Titel: Ist das Weltliteratur? - Weltliteratur ist konservativ

Jonathan Franzens neuer Roman «Freiheit» erzählt von Gefühlen und Situationen, für die man kein technologisches Update braucht

Wenn es ein Schriftsteller auf die Titelseite des «Time Magazine» schafft und wenn er dort als «Great American Novelist» gefeiert wird; wenn sein vorangegangener Roman «Die Korrekturen» sich weltweit 2,85 Millionen Mal verkauft hat und sein neues Buch, ebenso dickleibig und wieder ein Familienroman, den schlichten Titel «Freiheit» trägt; wenn die Figuren in diesem Roman, wenn sie lesen, «Krieg und Frieden» lesen oder auch mal etwas von Joseph Conrad, Thomas Bernhard oder Ian McEwan; wenn das alles so ist wie hier, im Fall des neuen Romans von Jonathan Franzen, dann liegt der Befund «Weltliteratur» nicht fern. Wie immer man das große Wort versteht: Franzens «Korrekturen» und nun «Freiheit» sind Welt­-literatur in dem Sinne, dass sie ein weltweites Publikum erreichen, und sie sind es erst recht insofern, als sie von Situationen und Problemen erzählen, die man offenbar fast überall versteht. Nichts anderes meint ja das Wort «American» in der Zuschreibung «Great American Novel» – nicht etwa eine geografische Einschränkung, sondern, im Gegenteil, den Anspruch auf Universalität; denn was wäre Amerika für die Amerikaner, wenn nicht die Welt?
 
Man kann Jonathan Franzen in der Tradition der großen Erzähler des amerikanischen Alltags, von Bellow zu Updike und Roth, lokalisieren (nicht in der Linie der Innovatoren wie Pynchon, DeLillo oder Foster Wallace). Die amerikanische Erzählschule des Vorstadt-Mikrokosmos, der die ganze Welt enthält, ruht dabei auf einer anderen Tradition auf: der russischen. Nicht von ungefähr liest Patty, die weibliche Hauptfigur – in der man ohne Mühe auch Emma Bovary erkennen kann – so gern Tolstoj. Der große amerikanische Familien-, Generationen- und Vorstadtroman ist weniger ein Unternehmen des 21. als eines des 19. Jahrhunderts. Er beharrt darauf, dass es normale Leute mit normalen Gefühlen und Gefühls­verwirrungen gibt, für die man kein technologisches Update braucht. «Weltliteratur» ist konservativ. Wäre sie es nicht, wie sollten wir sie als solche erkennen?

Eine Problemgeschichte der Freiheit
«Freiheit» also, erörtert am durchschnittlich konfusen Leben der Familie Berglund in St. Paul, Minnesota, und anderswo. Zum einen erzählt Franzen mit schwer zu überbietender Gründlichkeit aus einem eng umgrenzten amerikanischen Alltag, zum anderen soll sich durch diesen Näheblick eine Art Problemgeschichte der Freiheit eröffnen, der «amerikanischen» oder, sagen wir, der Freiheit der weißen, westlichen Mittelschichten. Walter Berglunds Vorfahren waren aus Schweden eingewandert, und für Einar, Walters Großvater, «war Amerika das Land der unschwedischen Freiheit, das Land der weiten Räume» gewesen, eine Verheißung, die sich dann bald in dauerhaften Zweifel am «American Dream» verwandelte. 
 
Walter nun, der Enkel, und Patty, seine Frau, das Paar, um dessen turbulente Beziehung es hier in erster Linie geht, sind richtig gute «Liberale» geworden, also keine Republikaner, sondern Demokraten. Walter arbeitet anfangs noch bei «3M», ehe er sich gänzlich seinem Lebensthema, dem Naturschutz, verschreibt, wenn auch im Auftrag der Kohle-Industrie, für die Walter das ökologische Feigenblatt liefert. Patty – deren für ihren Therapeuten verfasste Autobiografie weite Teile des Romans füllt – stammt aus einer jüdi­­schen Ostküstenfamilie, war einmal eine große Basketballhoffnung und lebt jetzt ein ameri­kanisches Vorstadtleben mit­samt dem Traum vom großen Ausbruch. Richard, Walters bester Freund, ein alternative rockstar, ist ihre heimliche Liebe, und vice versa. Und dann gibt es noch die Kinder, die keine Lust haben, gute Demokraten zu sein, und sich stattdessen, wie Sohn Joey, in einer erzrepublikanischen Familie häuslich einrichten. 
 
Was wird aus Walter und Patty? Es geht fortwährend um Freiheit, wie man ahnt, um Bindungen und Abnabelungen, um Treue und neue Anfänge, in der Liebe, in der Arbeit, in der Politik und überhaupt. Sicher, uns interessiert auch das Schicksal der Biodiversität und einer bestimmten bedrohten Vogelart, aber eigentlich lesen wir den dicken Roman vor allem deshalb zu Ende, weil wir wissen wollen, ob Walter und Patty, trotz Richard, dem Rocker, trotz Walters reizender indischer Assistentin Lalitha und aller Verwirrung des Herzens, ein Paar bleiben werden. Franzens Roman liest sich gut, sehr gut sogar, dieser Autor ist ein Meister des Dialogs und des subtilen Bildes: «Wie eine kalte Quelle am Grund eines wärmeren Sees wallte die alte, von schwedischen Genen geförderte Depression in ihm auf.» Trotzdem fragt man sich, ob die geradezu altmeisterliche Auspinselung einer bestimmten amerikanischen Szenerie heute noch die selbe Legitimität und Autorität entfalten kann, wie sie es bei Franzens großen amerikanischen Vorgängern und erst bei deren Vorgängern, den großen Russen tat. Einmal grübelt Richard, der Rockstar (dessen Musik wir uns irgendwie als eine Verbindung aus R.E.M. und Wilco vorstellen): «So wie die prinzipielle Gleichheit weiblicher Körper in keiner Weise endlose Vielfalt ausschloss, gab es auch keinen vernünftigen Grund, an der Gleichheit der Bausteine popu­lärer Musik zu verzweifeln.» Doch, es gibt Gründe, daran zu verzweifeln (jedenfalls, was die Musik betrifft), aber Jonathan Franzen geht lieber den konservativen Weg, zum Nutzen wie zum Nachteil dieses Romans.

 
Jonathan Franzen
Freiheit. roman 
Deutsch von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld  Rowohlt, Reinbek 2010. 734 S., 24,95 €

 

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