- In den Untiefen der Netzpolitik
Irgendwann muss sich der junge Mann vom Chaos Computer Club über Twitter Luft machen: Netzpolitik ist ein Unwort, er kann davon langsam nichts mehr hören. Was passiert da eigentlich im Politikbetrieb, seit die Piraten das Thema auf magische Weise eingenommen haben?
Alle reden darüber, keiner will sich den Vorwurf der Altbackenheit gefallen lassen. Zwischen Piratentüchern und Flüssigdemokratie wird Netzpolitik wie eine Offenbarung in die Politik getragen. Als großes Novum, der unverbrauchte Star unter den Gebrechlichen. Mit Netzpolitik gegen die Verdrossenheit. Aber was ist eigentlich Netzpolitik? Die Experten tun sich schwer damit, hier klare Worte anzubieten. „Netzpolitik ist eine Querschnittsaufgabe“, sagt der netzpolitische Sprecher der Grünen im Bundesvorstand, Malte Spitz. „Ein Begriff des Übergangs“, sagt Jonas Westphal. Als Sprecher der Berliner SPD hat er sich dem Themenbereich an der sozialdemokratischen Basis angenommen, seit gestern ist Netzpolitik in der Hauptstadt sogar Senatssache.
Zwei Antworten, die in ihrer Ideenlosigkeit Bände sprechen. Das hat verschiedene Gründe. Einerseits versuchen SPD und Grüne nach dem Erdrutschsieg der Piratenpartei in Berlin mit Verbissenheit ein wenig von der bundesweiten Aufmerksamkeit für Netzthemen abzuschöpfen. Die Grünen müssen, weil sie als Netzpartei den Anschluss verloren haben, ihnen zehntausende Wähler abhanden kamen. Die SPD muss, weil der Druck von der Parteibasis gegen die Realos in der Bundestagsfraktion und deren Kuschelkurs mit der Vorratsdatenspeicherung zunimmt. Andererseits scheint es, als würde sich Netzpolitik der parteipolitischen Aufladung entziehen. Niemand möchte den Zorn der Netzgemeinde spüren, an deren politischer Kollektivmacht wohl kein Zweifel mehr besteht. Und neben der Piratenpartei und ihrer Straßenglaubwürdigkeit wirken jetzt alle anderen Akteure wie Trittbrettfahrer.
Die Bedrohung durch das Netz ist eine Wahrnehmungsfrage, die Hysterie über den Orwell’schen Überwachungsapparat im Schafspelz für die meisten Menschen nicht handgreiflich. Nur Paranoia, winken sie ab, ist doch alles harmlos. Einfache Psychologie. Wenn die Politik das Netz verhandelt, überschatten Angst und Zweifel den persönlichen Lebensraum Internet. Facebook und Schmuddelbilder teilen sich eine Leitung. So wird negative Aufmerksamkeit erzeugt, die politische Debatte über Netzthemen hätte einen positiven Dreh dringend nötig. Zugegeben, welche Vorgänge ein Mausklick auslöst, bleibt den Nutzern verborgen. Die Konsequenzen des Handelns sind im Netz verschlüsselt, versteckt, virtuell.
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Schon die gedankliche Trennung des Privaten ist im Netz ebenso Illusion wie im Leben da draußen. Wer sich im Netz bewegt, ist zugleich subversives Element, Gutbürger, Wutbürger, Anonymous und Global Player – es besteht Handlungsbedarf. Wie aber diese einzigartige Konstruktion einer interessengesteuerten Anarchie zur Parteisache umwandeln? Ohne billige Abwehrreflexe geht es bislang nicht, Netzpolitik beschränkt sich auf das Auslösen sicherer Reaktionen durch sichere Reizwörter. Auf Vorratsdaten verzichten hieße, Sexualstraftäter und Djihadisten durchs Netz rutschen lassen, raunen die Konservativen. Das Internet müsse gezielt gesperrt werden, der nationale Raum von Kinderpornokartellen abgeschirmt werden. Ein billiger Mechanismus – Gefahren verorten, externalisieren, Lösungen anbieten. Den Teufel an die Wand malen.
