- Wir haben einfach keine Zeit mehr
E-Mails, SMS, Internet oder Smartphones: Wir leben unser Leben in einer Aufregung, die unsere Vorfahren nur aus der Schlacht kannten – und mit der unser Gehirn auf Dauer nicht zurechtkommt. Mit den üblichen Rezepten der Zeitplanung kommen wir aber nicht weiter
Alles ist jetzt ultra. (…) Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt. (…) Junge Leute werden (…) im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist es, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Alle möglichen Erleichterungen der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten …“
Anscheinend leidet der Autor dieser Zeilen unter dem Dauerbombardement durch E-Mails; vielleicht wird er auch von einer jener entsetzlichen Telefonanlagen traktiert, die mitten im Gespräch mit Piepen bereits den nächsten Anruf ankündigen. Oder sein Twitter-Account quillt über, der Kopf schwirrt ihm, weil er mit seinen Kindern ein paar der aberwitzigen Clips auf Youtube ansehen musste? Nichts dergleichen: Der Schreiber ist Johann Wolfgang von Goethe. In einem Brief an seinen Freund, den Komponisten Zelter, beklagt er sich außerdem über „Eisenbahnen, Schnellposten und Dampfschiffe“. Das war 1825.
Seitdem ist das Reisen hundert Mal und die Kommunikation zehn Millionen Mal schneller geworden. Der Brief, der zu Zelter nach Berlin mehr als eine Woche brauchte, wäre heute als E-Mail in Sekunden am Ziel. Nach Italien zu reisen, ist eine Angelegenheit von ein paar Stunden. Und selbst in Weimar hält der ICE.
Wenn schon Goethe sich über zu viel Tempo beklagte – haben wir dann nicht erst recht allen Grund dazu? Jedenfalls spricht der Dichter den meisten Deutschen aus der Seele: 67 Prozent der Mitbürger empfinden die „ständige Hektik und Unruhe“ als den größten Auslöser von Stress. Wie sehr sich das Lebenstempo gerade in den vergangenen Jahren beschleunigt hat, lässt sich am besten an den vermeintlich kleinen Dingen des Alltags ablesen: Fotokopierer mit einem Ausstoß von 30 Blatt pro Minute; Internetanbieter, die Sie mit neuen Anschlüssen locken, bei denen sich die Seiten um ein paar Zehntelsekunden schneller aufbauen; Kaffee „To Go“.
Jeder etwas ältere Film im Fernsehen führt uns vor Augen, in welchem Maß nicht nur unser Lebenswandel, sondern selbst die Wahrnehmung einen Zahn zugelegt hat. Die kühnen Schnitte von Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“ beanspruchten bei seinem Erscheinen im Jahr 1968 die Sehgewohnheiten der Kinogänger bis an ihre Grenzen. Heute verlieren wir bei denselben Einstellungen, in denen die Raumschiffe zu klassischer Musik durchs Weltall gleiten, fast die Geduld. Als vor einigen Jahren einige Folgen des 1965 gedrehten Fernsehklassikers „Raumpatrouille Orion“ neu für das Kino zusammengeschnitten wurden, beschleunigten die Produzenten denn auch die Geschwindigkeit, mit der die Orion von ihrer Heimatbasis abhebt, um fast das Doppelte. Kaum einem alten Fan der Kultserie fiel es auf. Wir finden inzwischen ein höheres Tempo normal.
Der Preis, den wir zahlen, ist das Gefühl, ständig außer Atem zu sein. Noch ein paar Zahlen über die Zeit, in der wir leben: Auf die Frage, ob sie sich oft oder immer gehetzt fühlten, antworteten mehr als ein Viertel der Deutschen mit Ja. Noch größer und ständig wachsend ist das Heer der Angestellten, die sich über ein hohes Arbeitstempo beschweren. Und die Befragten sind sich einig darüber, dass Hektik krank macht. Von den Gehetzten klagten fast doppelt so viele über Rückenschmerzen, Verspannungen an Schultern und Nacken, Verletzungen und ganz allgemein Stress als Beschäftigte, die ihre Arbeit gemächlich genug fanden.
