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() Wenn der lahme Weber

schreiben: Das Gedicht - Wenn der lahme Weber

von Clemens Brentano. Ausgewählt und kommentiert von Roger Willemsen.

Wenn der lahme Weber träumt, er webe
Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe
Träumt die stumme Nachtigall, sie singe
Daß das Herz des Widerhalls zerspringe
Träumt das blinde Huhn, es zähl’ die Kerne
Und der drei je zählte kaum, die Sterne
Träumt das starre Erz, gar linde tau’ es
Und das Eisenherz, ein Kind vertrau’ es
Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche
Wie der Traube Schüchternheit berausche;
Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen
Führt der hellen Töne Glanzgefunkel
Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel
Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen
Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schalmeien
Der erwachten Nacht ins Herz all schreien;
Weh, ohn’ Opfer gehn die süßen Wunder
Gehn die armen Herzen einsam unter!

 

Lauter Mangelhafte träumen. Der mit dem Schaden aber, die mit dem Verlust, sie träumen reicher. Denn nur wer versehrt ist, kann träumen, komplett zu sein. Clemens Brentano war ein Märtyrer des Mangels. Seine Frau überlebt die Geburt des dritten Kindes nicht, die Geschwister starben früher. Es scheitern seine Kaufmannslehre, die Bühnenautor-Laufbahn, die zweite Ehe, und endlich stirbt der Mann, der die Visionsprotokolle einer stigmatisierten Nonne erstellt, doch gleichwohl den Ruf eines Satanisten erworben hatte, tief schwermütig in Aschaffenburg.

1838, vier Jahre vor seinem Tod, schwingt er sich zu einer biblischen Wundergeschichte auf, gefasst als Kinder-Phantasie. Alles heilt die Traum-Realität. Hier spielen die Verse Musik, hier werden Erz und Traube, Wahrheit und Nüchternheit menschlich, hier triumphiert die Unvernunft gegen die Rationalität und erlaubt sich selbst Nonsens. Dass es so ist, adelt den Mangel. Wann wäre trauriger und kühner von der Geburt der Poesie aus dem Geist der Entbehrung fabuliert worden?  Roger Willemsen

 

Clemens Brentano
Gedichte
Reclam, Ditzingen 1995. 253 S., 5,60 €

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