An mutigen Gesamtkonzepten mangelt es allen Orts, zu viel Kleinteiliges liegt im Weg. Anfang Dezember kippte der Bundestag die mühsam diskutierten Netzsperren, ein Produkt vergeblicher Liebesmüh. Sogar die CDU kippte mit, aus ihren Reihen forderte Ursula von der Leyen die Sperren gegen „ausländische“ Kinderpornografie ehedem am lautesten. Dieses gefühlte einzige Politikum der Netzpolitik ist überstanden, jetzt dürfen die jungen Wilden der Piratenpartei endlich an die Substanz gehen. Allein – sie wollen nicht so recht, widmen sich profilgebenden Großprojekten wie dem bedingungslosen Grundeinkommen, bestellen mehr und mehr klassische Politikfelder.
Und was machen die alten Parteien nach der Stunde Null, nach der Breitseite von den Piraten? Jonas Westphal erklärt das Freie Internet für alle zur parteipolitisch notwendigen Forderung der SPD. Einen Breitbandzugang zum Grundrecht machen, wie geht das mit wirtschaftlichen Interessen zusammen? „Die Frage ist nicht ob, sondern wie. Wenn der Markt nicht will, muss man ihm helfen.“ Bei einem durchschnittlichen Monatspreis von 20 € pro Flatrate würde das Freie Internet den Fiskus jedes Jahr 12 Milliarden Euro kosten. Einen Thinktank für digitalen Fortschritt leistet sich die SPD schon heute. Titel D64. Der Name klingt nach Nintendo, wie ein bemühter Versuch, bei den Nerds auf dicke Hose zu machen. Vorstandsvorsitzender Mathias Richel ist folgerichtig Werbefachmann und hat keine weiteren Meriten vorzuweisen. Unter den Mitgliedern sind etliche Vertreter von Netzunternehmen. Vorhersehbar, dass D64 viel Spott auf sich ziehen würde.
Sogar Westphal muss einräumen: „Ich vermisse die Zivilgesellschaft. Ich vermisse die Nichtregierungs-organisationen“. Wie die Idee zu D64 entstand, kann er nicht beantworten. Jedenfalls nicht an der netzpolitisch engagierten Parteibasis.
Enttäuschung und Resignation bei den jungen Sozialdemokraten. Auf dem Parteitag zerschmetterte das sozialdemokratische Establishment alle Anträge gegen die Vorratsdatenspeicherung. Die Position der SPD in dieser Sache bleibt wankelmütig. Mal sollen die Verlaufsdaten der Telefonanbieter über ein Jahr gespeichert werden, dann wieder nur eine Woche. Oder nur dann, wenn Gefahr im Verzug ist. Das heißt dann Quick Freeze. Ein weiterer netzpolitischer Gesprächskreis der SPD befürwortet den Vorschlag der Union, nur die IP-Adressen auf Zeit zu speichern: VDS light+. Die Verwirrung ist komplett. Während oben um die richtige Variante gerungen wird, bleibt die kategorische Ablehnung jeder Vorratsdatenspeicherung ein frommer Wunsch der Gruppe um Westphal. Er ist aber zuversichtlich, dass dieser Wunsch irgendwann in Erfüllung gehen wird. „Vorratsdatenspeicherung ist mit dem sozialdemokratischen Freiheitsbegriff nicht vereinbar. Das hat noch nicht jeder verstanden.“
Die Chefetage der SPD hat „Netzpolitik“ seit dem Bundesparteitag 2009 irgendwie auf dem Zettel. Sigmar Gabriel und Olaf Scholz überraschen sich und ihre Zuhörer mit einem lockeren Neusprech von Open Data und Netzneutralität, wollen die Basis in dieser Sache „am Dialog beteiligen“. Ungeschicktes Buzzword-Dropping? Westphal ist stolz darauf, dass der netzpolitische Antrag seiner Gruppe mit Hilfe der freien Abstimmungssoftware AdHocracy entstanden ist, ähnlich wie bei den Piraten. Das nun verabschiedete Thesenpapier zur digitalen Gesellschaft sei aber „noch nicht rund“, erklärt Westphal. Und resigniert: „Vor den Bundestagswahlen 2013 wird Netzpolitik leider top-down verhandelt“.
Lässt sich dem globalen Problemkind Internet nach Jahren der Laissez–fair-Erziehung noch eine Parteiideologie überstülpen? Der grüne Netzpolitiker Malte Spitz hält davon nichts: „Wir haben früh Farbe bekannt, denken Netzpolitik aber nicht als eingefärbtes Politikfeld.“ Urheberrecht müsse man mindestens auf europäischer, wenn nicht gleich auf globaler Ebene diskutieren. Aber schon auf europäischer Ebene ist das Kompetenzgerangel groß, eine globale Netzpolitik momentan undenkbar.