Seite 2: Wir sind reicher an Zeit, als es Menschen je waren
Wir kennen das Gefühl der Zeitnot so sattsam, dass wir darüber ganz vergessen haben, wie merkwürdig es ist. Schließlich sind wir reicher an Zeit, als es Menschen je waren – und verfügen über eine nie da gewesene Freiheit, sie zu gestalten. Die Kombination aus Zwölfstundentag und Sechstagewoche, einst die übliche Arbeitszeit, ist heute die Ausnahme. Vor allem aber hat sich während der vergangenen hundert Jahre die Lebenserwartung beinahe verdoppelt. Wir hätten also eigentlich allen Grund, uns zu entspannen. Stattdessen fühlen wir uns gejagt.
Wo bleibt all die gewonnene Zeit? Acht Stunden und 18 Minuten verschläft der erwachsene Deutsche. Eine Stunde und 33 Minuten lang isst er. 47 Minuten am Tag weilt er hinter den geschlossenen Türen von Bad und Toilette. Frauen schlafen im Durchschnitt vier, essen drei und pflegen sich acht Minuten länger als Männer. Männer opfern zwei Stunden und neun Minuten, Frauen drei Stunden 49 Minuten des Tages dem Haushalt. Davon entfallen bei den Frauen 20 Minuten täglich auf Wäschepflege. Die entsprechende Zahl bei den Männern ist statistisch nicht nachweisbar.
Um diese Erkenntnisse zu gewinnen, hat das Statistische Bundesamt einigen Aufwand getrieben. Alle zehn Jahre bekommen mehr als 12 000 Menschen im ganzen Land ein Tagebuch in die Hand und müssen im Zehn-Minuten-Rhythmus notieren, was sie tun. Das Ergebnis präsentiert sich als ein gar nicht so unerfreulicher Alltag in Deutschland. Jede und jeder im Land verfügt im Schnitt über 42 Stunden Freizeit pro Woche, mehr Muße haben in Europa einzig die Finnen. Und wir wissen durchaus mit diesem Gut umzugehen. Fast 15 Stunden pro Woche widmen die Deutschen Freunden und Vergnügungen wie Kino, Theater und Stadion. Selbst für das Essen lassen wir uns heute 21 Minuten täglich mehr Zeit als noch vor zehn Jahren. Man könnte fast glauben, die Deutschen seien am Ende gar auf dem Weg, das Genießen zu lernen – wären da nur nicht die Stimmen von immer mehr Menschen zu hören, die über Stress klagen.
Zweifellos sind Muße und Hetze ungleich verteilt. Berufstätige Mütter kleiner Kinder etwa, erst recht Alleinerziehende, haben in Deutschland tatsächlich mehr Aufgaben, als sie vernünftigerweise an einem Tag bewältigen können. Aber für die meisten, die sich gehetzt fühlen, trifft das nicht zu. Die Statistiken über den objektiven und den gefühlten Mangel an Zeit sind denn auch ein Sammelsurium an Merkwürdigkeiten. Deutsche Rentner beispielsweise fühlen sich schon dann unerträglich gestresst, wenn fünf ihrer 24 Stunden verplant sind; Landwirtinnen hingegen beschweren sich erst, wenn sie elf Stunden täglich eingespannt sind. Und wie ist zu erklären, dass Menschen bei gleicher Arbeitsbelastung umso größere Zeitnot empfinden, je mehr sie verdienen?
