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(picture alliance) Haben wir die Fähigkeit verloren, bei einer Sache zu bleiben?

ADHS-Kultur - Nervosität als Sucht

Lange Zeit galten Ablenkbarkeit und Zerstreuung durch eigene unsortierte Gedanken als unabdingbar für den kreativen Prozess. Inzwischen sind sie bloß noch zwanghaft zu nennen. In seinem Buch „Hyperaktiv!“ übt Christoph Türcke Kritik an der ADHS-Kultur

Mittlerweile gibt es einen ganzen Katalog von Anwendungen und Computerprogrammen, die im Zeitalter des Internet ein konzentriertes Arbeiten ermöglichen sollen. Sie tragen sprechende Namen wie «Freedom», «Anti- Social», «Cold Turkey», «LeechBlock» oder «Self-Control», und sie blockieren für einen bestimmten Zeitraum den Zugang zu Facebook, Youtube und Twitter oder gehen gleich ganz offline. Damit soll eine unserer Lieblingsbeschäftigungen verhindert werden: das ziellose Abschweifen. Lange Zeit galten Ablenkbarkeit und Zerstreuung durch eigene unsortierte Gedanken als unabdingbar für den kreativen Prozess. Inzwischen aber, so der Leipziger Philosoph Christoph Türcke, seien sie bloß noch zwanghaft zu nennen. In der «konzentrierten Zerstreuung» erkennt Türcke ein Kernproblem unserer Kultur: Wir haben die Fähigkeit verloren, bei einer Sache zu bleiben.

Wie andere Philosophen, etwa Byung Chul Han («Müdigkeitsgesellschaft ») oder Christoph Menke und Juliane Rebentisch («Kreation und Depression»), untersucht Türcke ein neuronales Krankheitsbild als Symptom eines Gesellschaftszustands. Er geht davon aus, dass ein Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen die Struktur und Ökonomie der Aufmerksamkeit radikal verändert. Unsere fragmentarisierte Wahrnehmung bringe das über Jahrtausende erlernte kulturelle Gut der Aufmerksamkeit zum Verschwinden. Betroffen seien aber auch die Kinder, deren Aufmerksamkeit zwischen Personen und Bildmaschinen hin- und hergerissen sei. Der Bildschirm trete als «ein Drittes zwischen Mutter und Kind». Immer mehr Kindern wird eine Aufmerksamkeitsdefizits- oder Hyperaktivitätsstörung diagnostiziert, in deren Folge sie mit Methylphenidat (Ritalin) oder anderen amphetaminähnlichen Stimulanzien behandelt werden. Der Verbrauch solcher Medikamente hat sich seit Ende der neunziger Jahre verzehnfacht. Die Pillen sollen Phasen der Ruhe ermöglichen, aus denen neues Selbstvertrauen und Kraft geschöpft werden können.

Auch hat sich herumgesprochen, dass Ritalin bei Gesunden als «Hirndoping » funktioniert, wobei Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit, Herzrasen und Blutdrucksteigerungen in Kauf genommen werden. Seit Ritalin in den siebziger Jahren auf den Markt kam, wird von ADHS stets in Verbindung mit dem Nutzen dieses Medikaments gesprochen – ein Wechselspiel zwischen Medikation und Erkrankung. So als der Piraten-Partei-Abgeordnete Christopher Lauer jüngst mitteilte, selbst von der Krankheit betroffen zu sein («Ich habe ADHS – und das ist auch gut so») und zugleich die Wirkung von Ritalin lobte. Auch hob er die Vorteile des für ADHS-typischen «nichtlinearen, asynchronen Denkens» hervor; dieses sei eine Bereicherung für alle.

Christoph Türcke behauptet, das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sei keine Krankheit in gesunder Umgebung, vielmehr seien die Kinder bereits das Produkt einer ganzen ADHS-Kultur. Und alles, so befürchtet der Philosoph, werde künftig noch viel schlimmer kommen. Weil das uns alle angehe, schlägt er vor, als Alternative zu Ritalin ein neues Schulfach einzurichten, dessen Wirkung mindestens ebenso deeskalierend und beruhigend sein könnte: «Ritualkunde». Was sind schließlich Rituale anderes als geronnene Wiederholungen? Und die seien nun einmal – Türcke schlägt hier einen kulturtheoretischen Bogen von Opfertheorien bis zum Freud‘schen Wiederholungszwang – die Bedingung dafür gewesen, dass sich so etwas wie Aufmerksamkeit überhaupt habe herausbilden können.

Um der Abstumpfung der Aufmerksamkeit durch «schockartig funktionierende Bildmaschinen» entgegenzuwirken, sollen Wiederholungskulturen einübt werden. Dazu gehört etwa die Rückbesinnung auf Märchen, als «unersetzliche Wegbahner kindlichen Lernens», musische Erziehung und Bibelkunde. Türckes Fantasiefach ist zwischen Politik, Sozialkunde, Ethik und Religionsunterricht angesiedelt und ähnelt in seinen Grundzügen der Waldorfpädagogik.

Dies ist ein gut lesbares Buch, das durch eine genauere Beschreibung unseres Verhältnisses zu den Neuen Medien aber noch sehr gewonnen hätte. Türcke bringt archaische Rituale gegen neue Technologie und Bildmaschinen in Stellung. Dabei übersieht er aber, wie sehr unser ganz alltäglicher Umgang, etwa mit einem iPhone, gerade diesen archaischen Ritual- Praktiken ähnelt. Geräte scheinen uns längst angewachsen zu sein wie Körperprothesen – auch behandeln wir sie, als hätten sie eine Seele. Psychologen sorgen sich bereits um die steigende Anzahl von Menschen, die auch in absoluter Stille andauernd Klingeltöne und Vibrationsalarme halluzinieren. Oder die noch junge Kultur des kollektiven Fernsehserien-Konsums, der ein hochdifferenziertes Gespräch in Gang setzt und keineswegs zur Massenproduktion vereinsamter Nerds führt. Türcke mahnt Wiederholungskulturen an, spart solche interessanten Phänomene in seiner technologiefeindlichen Analyse aber aus. Dennoch trifft er den Kern einer Entwicklung, der man nicht mit Aufmerksamkeitsdefiziten begegnen sollte.

Christoph Türcke: Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur
C.H. Beck, München 2012
123 S., 9,95 €

 

 

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