihrer Zuneigung für Sledge Hammer auf sich? Mit dieser immer wiederkehrenden Hommage an einen selbstverliebten, chauvinistischen, „Pizzagesicht“-schimpfenden, waffenvernarrten Polizeidetektiv?
Das ist große Fernsehhistorie. Sledge Hammer war für mich ein ironischer Durchbruch im Format der Fernsehserie, so wie früher Monty Python in der Comedy. Was für ein Antiheld! Als ich die Chance erhielt, eine Fernsehsendung zu machen – Elke Heidenreich war noch nicht auf Sendung und das Quartett hatte gerade aufgehört –, dachte ich mir, ich muss mit den Mitteln der Ironie arbeiten. Ich fragte mich also, wie ich aus dieser Ex-Cathedra-Position des Papstes heraus komme, der sagt: „Sie lesen jetzt dieses Buch, sonst erschieße ich diesen Hund!“ Da ist Sledge Hammers Formel „Vertrauen Sie mir, ich weiß was ich tue!“ perfekt, weil jeder weiß, so spricht nur jemand, der nicht weiß, was er tut. Was ich allerdings unterschätzt habe: Ich dachte, diese Fernsehserie kennt jedes Kind, stattdessen kennt sie keine Sau! Das ist die Gefahr von Ironie im Fernsehen: Dass sie nicht verstanden wird.

Sie wissen also gar nicht, was Sie tun und sind eigentlich unverstanden?
Sledge Hammer arbeitet mit der Limitierung seiner Persönlichkeit – genau wie ich auch. Aber beide geben wir uns schrecklich Mühe. Unterm Strich möchte ich das aber nicht als Dauerwerbesendung für Medien oder bestimmte Autoren verstanden wissen. Das ist ein Appell, um Gottes Willen das eigene Hirn einzuschalten.

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Wozu brauchen wir dann überhaupt Literaturkritiker wie Sie? Finden Sie es nicht etwas vermessen, Bücher nach Ihrem Gutdünken in gute und schlechte zu unterteilen?
(lacht) Selbstverständlich ist Literaturkritik die höchste Form menschlichen Lebens auf diesem Planeten. Der Ziel- und Gipfelpunkt menschlicher Evolution. Dafür sind wir angetreten, dafür haben sich die ersten Amöben zusammengeschlossen und Staaten gebildet: Damit am Ende als Krone der Schöpfung der Literaturkritiker steht.

Literaturkritiker sind also von Natur aus größenwahnsinnig? Eine angeborene Megalomanie vielleicht?
(lacht noch mehr) Nein, ernsthaft: Die Literaturkritik ist die schönste Tätigkeit der Welt! Mein Leben wäre ohne sie verfehlt. Sie wollen doch nicht, dass ich mein Leben verfehle?

Das möchte ich sicher nicht. Aber wozu brauchen wir eine ganze Industrie an Kritikern?
Weil jedes Jahr 90.000 Neuerscheinungen auf den Markt kommen. Wir brauchen also furchtlose Pioniere, die sich in die Brandung dieses tobenden Irrsinns stellen und mutig – to boldly go, where no man has gone before – diese Bücher aufschlagen, lesen und hinterher Bericht darüber erstatten. Mich wundert umgekehrt, warum es in anderen Feldern nicht mehr Kritik gibt. Ich fordere Brötchenkritik, Hosenkritik, Sockenkritik, Lampenkritik! Es gibt die Kritik im kulinarischen Bereich, merkwürdigerweise in der Automobilindustrie, im Kunst- und Musikbereich, aber in vielen Feldern unseres Alltagsleben fehlt sie. So steckt auch die Kindergartenkritik noch in den Kinderschuhen. Deshalb gibt es auch ganz wenig gesellschaftliches Fortkommen.

Aber warum brauchen wir für alles einen TÜV, eine Stiftung Warentest, die uns das eigenverantwortliche Denken und Handeln abnimmt? Muss man sich durch manche Phänomene – von den Brötchen bis zur Literatur – nicht selbst durchwursteln?
Bei 90.000 Neuerscheinungen können Sie nicht mehr viel wursteln. Die vornehmste Aufgabe der Kritik ist nämlich auch die Reduktion von Komplexität. Ich lese zwischen 150 und 180 Büchern im Jahr. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Vladimir Nabokov entdecken, ohne Kritiker, ohne die Literaturwissenschaft, ohne Gespräche über Bücher und das Argumentieren darüber, ist gering.