Vielleicht bringt uns eine kleine Zeitreise ins Weimar jener Epoche, die Goethe so hektisch vorkam, dem Phänomen näher. Die Menschen auf der Straße bewegen sich mit geradezu aufreizender Langsamkeit – in ungefähr dem halben Tempo, das Sie gewohnt sind. Wenn Sie das noch nicht ungeduldig macht, dann genügt ein Besuch beim Bäcker: Bis Sie Ihre Brötchen bekommen, sind eine Viertelstunde und zwei Schwätzchen mit anderen Kunden vergangen. Sie wären tagelang mit öden Aufgaben beschäftigt, etwa mit der Hand Texte abzuschreiben, Rechnungen auf dem Papier anzustellen, Wäsche zu waschen. Die Abende bei Kerzenlicht und ohne Zerstreuung erscheinen Ihnen unendlich. Und wenn Sie eine kleine Unterbrechung von so viel Einförmigkeit suchen, hätten Sie schon bald nach den ersten Ausläufern des Thüringer Waldes Ihren Aktionsradius erreicht. Die Gelegenheit, darüber hinauszublicken, bekommen Sie selbst als gut situierter Bürger höchstens ein- oder zweimal im Jahr. So sehen Sie nichts als tagaus, tagein dieselben Mauern, dieselben Gesichter.
Wollen Sie schon mit der Zeitmaschine die Rückreise in Ihren hektischen Alltag antreten? Widerstehen Sie dieser Versuchung, dann werden Sie nach einer Weile subtile Veränderungen Ihrer Wahrnehmung bemerken. Die Gerüche verschiedener Phasen des Frühlings im Wald werden Ihnen vertraut. Sie nehmen wahr, wie sich die Gesichtszüge Ihrer Mitmenschen verändern, und lernen die hohe Kunst der geistreichen Konversation. Während sich Ihr Ausdruckswille in Ihrem früheren Leben in kaum mehr als ein paar E-Mail-Kürzeln erschöpfte ;-) , beginnen Sie nun, in sorgsam formulierten Briefen und in gestochener Handschrift über Ihre Gefühle Rechenschaft abzulegen – keiner ist mehr darüber erstaunt als Sie selbst. Einige Gedichte haben Sie so oft gelesen, dass Sie die Verse ganz von allein auswendig lernten. Sogar die Lebensgeschichte Ihres Bäckers wird Ihnen geläufig. Und seine von Hand gefertigten Brötchen verströmen einen intensiven Duft, von dem Ihre Lieben daheim im 21. Jahrhundert noch nicht einmal ahnen.
In der Vergangenheit, in der Sie sich herumtreiben, ist Abwechslung kostbar. Weil Sie nicht viel erleben, beschäftigen Sie sich umso intensiver mit den Reizen, die Sie wahrnehmen. Ausgehungert nach Zerstreuung, empfinden Sie selbst einen Jahrmarkt als ein Ereignis, das eine mühsame Anreise lohnt.
Seite 3: Die geistige Stimulation scheint endlos
Uns heutige Menschen dagegen erreicht so viel Stimulation, wie wir wollen. Der Jahrmarkt findet jeden Abend im Fernsehen statt; in einer einzigen Stunde vor dem Bildschirm bekommen wir mehr als tausend Einstellungen zu sehen. Fernreisen, Musik auf Knopfdruck, ausgefallene Speisen – in einem einzigen Jahr sammeln wir mehr Eindrücke als Goethes Zeitgenossen in einem ganzen Leben. Soziologen nennen dies die „Ereignisgesellschaft“: Sinnesreize gibt es in beliebiger Menge sofort. Nur fehlt uns die Zeit, sie zu genießen.
Denn das Gehirn kann Information nicht beliebig schnell verarbeiten. Darum ist Aufmerksamkeit ein knappes Gut. Erreicht uns ein Reiz, während wir mit etwas anderem beschäftigt sind, können wir uns ihm zuwenden, dann aber bleibt der erste Vorgang im Kopf unvollendet. Oder aber wir blocken die Neuigkeit ab. In jedem Fall verzichten wir auf einen großen Teil der eigentlich verfügbaren Information. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es uns gelänge, sinnvoll auszuwählen. Fatalerweise aber funktionieren die nötigen Filter schlecht – zu schlecht für unsere moderne Umgebung.