Sie müsste zwischen den mächtigen Filmlobbys der USA, deutscher Netzorthodoxie und den Staatszensoren aus China und arabischer Liga vermitteln. Ergebnisse im Dialog der sogenannten Multi-Stakeholder liegen in weiter Ferne. Dennoch – wenn Spitz von Internet Governance redet, wirkt das nicht wie ein Lippenbekenntnis. Er hat das große Ganze vor Augen, während die Sozialdemokraten sich um eine chancenorientierte Netzpolitik herumdrücken.
„Die Grünen können uns gefährlich werden“, heißt es an der Spitze der Piratenpartei. Laut Infratest Dimap wanderten beim überragenden Wahlerfolg der Piraten in Berlin bis zu 16.000 Grünen-Wähler zur Netzpartei ab. Zahlreiche Piraten der ersten Stunde tun ihre Interessen wiederum jetzt bei den Grünen kund, sie sind unversöhnlich mit der neuen politischen Ausrichtung der Piraten, der neuen Kernthematik um das bedingungslose Grundeinkommen. „Wir haben zahlreiche Parteieintritte von ehemaligen Aktiven der Piratenpartei bei den Grünen“, erklärt Spitz. „Sie waren mit der Diskussionskultur und den internen Strukturen dort unzufrieden.“
Westphal sieht ein „eklatantes Glaubwürdigkeitsproblem“ bei den Grünen. In der Debatte um die Sanktionierung von Urheberrechtsverstößen äußerte die kulturpolitische Sprecherin Agnes Krumwiede gegenüber „Börsenblatt“, sie halte “das Modell eines minimalinvasiven Warnsystems und Kostenbefreiung bei den ersten beiden Abmahnungen „für eine denkbare Lösung“. „Diese Forderung ist jenseits von Gut und Böse“, so Westphal. Minimalinvasion hieße, den Internetzugang der Wiederholungstäter zu beschränken, die konkrete Ausgestaltung dieser Beschränkung bleibt Krumwiede schuldig.
Krumwiedes Position liegt keinesfalls auf der Parteilinie – die grüne Antwort auf alle Urheberrechtsfragen heißt Kulturflatrate. Würde jeder Internetnutzer in Deutschland nicht nur den Anschluss, sondern die Inhalte mit einer Flatrate bezahlen, so hätte der Bund genügend Geld in der Kasse, um das hausgemachte Problem mit der deutschen Urheberrechtsgesellschaft GEMA zu lösen, illegale Downloads abzufedern und Kulturschaffende zu entlohnen. Allein in der EU beträgt der Schaden durch Filesharing jedes Jahr über 150 Milliarden Euro. Um diese Summe aufzubringen, müssten auch unbescholtene Nutzer dafür geradestehen.
Ein Glaubwürdigkeitsproblem haben die Grünen wegen Leuten wie Krumwiede nicht, sie befinden sich lediglich mal wieder im grünen Dilemma zwischen Utopie und Realpolitik.
Am Ende des Gesprächs schiebt Westphal noch eine wichtige Schnittstelle für rasches Politikverständnis nach: Bahnfahren. Das geht immer, alle lieben digitale Anzeigetafeln an Bahnhöfen. In Zukunft könnte man auf ihnen auch Informationen über das Fahrgastaufkommen lesen. Verkehrsdaten und überhaupt alle nichtpersonenbezogenen Daten sollen verfügbar sein. Über das Konzept Open Data herrscht aber leider parteiübergreifender Konsens, das ist beschlossene Sache. Netzpolitik ist eben „Querschnittsmaterie“, ein Verlegenheitsbegriff. Unter ihm wird vieles subsumiert, dass eigentlich nicht in die Parlamente gehört.
Markus Beckedahl, Betreiber des deutschen Quasi-Zentralorgans netzpolitik.org, schlägt den alternativen Begriff der „digitalen Gesellschaft“ vor. Er hat einen gleichnamigen Verein gegründet, der im Netz eine Menge Zuspruch findet. Das Wörtchen Politik kommt in diesem Begriff nicht vor, wird zur nachgelagerten Instanz, deren Auftrag es ist, einer Gesellschaft zu dienen, an deren Beginn die simple Feststellung steht, dass die alte bald nicht mehr sein wird. Netzpolitik, das Unwort, darf sich jetzt erst mal erholen und neue Kräfte sammeln.
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