Die Hybris des Kritikers ist dabei umso größer?
In der Tat. Ich nenne das den Entjungferungswahn der Literaturkritik: Der Wahn, der Erste zu sein, der irgendwas entdeckt.

Seite 2: Publizistischer Mist und hässliche Kinder

Wie Picasso, der seine Werke vordatierte, um zu sagen, er habe den Kubismus noch vor Georges Braques entdeckt.
Wissen Sie, ich lege großen Wert darauf, eine harmonische Partnerschaft mit meiner Frau zu leben. Aber den Ehrgeiz, bei ihr der erste gewesen zu sein, habe ich nie gehabt. Ich will einfach nur, dass sie bei mir bleibt. Wenn ich nun im Jahr 2012 auf die unglaubliche Kunstfertigkeit Nabokovs hinweise, bin ich sicher nicht der erste, sondern der millionste. Schon allein das Wort „entdecken“ ist absurd. Wir sind nicht Columbus und ein Autor ist auch kein Amerika. Aber es ist natürlich unsere Aufgabe, auf die Pauke zu hauen, wenn wir etwas Besonderes finden.

Bei 90.000 Publikationen im Jahr finden Sie bestimmt auch viel Mist.
Ja, deshalb sind wir als Kritiker auch aufgerufen, mit der bewährten Strategie von „shock and awe“ Furcht und Schrecken zu verbreiten gegenüber solchen, die es beispielsweise wie Bettina Wulff wagen, ihre Dönekens in Buchform zu bringen.

Könnten Sie sie nicht schon im Vorfeld davon abhalten?
Nein. Aber wenn diese Bücher tatsächlich jemand liest – und mein Verdacht ist, dass das außer mir kaum jemand tut, weil diese Republik sonst in donnerndem Gelächter unterginge – finden Sie eine derartige geistige Ödnis, dass ich erschrecke. Wenn eine ehemalige Bundespräsidentengattin ihre Memoiren schreibt und im zweiten Kapitel erst einmal aufzählt, mit wem sie alles in die Kiste ging, um den Prostitutionsvorwurf aus dem Weg zu räumen, dann ist das so unglaublich naiv. Schlimmer als jeder Lore-Roman.

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Würden Sie das Bettina Wulff auch so unverblümt ins Gesicht sagen, wenn Sie sich bei einer Veranstaltung zufällig am Büffet träfen?
Bei einer privaten Begegnung am Büffet sicher nicht. Aber im öffentlichen Diskurs über das Buch muss ich Farbe bekennen. Das ist leider meine Aufgabe. Doch bemühe ich mich immer sehr um Takt und Höflichkeit. Das heißt: Ich würde diese Begegnung versuchen zu vermeiden. Ich gehe ja auch nicht in den Park, beuge mich über einen Kinderwagen und sage: „Ihr Kind ist aber sehr sehr hässlich!“

Haben Sie schon mal gelogen?
Nicht als Kritiker. Das ist die einfachste Karrierestrategie, die man beherzigen muss. Wer in dieser Branche lügt, ist verratzt. Ich habe immer die Möglichkeit, zu schweigen. Es zwingt mich ja niemand, ein Buch zu besprechen.

Was ist, wenn Sie befangen sind? Wenn Ihre Frau nun ein Buch schreiben würde und es wäre furchtbar schlecht?
Gerade dann würde ich es ihr gerne sagen, bevor es jemand anderes tut. Und hoffentlich macht sie das andersherum auch. Meine Frau liest, aber Gott sei Dank schreibt sie bisher wenig.

Seite 3: Das goldene Zeitalter des Buches

Trotz des vielen Mists, der also publiziert wird, sagen Sie, wir würden im goldenen Zeitalter des Buches leben. Tatsächlich?
Ich finde, wir haben zur Zeit eine unglaublich reiche Gegenwartsliteratur. In den 1970er und 80er Jahren war ich ein ziemlich unglücklicher Leser, weil die Gefahr bestand, dass wir die intelligente, niveauvolle deutsche Unterhaltungsliteratur aufgeben und nur noch Schmöker aus England, Amerika und ein bisschen was aus Italien importieren. Das hat sich mittlerweile mit Namen wie Frank Schätzing oder Cornelia Funke normalisiert.