Versuchen Sie einmal, nicht auf einen der Monitore zu achten, über die in Bahnen und Bussen Werbung flimmert. Noch schwerer fällt es, sich vom laufenden Fernseher oder gar von einem spannenden Computerspiel loszureißen. Als ginge von den Bildschirmen eine bannende Kraft aus, gelingt es uns nicht, einfach den Ausknopf zu drücken, obwohl wir es eigentlich wollen.
Ein Gegenstück im Büro sind die ständig hereintröpfelnden E-Mails. Natürlich ist jedem klar, dass erstens Outlook und Co Zeiträuber sind, die uns unablässig daran hindern, eine Sache ungestört zu Ende zu führen, und dass zweitens nur die wenigsten Mails einer umgehenden Antwort bedürfen. Und doch kostet es größte Überwindung, das E-Mail-Programm einfach zu beenden und dann auch abgeschaltet zu lassen. Denn als das Netz in die Haushalte einzog, wurden die Menschen nach dem neuen Medium süchtig. Eine Untersuchung der inzwischen untergegangenen Internetfirma AOL berichtet aus diesen Tagen: Schon in den späten neunziger Jahren verbrachten drei Viertel aller Amerikaner mehr als eine Stunde mit ihrer elektronischen Post. 41 Prozent der Befragten riefen morgens noch vor dem Zähneputzen zum ersten Mal ihre Mails ab, ebenso viele gaben zu, sogar nachts schon einmal extra aufgestanden zu sein, nur um am Computer das Postfach zu prüfen. 4 Prozent taten es selbst dann, wenn sie, mit Laptop ausgerüstet, auf der Toilette saßen. Seit in jeder Hosentasche ein Smartphone steckt, dürften sich sehr viel mehr Menschen das angewöhnt haben.
Liegt es daran, dass es Menschen unmöglich ist, ständiger Ablenkung zu entsagen? Die genetische Programmierung unseres Gehirns entstand in einer Zeit, in der neue Reize rar waren und, wenn sie doch auftraten, eine möglicherweise lebenswichtige Bedeutung hatten. Was sich in unserer Umgebung verändert, weckt die Aufmerksamkeit, ob wir es wollen oder nicht. Automatisch wird der Blick dorthin gezogen. So mögen wir heute vor dem Computer durchaus wissen, wie belanglos die meisten per E-Mail eintreffenden Botschaften sind – wir stürzen uns dennoch mit derselben Intensität darauf, mit der einst ein Savannenbewohner die Ohren spitzte, wenn er ein Rascheln im Laubwerk vernahm.
Diese Reaktionen sind einem eigenen Netzwerk von Nervenzellen zu verdanken. Es geht von einem bläulichen Kern namens Locus coeruleus im Hirnstamm aus (coeruleus ist lateinisch für „blau“). Von dort zieht sich das Geflecht der Neuronen nach unten und oben – einerseits ins Rückenmark, andererseits ins Stirnhirn und in tiefere Hirnzentren, welche Emotionen auslösen. Sobald ein bemerkenswerter Reiz eintrifft, setzt der blaue Kern automatisch den Botenstoff Noradrenalin frei. Diese Substanz ist eng verwandt mit dem besser bekannten Stresshormon Adrenalin. Noradrenalin sorgt dafür, dass der Blutdruck steigt und der Pulsschlag etwas schneller wird – plötzlich fühlen Sie sich lebendig. In den höher gelegenen Zentren des Gehirns beschleunigen sich Wahrnehmung und Denken. Der Körper macht sich bereit zu reagieren, Gefühle melden sich. Wenn der Reiz nicht bedrohlich ist, gelangt nur relativ wenig Noradrenalin in die Nervenbahnen – wohlige Anregung breitet sich aus, auch ein leichtes Kribbeln der Spannung. Nur wenn die Neuigkeit gefährlich erscheint, wird eine große Dosis Noradrenalin freigesetzt, sodass die Reaktion in Stress und Furcht umschlägt.
