- Das fremde Kind, das ich kenne
Trotz NSA-Skandal und Datenüberwachung: Eine neue Generation von Bloggerinnen präsentiert das Leben ihrer Kinder im Internet - vom ersten Ultraschallbild an. Cicero-Autorin Lena Bergmann über eine Begegnung auf einem New Yorker Spielplatz
New York, im September 2012. Meine Tochter schaukelt. Noch. Lange wird sie nicht mehr durch die Luft wirbeln können, denn auf dem Spielplatz im West Village ist viel los. Die Kleinkinder stehen mit ihren Müttern und Nannies Schlange. Wir werden erwartungsvoll angeschaut.
Ein Junge scheint sich nicht für die Schaukeln zu interessieren. Auch nicht für das Klettergerüst. Abseits und selbstvergessen steht er da, mit dem Rücken zu mir, ich sehe einen dichten dunklen Haarschopf, einen Kapuzenpulli und ein grinsendes Affengesicht auf seinem Rucksack. Als er sich zur Seite dreht, erkenne ich den Jungen. Unfassbar. Aber er ist es. Toby.
Erschrocken mustere ich die großen braunen Augen und die vollen Lippen im runden Gesicht, aus dem ich schon von Geburt an beide Eltern herauslesen konnte. Mir fällt ein, dass seine Babysitterin Naudia ihm den Affenrucksack geschenkt hat, für den ersten Tag in der Spielgruppe, das muss im Juli gewesen sein. Am liebsten würde ich das voll beladene Ding jetzt von den kleinen Schultern ziehen. Ich kann doch nicht zulassen, dass er so schwer trägt.
Toby schiebt sich etwas aus einer durchsichtigen Tüte in den Mund, wahrscheinlich „Honey Nut Loops“ von Kellogg’s, die mag er besonders. Seine Mutter versucht manchmal vergeblich, ihm die Variante ohne Zucker unterzujubeln. Aber Kinder merken so etwas sofort. Toby wirkt reifer als meine Tochter. Doch ich weiß ja, dass er elf Tage jünger ist. Am 25. Mai hat er Geburtstag. Seine Geburt vor zweieinhalb Jahren verlief ohne Komplikationen, obwohl seine Mutter die Wehen erst ignorierte und dann fürchten musste, ihr Sohn würde im Taxi zur Welt kommen.
Ich weiß das alles. Jedes Detail. Obwohl ich weder ihn noch seine Mutter je gesprochen habe. Obwohl die beiden nicht wissen können, wer ich bin. Sie wissen ja nicht mal, dass es mich gibt.
Da hinten, auf der Bank, das könnte Naudia sein, die Babysitterin. Sie betreut ihn montags und dienstags, bis nachmittags um vier. Andererseits ist vier Uhr lange vorbei, insofern müsste seine Mutter hier irgendwo sein. Mir fällt ein, dass sie die späten Nachmittage oft mit Toby auf dem „Bleecker Playground“ verbringt, sie genießt diese Stunden mit dem Sohn.
Ich suche also eine zierliche Frau mit langem, dunklem Pferdeschwanz, Brille und Lippenstift. Oder ist Toby mit seinem Vater hier? Mir ist mittlerweile klar: Meine Tochter und ich müssen auf unserem Spaziergang durch das West Village auf Tobys Stammspielplatz gelandet sein. Er wohnt ja auch um die Ecke. Ich glaube, in der West 11th Street. Ob ich das Haus mit der Feuerleiter von der Straße aus erkennen würde? Immerhin weiß ich, wie es von innen aussieht. Wenig Platz. Das Gästebett, in dem manchmal die Oma mütterlicherseits übernachtet, steht deswegen auch im Kinderzimmer. Es sieht recht gemütlich aus, seit es renoviert wurde. Wann war das noch mal? Auf jeden Fall erst nach Tobys Geburt. Am Anfang hat er noch bei seinen Eltern im Bett geschlafen. Inzwischen hängt über seinem weißen Gitterbett ein antikes Mobile mit Schiffchen. So etwas wollte ich auch für unser Kinderzimmer, habe aber in Berlin nichts Vergleichbares gefunden. Toby schläft durch, derzeit bis sechs Uhr morgens, meist ohne Decke, das Hinterteil in die Luft gestreckt.