„Normalisierung“ klingt aber nicht nach „goldenen Zeiten“.
Es gibt die Sterneküche. Es gibt daneben aber auch noch das, was man den Italiener um die Ecke oder ein gutbürgerliches Restaurant nennt. Das hat alles seine Berechtigung. Um literarisch vernünftig auf historische Fakten reagieren zu können, brauchen wir nicht die Perspektive der unmittelbaren Zeitgenossen, sondern einen Abstand von gut 20, 30 Jahren. Das ist in etwa der Abstand zwischen den Napoleonischen Kriegen und Tolstois „Krieg und Frieden“. Der Mauerfall, der Abschied von der bipolaren Welt ist literarisch quasi erst jetzt richtig Thema. Einer der aufregendsten Romane der Gegenwart ist deshalb tatsächlich Ursula Krechels 1948 angesiedelter Roman „Landgericht“, der sich mit der Nachkriegszeit, der Restitution und dem Wiederaufbau der Bundesrepublik befasst.

… und der soeben den Deutschen Buchpreis erhalten hat. Halten Sie derartige Veranstaltungen nicht für gestelzte Selbstbeweihräucherung? Oder erfüllen solche Preisverleihungen tatsächlich eine wichtige Funktion, außer der Subvention?
Das System der Preise, angefangen beim Nobelpreis, über den Deutschen Buchpreis bis zum Büchner-Preis, hat ebenso wie die Literaturkritik die Funktion der Reduktion von Komplexität. Als aufgeklärter Leser muss man sich darüber im Klaren sein, dass das eben nur ein Orientierungsweg ist.

Damit sprechen Sie dem aufgeklärten Leser aber schon wieder die Fähigkeit ab, komplexe Zusammenhänge selbst zu durchdringen. Zudem werden in Deutschland über 700 Literaturpreise im Jahr verlieren. Verliert man da nicht eher die Orientierung?
Das sind definitiv zu viele. Ich würde daher auch immer für weniger, dafür aber höher dotierte Preise plädieren.

Gibt es dabei jemanden, den Sie in diesem Zusammenhang für maßlos überschätzt halten?
Es gibt einige Windbeutel. Aber entsetzt war ich zuletzt über die Dürftigkeit von Reinald Goetz‘ Roman „Johann Holtrop“. Goetz ist ein wunderbarer Blogger, ein Essayist, vielleicht auch ein Journalist, aber ein episches Totalversagen wie das, habe ich lange nicht mehr zwischen zwei Buchdeckeln erlebt.

Mit Ihrer lockeren Zunge schießen Sie schnell und scharf. Würden Sie bei Ihrer Kritik aber manchmal nicht lieber in die Tiefe gehen?
Ich komme ja aus der Tiefe. Ich habe lange übersetzt und halte an dem Glaubensbekenntnis fest, dass der Übersetzer der genaueste Leser eines Textes ist. Mitunter liest er ihn sogar genauer als der Autor, da er den Text von außen betrachtet, aber mit dem Zwang, ihn in seinen eigenen Worten wiedergeben zu müssen.

Seite 4: Todesangst beim Lesen

Damit ist dieser Text aber auch der Willkür des Übersetzers ausgesetzt. Ein Text, der einem nicht zueigen ist, in eigene Sprache zu fassen, kommt einer Hoheitsaufgabe gleich, die mit viel Verantwortung einhergeht. Da kann einiges schief gehen, man denke nur an das Kamel und das Nadelöhr…
Deswegen sind Übersetzer für mich auch die heimlichen Helden, die unbesungenen Heroen der Literatur. Ohne sie säßen wir im Mußtopf unserer Nationalliteratur. Die für mich zentralste Kindheitslektüre ist daher auch die brillanteste Übersetzung, die es im Deutschen überhaupt gibt, nämlich die Donald-Duck-Übersetzung von Erika Fuchs. Sie hat diese wunderbaren Geschichten von Carl Barks – der für mich so wichtig ist wie Karl Marx – in das Stahlbad der deutschen Klassik getaucht.

