- König der Schmerzen
Der Schwede Arne Dahl ist der literarische Kopf unter den europäischen Kriminalautoren - in einer raffinierten Mischung von Unterhaltung und Hochkultur schreibt er Thriller neuen Typs. Ein Besuch in Stockholm
Der Mann, der im strahlenden, fast kalten Licht dieses Mai-Morgens sein Auto im Halteverbot vor dem Stockholmer Polizeipräsidium abstellt, könnte ein Arzt sein, ein Architekt, ein früherer Sportler vielleicht. Anfang vierzig, hochgewachsen und schlank, braune, kurzgeschnittene Locken, blaue Augen, ein hellgrünes T-Shirt unter dem Leinenjackett, dunkle Jeans, Sneakers; alles spricht dafür, dass er sich viel an der frischen Luft aufhält, zielstrebig, dabei lässig sind seine Bewegungen. Doch ist von allem, was man hier auf den ersten Blick vermutet, so ziemlich das Gegenteil wahr. Dieser Mann ist Schriftsteller, und mit einem Arzt hat er allenfalls gemeinsam, dass er sich mit besonders grausam ausgeklügelten Todesarten auskennt: der schwedische Krimi-Bestsellerautor Arne Dahl, ein König der Schmerzen. Eine seiner herausragendsten Eigenschaften aber dürfte sein, dass es ihn doppelt gibt, wenn nicht sogar dreifach: Arne Dahl alias Jan Arnald alias, wer weiß, Paul Hjelm.
Wer die Erfolgsromane um die bei der Rijkspolis angesiedelte «A-Gruppe zur Aufklärung von Gewaltverbrechen von internationalem Charakter» gelesen hat, wird jedenfalls den Eindruck nur schwer wieder loswerden, dass der Autor seinem Helden Paul Hjelm bis in die Kleidung hinein ähnelt (nur das rote Mal fehlt, das seit dem ersten Band auf dessen Wange blüht); im gerade auf Deutsch erscheinenden sechsten Roman «Ungeschoren» (Schwedisch «En Midsommarnattsdröm», 2003) ist Hjelm nun nicht nur zum Kommissar aufgestiegen, sondern, ebenso wie weiland sein Autor, frisch geschieden.
Doch finden die Persönlichkeitsverdoppelungen und Identitätsverspiegelungen damit noch nicht ihr Ende. Denn Arne Dahl ist zugleich das Pseudonym und Alter Ego eines Schriftstellers, Literaturwissenschaftlers und Kritikers – Jan Arnald sein Name. Drei Romane, Kurzgeschichten und Lyrik hat er veröffentlicht, er publiziert eine illustre theoretische Literaturzeitschrift und war bis vor kurzem auch Herausgeber der Zeitschrift der Schwedischen Nobelpreis-Akademie.
Der Mann kann sich also offenbar nicht nur in seiner Phantasie, sondern durchaus alltagspraktisch in verschiedensten Identitäten und Tätigkeiten vervielfältigen: Seit 1999 ist in Schweden Jahr für Jahr ein neuer Arne-Dahl-Krimi erschienen, einer raffinierter und virtuoser als der andere. Im Jahr 2001 kam Jan Arnalds ambitionierter postmoderner Roman «Barbaren» zugleich mit dem Arne-Dahl-Krimi «Europa Blues» (deutsch «Tiefer Schmerz», 2005) heraus, im vorigen Jahr wurde Arnalds Roman «Maria und Artur» über das Leben und die literarische Arbeit des schwedischen Schriftsteller-Paars Artur Lundkvist und Maria Wine gleichzeitig mit dem neunten Band der Dahl-Krimireihe veröffentlicht. Vater zweier halbwüchsiger Töchter ist er schließlich auch noch.
Die massiven Mauern von Södermalm
«Es ist mein Stil, viele Stile zu haben», sagt Arne Dahl (oder ist es nicht eigentlich Jan Arnald, mit dem wir hier sprechen?). Er grinst dezent über seinem Cappuccino im hellen, wuseligen Frühstücks-Café seines Wohnviertels Södermalm. «So besonders organisiert, wie ich es sein müsste, bin ich dabei eigentlich gar nicht; im Kopf schon, da ja, aber äußerlich …» Ein Schulterzucken. Die Lösung des Multitasking-Rätsels scheint schließlich ganz schlicht: Er will es einfach so haben. Und weil er es so will, geht es auch.
Hier gleich um die Ecke wohnt er, und just über die vierspurige Hauptstraße, im aus einsichtigen Gründen «Söder-Messer» genannten Abschnitt des Bezirks, hat Arne Dahls literarische Figur Paul Hjelm sich nach der Scheidung eine Wohnung genommen. «Söder ist ein bisschen wie Kreuzberg», erklärt der Autor, der vor Jahren in seiner Eigenschaft als Literaturwissenschaftler in Berlin über die schwedische Romantik forschte. «Es ist ein altes Arbeiterviertel, das in den achtziger, neunziger Jahren ziemlich heruntergekommen und verrufen war, es gab ein Ausländerproblem und jede Menge Kriminalität. Mittlerweile sind viele Intellektuelle, Medienleute und Künstler hierher gezogen, die Häuser wurden wieder hergerichtet, überall haben Cafés, Läden und Restaurants eröffnet – eine gute Umgebung zum Leben und Arbeiten.»