Von Berlin aus habe ich das Leben dieses Jungen und seiner Familie beobachtet. Es fühlt sich an, als hätte ich daran teilgenommen. Seine Mutter hat ihr Leben und das ihres Kindes unter joannagoddard.blogspot.com ins Netz gestellt: Lieblingstier, Lieblingsbuch, Lieblingsschlaflied. Erster Schritt, erster Zahn, erster Toilettenbesuch.
Selbst über die Kinder guter Freunde weiß ich nicht annähernd so viel. Noch nie habe ich von einem Kind so viele Bilder gesehen, Toby beim Baden, beim Schlafen, beim Weinen und mit frischer Naht am Knie, nachdem er zu wild getobt hatte. Würde ich alle Bilder, die ich im Laufe der Jahre von Toby gesehen habe, in Fotoalben kleben, wären das vermutlich mehr als die von zwei Generationen meiner eigenen Familie.
Trotz all dieser Einblicke ist Toby für mich aber immer eine Internetfigur geblieben. Ein Protagonist auf meinem Bildschirm. Jetzt steht er vor mir auf dem Spielplatz. Ein Fremder, den ich kenne.
Vor fünf Jahren fing ich an, in meinem Berliner Büro regelmäßig den Blog seiner Mutter zu lesen. Damals war ich Redakteurin bei einem Wohnmagazin und schrieb über Einrichtungsstile. Recherchen im Internet gehörten zu meiner Arbeit. Irgendwann landete ich zufällig auf „A Cup of Jo“. Dort schrieb Joanna Goddard über Dates, Klamotten und Lippenstiftfarben. Aber auch über Bücher, Fernsehserien und perfekte Wochenenden in Upstate New York. Durch sie erfuhr ich, wann es im Winter in New York zum ersten Mal schneite, inwelchem Café man am besten in Ruhe am Laptop arbeiten konnte und wen Don Draper in „Mad Men“ am Vorabend rauchend flachgelegt hatte. Joanna postete auch Entdeckungen aus anderen Blogs. Ein wenig wie das deutsche Kultur-Portal „Perlentaucher“, nur eben für Lifestyle- und Frauenthemen. Besser als die redaktionellen Inhalte der deutschen Frauenmagazine waren die Einträge und Tipps auf ihrem Blog allemal. Es half, dass man beim Lesen in ein angenehmes Layout mit guten Bildern eintauchte.
Wie ich selbst, war Joanna Goddard früher Redakteurin, zunächst festangestellt bei einem Magazin, dann freiberuflich. Sie wurstelte sich durch die Branche, entwickelte Magazine, schrieb Kolumnen, beriet Firmen in Marketingfragen. Parallel zu dieser eher zufälligen Mischung aus Tätigkeiten, berufliche Laufbahn prägten, startete sie 2007 ihren Blog „A Cup of Jo“. Ihr erster Eintrag zum Jahresbeginn: Ihr Geständnis, sie habe Silvester in New York alleine verbracht. Die Offenheit war mir sympathisch.
Nachdem ich den Blog entdeckt hatte, wurde Joanna Goddard zu einer Art New Yorker Freundin, bei der ich täglich vorbeischaute. Im Englischen gibt es den Begriff „guilty pleasure“ – ein Vergnügen, das von Schuldgefühlen begleitet wird. Joanna Goddards Blog war ein tägliches Vergnügen, für das ich mich aber schämte – wie wenn man beim Zahnarzt in der Gala blättert und dabei nicht ertappt werden will.
