- Zu Gast an der Festtafel der Fantasie
Die Autobiografie „Ein Engel an meiner Tafel“ der neuseeländischen Autorin Janet Frame ist in einer Neuauflage auf dem Markt. Konkret: Die Übersetzung von Lilian Faschinger, vor etlichen Jahren bei Piper erschienen, ist noch einmal durchgesehen worden. Der federführende C. H. Beck Verlag engagiert sich schon seit einiger Zeit für diese herausragende Schriftstellerin, die von 1924 bis 2004 lebte und die so eigenwillig war wie genial. Ihr langjähriger Aufenthalt in verschiedenen psychiatrischen Anstalten, einschließlich der fatalen Fehldiagnose „Schizophrenie”, ist längst als Legende in die Literaturgeschichte eingegangen.
Janet Frame zu lesen kommt immer noch einem Abenteuer gleich, weil ihre Weltwahrnehmung und ihr poetischer Stil durch ihre psychische Disposition durchaus geprägt worden sind, trotz und wegen der schrecklichen Diagnose. Denn mag Janet Frame auch nie im klinischen Sinne schizophren gewesen sein, so litt sie doch unter einer extremen Kontaktscheu und Schüchternheit. Alltagssituationen wie eine gemeinsame Mahlzeit in der Mensa gleichen für Menschen wie sie einem Aufenthalt in der Hölle. Die Normalität erscheint ihnen als das Unmögliche.
Stattdessen nimmt Frame, um in der Metaphorik des Buchtitels zu bleiben, an der „Festtafel der Fantasie“ Platz; Fantasie, heißt es einmal, sei „das magischste aller Wörter“. Die Formulierung „Der Engel an meiner Tafel“ geht zurück auf einen Rilke-Vers. Bevor sich aber dieser Rilke’sche Engel an ihre Tafel setzt, um sie aus der Hölle ihrer Angst herauszureißen, ist die werdende Schriftstellerin Janet Frame, damals Studentin der Pädagogik in Dunedin, versucht, sich an einer „schrecklichen Festtafel” einzurichten. Gerade hat ein gnadenlos einfühlsamer Universitäts-Dozent ihr mitgeteilt, sie leide „an seelischer Einsamkeit“, und sie dann noch mit den schizophrenen Künstlern van Gogh und Hugo Wolf verglichen. Frame resümiert resignierend: „Ich hatte keine Illusionen, was meine 'Größe' betraf, aber immerhin konnte ich meiner Arbeit und – falls nötig – meinem Leben den Stempel meiner Schizophrenie aufdrücken.“
Damit ist das heikelste, literarisch aber zugleich sehr fruchtbare Motiv ihres Lebens und Werks angesprochen: sich einzurichten in der Krankheit als „Schutz“ gegen die Welt „da draußen“. Es ist das Jahr 1945, der Weltkrieg, an dem die britische Kolonie Neuseeland beteiligt war, ist gerade zu Ende. Die ersten Schritte ins Erwachsenenleben mit einem Stipendium beginnen hoffungsvoll, alle sind stolz, dass Janet Lehrerin werden will. Doch als sie die Abschlussprüfung panikartig verlässt, beginnt jene lange Phase ihres Lebens, die die begabte Tochter einer vom Unglück heimgesuchten, armen Eisenbahner-Familie zur „dritten Person“ stempelt: zu einem Wesen, das eingesperrt und verwaltet wird. Dem kein „Ich“ zugestanden wird, weder von den Ärzten noch von den hilflosen, überforderten Verwandten.
Seite 2: Eine verdienstvolle Neuausgabe - mit kleinen Makeln
„Ein Engel an meiner Tafel“ dürfte das bekannteste Werk Janet Frames sein, die am Ende sogar als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis galt. Jane Campion hat dieses unwahrscheinliche Leben 1990 verfilmt, was die damals 86-jährige Autorin mit dem imposanten Kraushaar vollends zur Berühmtheit machte. Allerdings wurden alle drei Bände der Autobiografie für den Film verwendet. Denn mag „An Angel at My Table“ auch der einprägsamste Titel sein, so handelt es sich dabei dennoch „nur“ um den zweiten, mittleren Teil der autobiografischen Trilogie; er behandelt die Jahre zwischen dem Eintritt in die Universität, über die psychiatrischen Jahre, bis zur Entdeckung als Schriftstellerin und dem Aufbruch nach Europa.