Wie das?
Wenn zum Beispiel Onkel Dagobert im Englischen „No!“ sagt, wird bei Erika Fuchs daraus ein „Mit Nichten!“. So spricht eben ein Onkel Dagobert. Das ist ein ganz anderes Sprachniveau! Bei Tick, Trick und Track heißt es einmal „Ohne Knete keine Fete“ oder das bekannte Daniel-Düsentrieb-Sprichwort „Dem Ingenieur ist nichts zu schwör“ – das sind wunderbare Sprachspielereien. Ich bin übrigens sehr stolz darauf, dass ich mit Donald Duck meine Unsterblichkeit in Händen halte. Ich besitze nämlich einen Laden in Entenhausen. Erika Fuchs hatte die Angewohnheit, ihre unmittelbare Umgebung in diesen Geschichten namentlich zu erwähnen. So besitzt Patrick Bahners einen Antiquitätenladen: Kunst & Krempel P. Bahners. Und im selben Album taucht auch die Spielwarenhandlung Scheck auf, die Donald mit dem unsterblichen Satz im Schnabel betritt: „Mal sehen, was der gute Scheck wieder auf Lager hat.“

Sie verdanken Ihre literarische Primärsozialisation also Erika Fuchs und dem Comic. Dennoch sind Sie kein „Donaldist“, wie Sie selbst sagen. Warum eigentlich nicht?
Da halte ich es wie Groucho Marx: Ich möchte niemals Mitglied in einem Club sein, der mich als Mitglied nimmt.

Welche Funktion hat Literatur für Sie?
Ich glaube an die Literatur als Mittel des Trostes, aber nicht als Mittel der Heilung, nicht als Arznei. Literatur tröstet uns über unsere Sterblichkeit, lindert unsere Einsamkeit und unsere Todesangst – im besten Fall. Es ist aber kein seelisches Trostpflästerchen, kein „Wer Sorgen hat, hat auch Likör!“ Literatur kann Ihnen Ihre Sterblichkeit vor Augen führen, kann Ihnen eine Scheißangst einjagen und Ihnen dann den dürftigen Trost anbieten, dass Sie mit der Erfahrung nicht allein dastehen. Genauso wie Literatur tröstet, kann sie auch aufwühlen, in Trab bringen, verstören, vielleicht sogar dazu bringen, Ihr Leben zu ändern. Das ist die Funktion von Literatur: Einen die Welt neu sehen zu lassen.

Sie befördert auch den Eskapismus. Wohin verschwinden Sie dann beim Lesen am liebsten?
Ich bin schon wirklich gern in Entenhausen. Das ist ein schöner Ort, weil es dort keinen Tod gibt. Niemand stirbt in Entenhausen! Das hat allerdings auch einen sehr hohen Preis: Es gibt dort auch keinen Sex. Deshalb kehre ich auch gerne wieder in die Realität zurück.

Haben Sie in der Realität eine Toilettenlektüre?
Ja.

Braucht man da was Serielles, Kurzweiliges?
Nein, es gibt nichts, was ich nur auf der Toilette lese. Es ist eher ein Zeichen für die Qualität eines Buches, wenn ich mich nicht mehr davon trennen mag.

Christian Kracht bezeichnete sich einmal als Schriftsteller-Darsteller, er spaltet also sein Schriftstellertum ganz bewusst von seinem Ich, macht es zur Rolle – wobei man ja weiß, dass er sich gerne inszeniert. Macht Sie das nun umgekehrter Weise aber auch zum Kritiker-Darsteller?
Wie wir aus Hamlet wissen, sind wir alle Akteure auf einer Bühne. Wir alle spielen uns selbst in unseren jeweiligen sozialen Rollen, als Sohn, als Vater, als Kritiker, als Schriftsteller. Das ist die befreiende Erfahrung der Literatur, dass wir aus diesen Rollen heraustreten und in dem berühmten Shakespeare’schen Aside darüber reflektieren können. Das beste, was passieren kann, ist neben sich zu treten. Dafür ist uns wiederum das Mittel der Ironie an die Hand gegeben.

Und wenn niemand hinsieht? Wenn Sie zuhause im Bett liegen, kurz bevor das Licht ausgeht?
Dann spiele ich die Rolle des im Bett liegenden Literaturkritikers.

Herr Scheck, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Sarah Maria Deckert

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