Als Professor Peter Bieri lehrt er Philosophie. Als Autor Pascal Mercier schrieb er den Welterfolg „Nachtzug nach Lissabon“. Jetzt erzählt der Mann mit der multiplen Persönlichkeit in der Novelle „Lea“ von einem erschütternden Familiendrama. Und vom Dilemma des Elternseins.
Ein Gespräch mit Pascal Mercier
In Ihrer Novelle „Lea“ geht es um eine fatale Vater-Tochter-Beziehung. Viele Männer scheuen heute davor zurück, überhaupt Vater zu werden – warum?
Es ist einfach eine total vertrackte Situation, ein Kind zu haben. Man darf nicht nur Gesetze und Regeln aufstellen, sondern sollte dem Kind helfen, sich zu entwickeln, seine Emotionen zu leben. Mein Held Van Vliet beispielsweise weiß, dass es bei der Erziehung um die Balance von Beschützen, Respektieren und Fördern geht, von Nähe und Abgrenzung. Er weiß aber auch: Um das umzusetzen, müsste man als Vater ein Ausmaß an Souveränität haben, das niemand besitzt.
Könnte man also sagen, Ihr neues Buch handelt von Männern, die in ihrer Rolle als Vater versagt haben?
Ich zögere bei dem Wort „Versagen“, weil dieses Wort implizit voraussetzt, dass es so etwas gibt wie Nicht-Versagen. Mein neues Buch ist deswegen so düster, weil es Zweifel daran weckt, ob in der Rolle des Vaters überhaupt etwas getan werden kann, was nicht ein Versagen wäre. Das Buch handelt ja in sehr konsequenter Weise von der Fremdheit aller Menschen untereinander, einer Fremdheit, die eben auch in Beziehungen gegeben ist, die auf das Gegenteil, auf Nähe und Vertrautheit angelegt sind. Deshalb will ich eigentlich nicht sagen, dass die beiden Vaterhelden meiner Novelle als Väter gescheitert sind, vielmehr werden sie eingeholt von einer Fremdheit, die alle Menschen und gerade Liebende irgendwann einholt, eine Fremdheit, die immer da ist und die dann in verzweifelten Versuchen übersprungen werden muss. Wenn die Thematik der Fremdheit das Zentralthema ist, dann gibt es den Unterschied zwischen Gelingen und Versagen nicht. In diesem Sinne ist es ein radikales Buch.
Das klingt nicht nur radikal, sondern in dieser Unausweichlichkeit auch tragisch. Gibt es denn wirklich – und hier ist auch der Philosoph gefragt – keine Heilung von dieser fundamentalen Fremdheit?
Ja, es ist im ganz klassischen Sinne des Wortes eine Tragödie. Leas Vater tut etwas in bester Absicht, und löst damit eine Kette verheerender Ereignisse aus. Und natürlich könnte man denken, in dem Buch wird die Vision der Nähe und des familiären Glücks gleichsam pulverisiert. Das stimmt. Aber jetzt kommt etwas, was nicht beim ersten, aber, wie ich hoffe, beim zweiten Lesen klar werden kann, nämlich dass die Anerkennung dieser Fremdheit eine heilsame Befreiung bedeuten kann. Es geht um Befreiung durch Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit ist natürlich ein gefährliches Wort, es hat etwas Bedrohliches und auch etwas Christliches an sich – aber das meine ich in diesem Zusammenhang nicht. Ich meine einfach nur, wahrhaftig sein heißt anerkennen, dass Fremdheit ist, auch und gerade zwischen Eltern und Kindern. Und das kann eine neue Art von Loyalität oder Solidarität im Umgang bedeuten – anstatt einer gefühlsduseligen und verklebten Verleugnung dieser Fremdheit.
Wäre dann das bürgerliche Familienideal, die oft beschworene Idylle der Kernfamilie von einer Art falschem Bewusstsein getragen, das Kinder einengt und in ihrer Selbstwerdung hemmt?
Diese Gefahr gibt es. Kinder, die später beim Psychotherapeuten sind, beschreiben es fast alle so. Gerade Nähe kann erstickend sein, weil sie ja immer auch Verbote enthält. Die Familienidentität beruht auch auf Ausschluss, ist auch Tyrannei. Intimität wird diktiert, da muss man sich nichts vormachen. Und wenn einer aus der Nähe ausbricht, wird das herb sanktioniert.
In einem Schlüsselsatz der Novelle wird über den Helden gesagt, er habe nie Kinder gewollt, weil er die Verantwortung für ein anderen Menschen scheute, weil er nicht einmal wusste, was es bedeutete, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen … Sie selbst haben keine Kinder.
Nein - aus diesem Grund.
Sie haben bewusst den Lackmustest der Souveränität gescheut?
Ich habe ihn nicht einmal gescheut. Ich wusste, dass er miserabel ausgehen würde. Ich habe meine Entscheidung, nicht Vater zu werden, nie auch nur eine halbe Stunde meines Lebens bereut. Weil ich nie die Festigkeit, die Übersicht und auch die Flexibilität gehabt hätte, um Kindern gerecht zu werden. Und dann all die Bücher, die ich lesen und schreiben wollte, all diese Reisen, die ich machen, all die Sprachen, die ich lernen wollte – ich hatte auch ganz einfach keine Zeit. Aber darunter liegt etwas Tieferes. Ich wäre zutiefst erschrocken vor dieser Verantwortung.