Vor allem stillte der Blog meine permanente New-York-Sehnsucht mit Beiträgen über Orte, die ich kannte. Ich merkte: Nicht nur unsere Jobs in der Magazinbranche hatten Joanna und ich gemeinsam, denn mittlerweile ist Joanna an Silvester nicht mehr alleine – sie hat sich verliebt, verlobt und verheiratet. Auch ich habe mich verliebt, verlobt und verheiratet. Unsere Männer haben sogar denselben Vornamen. Und den gleichen Beruf. Den gleichen Bart auch. Im Wallsé im West Village, unserem romantischen Lieblingsrestaurant, waren Joanna und ihr Mann am Abend ihrer Verlobung. All das habe ich von meinem Berliner Bürostuhl aus verfolgt.
Dann, im September 2009, wurde ich zum ersten Mal schwanger. Direkt danach verkündete auch Joanna Goddard per Blog ihre Schwangerschaft. Mir ging es am Anfang ziemlich mies. Einmal habe ich mich im Büro heimlich zum Schlafen unter den Schreibtisch gelegt. Joanna ging es blendend. Ich hatte keine Lust auf Fachliteratur, sie las alles. Ich selbst hatte keine Mutter mehr, die ich hätte fragen können, Joanna befragte die ihre und teilte deren Weisheiten mit ihren Leserinnen. Am 9. Januar 2010 postete sie das erste Ultraschallbild ihres Sohnes. Elf Tage nach meiner Tochter kam Toby zur Welt.
Joanna empfahl auf ihrem Blog biologische Babyprodukte. Nun war sie eine Art Streberfreundin, deren Präsenz mich irgendwie beruhigte.
Längst sind auch andere Frauen fasziniert vom Alltag Joanna Goddards. Über fünf Millionen monatliche Klicks erhält ihr Blog. Das Magazin Forbes nannte „A Cup of Jo“ eine der „Top 10 Lifestyle Websites amerikanisches Frauenmagazin, schrieb: „Der Blog, den die komplette Mode- und Schönheitsindustrie liest“. Selbst Martha Stewart, Königin der Häuslichkeit, lobte: „Wir alle lieben Joanna für ihre Sag-es-wie-es-ist-Einträge über die Mutterschaft.“
Joanna Goddard gehört zu den erfolgreichsten Vertreterinnen einer neuen Bloggergeneration, die das tägliche Erleben der Mutterschaft im Internet miteinander teilt. Längst haben Mütter in europäischen Großstädten nachgezogen: Die eine schreibt von Amsterdam aus über Babymassagen für Neugeborene, die andere postet aus London eine Bastelanleitung für Girlanden, Hunderte von Leserinnen loben und verbreiten diese weiter. Wenn eine ehemalige Führungskraft des US State Department im Intellektuellen-Heft The Atlantic erklärt, warum sie den Kindern zuliebe den Traumjob augegeben hat, folgen die Blogkommentare wie der Donner auf den Blitz. Viele der Bloggerinnen sind Hausfrauen und zelebrieren die selbst gewählte Häuslichkeit – inzwischen kursiert in der Szene der Begriff „Feminist Housewife“. Zur Darstellung dieser neuen Häuslichkeit werden Tausende von Bildern gemacht, die eigenen Kinder dokumentieren darauf das heimisch familiäre Glück. Dafür interessieren sich wiederum die Marketingabteilungen von Babynahrungsherstellern, Spielzeugmanufakturen, Kinderkleidungs- und Möbelproduzenten.
Aber auch Pädophile nutzen die Seiten. Nach der Begegnung auf dem Spielplatz habe ich ein wenig recherchiert. Die Diplom-Psychologin Laura F. Kuhle vom Zentrum für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Berliner Charité weiß aus der klinischen Arbeit mit pädophilen Männern, dass nicht nur explizite Missbrauchsabbildungen zur Erregung genutzt werden. In geschlossenen Netzwerken, die zum Tausch von Kinderpornografie, aber auch zum Tausch von nichtexpliziten Abbildungen genutzt werden, gibt es Kategorisierungen wie „Windelkinder“, „FKK“ oder „schlafende Kinder“. Als Quellen für solche Aufnahmen begegnen Kuhle in diesem Zusammenhang regelmäßig Mütterblogs.