Doch die wenigsten Anlässe im geordneten Alltag von heute geben Anlass zu Angst. Wir werden mit Reizen bombardiert, die ein bisschen aufregend, doch alles andere als bedrohlich sind. Vielmehr liegt in den meisten Ablenkungen sogar ein kleines Versprechen: Das Klingeln des Handys könnte den Anruf eines Freundes bedeuten; die E-Mail eine Einladung auf eine Party; und selbst die Bilder auf dem Werbemonitor in der U‑Bahn verheißen ein etwas besseres Leben.
Da die Aufmerksamkeit sich selbst steuert, ist es schwer, solche Signale willentlich zu missachten. Aber vielleicht würden wir es auch gar nicht wollen. Ob ein unbekanntes Gesicht oder auch nur eine gerade eintreffende SMS – jede neue Information, die das Bewusstsein erreicht, bewirkt einen kleinen, schönen Flash. Der Effekt ist tatsächlich mit dem einer Droge vergleichbar; Substanzen wie Nikotin und vor allem Kokain wirken auf dieselben Nervenbahnen ein.
Und mit jedem Reiz, der Aufmerksamkeit fordert, steigt das allgemeine Erregungsniveau. „Sie leben Ihr Leben in einer Aufregung, die Ihre Vorfahren nur in der Schlacht kannten“, schreibt der amerikanische Autor Mark Helprin. In einem Zustand ständiger Stimulation fühlen wir uns lebendig: Wir haben guten Grund, das verfluchte Tempo, in dem wir leben, zu lieben.
Seite 4: Konzentration unmöglich
Doch je mehr die Erregung zunimmt, umso schlechter können wir
uns konzentrieren. Das vom blauen Kern ausgehende Neuronennetzwerk,
das uns rege macht, kann nämlich die höheren Funktionen der
Aufmerksamkeit hemmen: Es verhindert, dass wir Störungen
ausblenden. Dann ist es kaum mehr möglich, zwischen wichtig und
unwichtig zu unterscheiden; wahllos fliegt das Bewusstsein auf
jeden neuen Reiz. Einst war eine solche Blockade höchst sinnvoll.
Für den Steppenbewohner, der ein bedrohliches, unbekanntes Geräusch
hört, wäre ein Filter der Wahrnehmung ein lebensgefährlicher Luxus.
Er ist darauf angewiesen, dass jede neue Entwicklung im Gebüsch
sofort sein Bewusstsein erreicht.
Heute freilich wirkt die Selbstabschaltung der Filter fatal. Gerade
diese Funktion der Aufmerksamkeit, die wir angesichts der Reizfülle
am dringendsten bräuchten, bricht als erste zusammen. Die Filter
der Wahrnehmung beginnen durchlässig zu werden, immer mehr
Stimulation erreicht das Bewusstsein, immer häufiger springt die
Aufmerksamkeit zum nächsten Signal. Dies erhöht nun erst recht die
Erregung und schwächt die Filter – eine Abwärtsspirale.
Die ganz normalen Folgen der Überflutung hat die kalifornische Arbeitswissenschaftlerin Gloria Mark dokumentiert. Sie zeichnete auf, wie oft Angestellte in Softwarefirmen von einer Tätigkeit zur nächsten wechselten, sich also beispielsweise von der Lektüre eines Schriftstücks abwandten, um ein wenig im Internet zu surfen. Dies war in der Regel 20 Mal pro Stunde und öfter der Fall: Den Mitarbeitern gelang es nicht, sich länger als durchschnittlich drei Minuten mit einer Angelegenheit zu befassen! Da hilft auch nicht der oft gegebene Rat, „Multitasking“ zu üben, weil das Gehirn zu jeder Zeit nur eine bewusste Tätigkeit ausführen kann. Wer trotzdem versucht, beim Telefonieren eine E-Mail zu beantworten, springt in Wirklichkeit mit seiner Aufmerksamkeit unablässig hin und her. Dabei vergeht in der Summe mehr Zeit, als wenn man beide Tätigkeiten nacheinander ausgeführt hätte, und es häufen sich Fehler.