Eine Verweigerung aus philosophischer Selbsteinsicht also?
Ja. Man kann an dieser Stelle natürlich sagen, wo würde das denn hinführen? Fragen Sie mich also nicht nach den möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Einsicht. Ich stelle nur fest, dass, wenn ich mich umsehe, ich mehr Mütter und Väter sehe, die diese Souveränität nicht haben als solche, die sie haben. Ich will das gar nicht weiter kritisieren und kommentieren. Wieder geht es um Wahrhaftigkeit, es geht – gerade auch für den Erzähler Pascal Mercier – darum, diese Sache zu Ende zu denken, ganz egal, was daraus folgen mag. Mit dieser Konsequenz ist die Geschichte geschrieben.
Zumindest sind Sie als Hochschulprofessor Erzieher geworden und haben sich dort oftmals in eine vaterähnliche Rolle begeben, nicht umsonst spricht man vom „Doktorvater“. Haben Sie diese Rolle als Zumutung empfunden?
Nein, ich habe das ein Stück weit gern gemacht. Natürlich sind auch Dinge misslungen, sind einige Betreuungsbeziehungen krank geworden. Man ist als Professor und Doktorvater auch eine Projektionsfläche, zwar nicht wie der Vater zu Hause, die Studierenden sehen mich nicht in der Badewanne oder im Bett oder so, aber sie projizieren natürlich. Da gilt es, die Projektion als solche zu erkennen und mit ihr umzugehen. Diese Rolle habe ich also angenommen, auch, weil sie klare Grenzen hat. Wenn die Kräfte nicht reichen oder die Übersicht fehlt, dann kann ich, ohne moralisch etwas Problematisches zu tun, sagen, jetzt kann ich nicht mehr, jetzt habe ich keine Zeit mehr. Das geht, das ist sozusagen mit dem Bewusstsein der eigenen mangelnden Souveränität verträglich.
Was ist Ihre wichtigste Leitlinie als Erzieher?
Eines der wichtigsten Dinge ist, dass Menschen über ihr Leben selber bestimmen können. Man nehme die Selbstbestimmung weg, und die beiden Pfeiler des Lebens, die Würde und das Glück, brechen zusammen. Nur in dem Maße, in dem wir etwas über uns wissen, können wir unsere Selbstbestimmung vergrößern. Dann bleibt immer noch genug Unheilkontingent übrig.
Viele finden nie zu dieser Selbsterkenntnis…
Das ist der Grund, weshalb ich die großen Boulevardzeitungen ein Verbrechen nenne. Das sind Zeitungen mit großen Lettern und Scheißbildern und indiskreten Manövern, die die Leute bombardieren, die die Leute überschwemmen, die gegen Sensibilität, gegen Reflektiertheit, gegen Selbstbestimmung, gegen Selbsterkenntnis anarbeiten – und das ist ein Verbrechen. Diese Zeitungen zerstören einfach unsere Kultur.
Schreiben bedeutet Rückzug und Kontemplation. Wie finden Sie die Balance zwischen Schreiben und Leben?
Mich haben Romane schon immer mehr interessiert als die Wirklichkeit. Als kleiner Junge zog ich mittags die Jalousien zu in meinem kleinen Zimmer, machte das elektrische Licht an und las dann auf meinem Bett alle 56 Bände Karl May. Mich interessierte nicht das Sommerwetter, mich interessierte Kara Ben Nemsi. Und dafür brauchte ich elektrisches Licht, denn das war die Nacht, der Traum, die Fantasie, das reale Licht hätte nur gestört.
Und das wahre Leben verblasst? Auch wenn Sie schreiben?
Balzac hat einmal gesagt: „Nur die Geschichte zählt – zum Teufel mit meinem Leben!“
Die Novelle „Lea“ von Pascal Mercier ist soeben im Hanser-Verlag erschienen.
Das Gespräch führten Christine Eichel und Wolfram Eilenberger
Professor Bieri,
welches ist Ihre Lieblingsmusik?
Bach und Mozart.
Ihr Lieblingsduft?
Der Geruch der südländischen Bäume – Zedern, Olivenbäume.
Ihr Lieblingsessen?
Da muss ich Sie enttäuschen. Ich bin ein asketisch gestrickter Typ, der nicht besonders genießen kann.
Welches Tier bedauern Sie am meisten?
Die Robbe, weil sie solche Mühe hat, sich fortzubewegen.
Ihr Lieblingsautor?
Richard Rorty.
Was ist Ihre größte Leidenschaft?
Schreiben.
Monsieur Mercier,
welches ist Ihre Lieblingsmusik?
Chopin und Rachmaninov.
Ihr Lieblingsduft?
Derjenige des Meeres vor dem Sturm.
Ihr Lieblingsessen?
Schweizer Patisserie.
Welches Tier bedauern Sie am meisten?
Hunde, weil sie keine Farben sehen können.
Ihr Lieblingsautor?
Joseph Brodsky und Julio
Cortázar.
Was ist Ihre größte Leidenschaft?
Die Fantasie und die dazu passenden Wörter.
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