Beate Krafft-Schöning, die im Jahr 2000 die Initiative „NetKids“ gründete, weist darauf hin, dass per Bildmontage regelmäßig die Köpfe „noch unbekannter“ Kinder auf explizte Missbrauchsszenen gesetzt werden, die unter Usern schon die Runde gemacht haben. Sie warnt davor, jegliches Bildmaterial von Kindern im Internet zu verbreiten, und sieht darin sogar eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Kinder durch die eigenen Eltern.
„Immerhin“, sagt Krafft-Schöning, „gibt es inzwischen Richtlinien für Eltern, die einen bewussten Umgang mit dem Internet bewirken und das Navigationsverhalten regulieren. Etwa, wie viel Zeit Kinder entsprechend ihrer Altersgruppe überhaupt im Internet verbringen sollten. Darüber hinaus gibt es Methoden, das Internet durch Sicherungen ‚kinderfreundlich‘ zu machen, indem nur einige ausgewählte
Seiten freigeschaltet werden. Das war vor zehn Jahren noch anders.“ Allerdings gebe es ausgerechnet bei Eltern von Kleinkindern oft kein Problembewusstsein. Erst wenn die Kinder sozialen Netzwerken beitreten wollen, fangen viele Eltern mit dem Nachdenken darüber an, inwieweit sollten. Zu spät, denn: „Was einmal im Netz gelandet ist, kann nicht mehr entfernt werden“, sagt Krafft-Schöning.
Toby, der dreijährige Sohn von Joanna Goddard, wird also immer im Netz bleiben, mit allen Bildern, allen Details. Es werden mehr werden. Ohne seine Mitwirkung würde der Blog seiner Mutter bei den Besucherzahlen einen Einbruch erleben. All das wird mir klar, als ich Toby in New York begegne. Jetzt, wo ich den Jungen aus der Nähe gesehen habe, entsteht eine Distanz. Der Blog, die Bilder, das Produkt ist mir unheimlich, weil Toby gar kein Produkt ist. Sondern echt.
Auf ihrem Blog textet Joanna Goddard in Marketingsprache: „Meine Leserinnen sind enthusiastische, stilsichere Frauen, die Online-Shopping lieben und gerne Neues entdecken.“ Es geht hier nicht mehr um die sympathische Single-Frau, die ihre New-York-Beobachtungen teilt. Es werden unentwegt Produkte empfohlen, aus der Perspektive einer scheinbar perfekten Familie, mit Sätzen wie: „Es hat sich gut auf Tobys Haut angefühlt.“ So gewinnt man Anzeigenkunden.
Joanna sucht nun schon seit einiger Zeit nach einer größeren Wohnung für ihre Familie.
Dieses Detail erzählt sie mir auf dem Spielplatz bei den Schaukeln höchstpersönlich. Nicht mal ansprechen muss ich sie. Sie mag den Hut, den ich trage, und macht mir ein Kompliment. Als ich erwähne, dass ich in Berlin lebe, erzählt sie, dass sie vor der Geburt ihres Sohnes auch mal da war. Dass sie mit ihrem Mann im Tiergarten Fahrrad gefahren ist und Döner gegessen hat. Das weiß ich natürlich alles schon. Aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich erzähle ihr nicht, dass ich ihren Blog lese.
Für diesen Artikel hingegen habe ich angefragt, ob sie Zeit für ein telefonisches Interview habe. Leider nicht, schrieb sie zurück. Sie bereite gerade ihre Mutterschaftspause vor und sei quasi schon auf dem Weg ins Krankenhaus. Toby bekommt die Tage ein Geschwisterchen. Das erste Ultraschallbild steht schon im Netz.
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