Je löcheriger die Filter der Aufmerksamkeit werden, umso weniger können wir den selbst gewählten Vorhaben folgen. Deswegen fällt es in einer Welt voller Reize so schwer, nach dem eigenen Rhythmus zu leben. Was ringsum geschieht, nötigt uns seinen Takt auf. Wir folgen den Ereignissen der Außenwelt wie ein dressiertes Hündchen der Glocke: Man saust den ganzen Tag von Termin zu Termin, bekommt einen Kick nach dem anderen. Fragt man sich allerdings abends, was eigentlich die Stunden von früh bis spät so sehr ausgefüllt hat, stellt sich ein schales Gefühl ein: Keinen einzigen Eindruck von nennenswerter Bedeutung hat man erlebt, sondern vor allem die Geschwindigkeit selbst.
So ähnelt nicht nur das Hochgefühl, sondern auch der Nachgeschmack dem einer Droge. Rauschmittel versetzen das Gehirn auf chemischem Weg in einen Ausnahmezustand. Was genau ringsum geschieht, wird uninteressant; es zählt nur noch die starke Empfindung. Ein Hochgeschwindigkeitstag wirkt so ähnlich.
Und wie Süchtige haben wir nicht nur unsere Leistungsfähigkeit, sondern auch, weit schlimmer, die Freiheit der Selbstkontrolle verloren. Diese Erfahrung macht uns heute zu schaffen – nicht etwa ein Mangel an verfügbarer Zeit, auch nicht die oft und schwammig beklagte Beschleunigung der Welt. Das Drama findet vielmehr in unseren Köpfen statt. Eine mit verheißungsvollen Angeboten überladene Umgebung stellt uns eine Aufgabe, für die wir nicht gemacht sind: Es gilt auszuwählen – und zu verzichten.
Die üblichen Rezepte der Zeitplanung greifen denn auch viel zu kurz: Gute Vorsätze sind machtlos gegen die automatische Steuerung der Aufmerksamkeit. Wer es neben sich knallen hört, wird aufsehen – ob es auf der To-do-Liste steht oder nicht. Und doch sind wir den Ablenkungen keineswegs ausgeliefert. Denn zum einen lässt sich die Konzentrationsfähigkeit wie ein Muskel trainieren. Zum anderen folgt die Aufmerksamkeit zwar selten unseren schönen Absichten, sehr wohl aber tieferen, oft verborgenen Motivationen. Diese Antriebe, einmal bewusst gemacht, wirken nämlich wie ein Gegengewicht zu den Verlockungen des Augenblicks. So stellen uns Smartphone und Co und die Explosion der Möglichkeiten in unserem Leben vor die überraschende Herausforderung, uns selbst kennenzulernen. Im Takt der sich vollziehenden technischen Revolution bestehen wird nur, wer um seine tiefsten Wünsche und Sehnsüchte weiß.
Goethe übrigens kam mit der von ihm selbst bemängelten
Schnelligkeit seiner Epoche bestens zurecht. In „Dichtung und
Wahrheit“ bekennt er:
„Da man immer Zeit genug hat, wenn man sie gut anwenden will,
so gelang mir mitunter das Doppelte und Dreifache.“ Denn: „Die Zeit
ist unendlich lang und ein jeder Tag ein Gefäß, in das sich sehr
viel eingießen lässt, wenn man es wirklich ausfüllen
will.“
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