Es ist ein bisschen schade, dass der C. H. Beck Verlag nach dem großartigen nachgelassenen Roman „Dem neuen Sommer entgegen“ (übersetzt von Karen Nölle) und dem nicht minder beeindruckenden Debütroman „Wenn Eulen schrein“ (übersetzt von Ruth Malchow, überarbeitet von Karen Nölle) jetzt lediglich mit dem zweiten Teil der Autobiografie herauskommt. Band eins und drei, „Zu den Inseln“ und „Der Gesandte aus der Spiegelstadt“, die schon einmal bei Piper erschienen sind, sollen später folgen. Die Trilogie geschlossen herauszubringen, in einer homogenen Neufassung, wäre sicherlich sinnvoller gewesen.
Hinzu kommt, dass die nun vorliegende überarbeitete Übersetzung stellenweise unbeholfen wirkt. So heißt es beispielsweise: „Ich lernte, an Exemplare des Critic zu kommen”, während doch „Ich fand heraus, wie…“ – für „I learned” – in diesem Zusammenhang natürlicher klänge. Und bei einem Satz wie diesem steht man völlig auf dem Schlauch: „Ich wusste Bescheid über Freunde und über Liebe, erfahren am Punkt des Verlusts, und ich hatte den Tod akzeptiert.“ Auch für die Gedichte aller möglichen englischsprachigen Dichter und Dichterinnen, die, als Zitatblöcke in den Text eingefügt, allzu plan ins Deutsche gebracht wurden, hätte man sich eine schönere Lösung gewünscht.
Doch vermag all das nicht zu verhindern, dass man sofort in Janet Frames Universum hineingezogen wird, in dieses wahnwitzige Wechselspiel aus Euphorie und Traurigkeit, kindlicher Sprachfreude und schierer Verzweiflung. Die Eisenbahnfahrten, die schlechten Zähne, der Druck der Konvention, das nicht gelebte Leben der Mutter, die Wortlosigkeit des Vaters, das Sterben der Schwester, die Schwierigkeit, einen Platz für sich zu finden – das ist die eine Seite des Tableaus. Auf der anderen: das Schreiben und die Lektüre, beides maßlos idealisiert und gekrönt von der Bestimmung, Schriftstellerin zu werden.
Seite 3: Zwei Engel an ihrer Tafel
Und tatsächlich, der erste Engel tritt auf. Dr. Palmer, ein neuer Arzt, teilt der als unheilbar krank geltenden Patientin mit, sie habe einen Literaturpreis gewonnen (für ihren ersten Erzählband „Die Lagune“), woraufhin die schon geplante Lobotomie gestrichen wird. Nachdem Janet Frame, verteilt auf acht Jahre, zweihundert Elektroschockbehandlungen erlitten hat,„jede davon im Ausmaß der Angst einer Hinrichtung entsprechend“, wird sie in die schwierige Freiheit entlassen: für gesund erklärt.
Geschrieben hat Janet Frame ihre Autobiografie als verehrte, mit Preisen überhäufte Schriftstellerin, im Rückblick also, wie das bei Memoirenliteratur zu sein pflegt. Im Vergleich mit ihren wilden, schmerzhaften Romanen wirkt „Ein Engel an meiner Tafel“ gezähmt. Frame bekundet ihr Mitgefühl für die lebenslang eingeschlossenen Kranken, als wäre sie eine Botschafterin der Unicef; der Schritt von „drinnen“ nach „draußen“ verändert eben auch den Stil. Nicht, dass die irre Poesie, auf der Janet Frames Ruhm gründet, verschwände, aber sie wird doch in verdünnter Form gereicht.
Engel Nummer zwei, ja, der Hauptengel, ist dann der neuseeländische Schriftsteller Frank Sargeson, ihr eigentlicher Mentor, ein herrlicher Typ. Die verunsicherte junge Frau quartiert er in einer Militärbaracke neben seiner Hütte ein, wo sie schreiben soll und nichts als schreiben. Frank ist dünn, skurril, extrem belesen, materiell bescheiden, aber generös im Rahmen seiner Möglichkeiten. Er hasst die Bourgeoisie und liebt die Körper der Frauen nicht, so dass Janet in seiner Nähe zwar ihren Platz findet und ihren ersten Roman schreibt, aber trotz ihrer inzwischen dreißig Jahre immer noch auf die Erfahrung warten muss, von einem Mann berührt zu werden.
Janet Frame: Ein Engel an meiner Tafel. Roman. Aus dem Englischen von Lilian Faschinger. C.H. Beck, München 2012. 208 S., 19,95 €
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