Die Straßen treffen in Söder rechtwinklig aufeinander, überhaupt wirkt alles geordnet und überaus aufgeräumt; im hügeligen Park joggt Dahl-Arnald am Morgen, von unten schimmert das leicht bewegte Wasser des Sunds herauf. Und doch: die Mauern der zumeist vierstöckigen, mit massivem Stuck verzierten Häuser aus dem 19. Jahrhundert wirken wuchtig, die Wohnungen dahinter gänzlich abgeschirmt. Nicht nur jedes erdenkliche Verbrechen kann man sich hinter diesen Fassaden vorstellen, sondern ebenso, dass es unentdeckt bleibt – Mord ist, Arne Dahls Krimis zeigen es, im letzten Grund eine sehr private Sache. Bis die «A-Gruppe» auftritt.
Die Geburt des Krimi-Autors aus der Krise
Die ostentative Sortiertheit Stockholms, die unter einer klaren nördlichen Sonne nachgerade herausfordernde Heiterkeit im Gegensatz zu einem nur zu vermutenden gewalttätigen Dahinter – man könnte sich vorstellen, dass damit die Metamorphose des ambitionierten Literatur-Intellektuellen zum Spezialisten für besonders ausgepichte Verbrechen begann. Doch wieder ist es ganz anders. «Mein erstes Buch, 1990 erschienen, war ein postmoderner Roman», resümiert der Autor, «eine ziemlich ehrgeizige Angelegenheit; es folgte ein Gedicht-Zyklus, danach Kurzgeschichten. Ich war Literaturkritiker, hatte einen Doktor in Literaturwissenschaft und lehrte an der Universität – alles war eigentlich bestens. Aber ich war nicht froh damit, wie sich mein Schreiben entwickelte. Mich interessierten so viele Dinge – Politik, Psychologie, die Gesellschaft –, aber meine literarische Arbeit entfernte sich immer weiter von der Wirklichkeit. Also fing ich an zu überlegen, ob ich nicht unterschiedliche Genres und meine verschiedenen Interessen kombinieren und daraus etwas machen könnte, wovon ich am Ende auch würde leben können: Ich suchte nach einer Form, über das Jetzt zu schreiben.»
Dass der Ausweg aus dem Dilemma eine Kriminalserie sein würde, die neben der Erfindung von Plots und Figuren auch die Erfindung eines Autors namens Arne Dahl nach sich zog, stand für Jan Arnald dann Ende der neunziger Jahre fest – eine Entscheidung, die nicht zuletzt mit den Veränderungen zu tun hatte, die sich in Schweden seit der Mitte der Neunziger rasant durchsetzten. «Bis dahin», sagt er, «war Schweden ein ziemlich isoliertes Land, und wir wollten diese Isolation auch. Wir hatten uns immer für ein bisschen besser gehalten als den Rest der Welt, ohne davon irgendein Aufhebens zu machen. Hier gab es nach dem Krieg keine Trümmer, wir hatten den höchsten Lebensstandard in Europa, unser Wohlfahrtsstaat zog eine unsichtbare Mauer zwischen uns und den anderen. Mitte der Neunziger brach das alles unter einem immer rabiateren internationalen Einfluss zusammen. Plötzlich war Schweden in Europa, in der Welt – und das internationale Verbrechen in Schweden. Da wusste ich, darüber will ich schreiben. Das war der Anfang.»
Ein Mord verändert ein Land – und die Literatur
Der allerdings tiefer noch in einem anderen, zehn Jahre zurückliegenden Ereignis wurzelte, das in den Augen Dahls das Selbstbewusstsein der schwedischen Nation in den Grundfesten erschüttert hat: der Mord am sozialdemokratischen Premierminister Olof Palme. Nach einem Kinobesuch war der charismatische Politiker an einem Februarabend des Jahres 1986 auf offener Straße in Stockholm erschossen worden; der Fall blieb bis heute unaufgeklärt.
«Damit fing für die neue schwedische Kriminalliteratur alles an», konstatiert Dahl im freundlichen Getose des Frühstücks-Cafés, in dem alles auf Saturiertheit und Harmonie, rein gar nichts auf Beunruhigung oder gar Verstörtheit deutet. «Henning Mankell, Åke Edwardson, Liza Marklund und Håkan Nesser, alle, die heute in der Welt für den schwedischen Kriminalroman stehen, begannen Anfang, Mitte der neunziger Jahre ihre Kriminalromane zu schreiben – wie etwas später auch ich. Maj Sjöwall und Per Wahlöö, unsere Kriminalautoren-Vorbilder bis heute, hatten in ihrer Romanserie schon zwanzig Jahre früher gezeigt, dass die Ideologie vom Wohlfahrtsstaat nur die Fassade der schwedischen Gesellschaft berührte; dahinter ging es oft genug mitleidslos und brutal zu, nicht zuletzt bei der Polizei. Der Palme-Mord brachte dann mit einem Schlag alles zum Vorschein, was in diesem Land falsch und verlogen war – er löste einen nationalen Schock aus. Denn wir waren davon ausgegangen, dass unser Premierminister über die Straße gehen kann wie jeder andere, ohne dass ihm etwas passiert, dass Schweden kein gefährliches Land ist. Am 28. Februar 1986 mussten wir feststellen: Dies ist ein Land wie jedes andere, auch Schweden ist gefährlich. An diesem Tag haben wir unsere Naivität verloren. Und davon, was passiert, wenn die Illusion vom Paradies zerplatzt, handeln Kriminalromane.»
Eine spezielle Truppe und ihr inkontinenter Chef
«Misterioso», 1999 in Schweden erschienen (deutsch 2002), war Arne Dahls erster Roman um die mittlerweile legendäre «A-Gruppe» der schwedischen Reichspolizei – eine Erfindung des Autors, der seine Elitetruppe aus extrem unterschiedlichen Charakteren mit den unterschiedlichsten Vorgeschichten und Problemen zusammensetzt. Mit den Jahren immer mal wieder um neue Figuren mit Spezial-Kompetenzen erweitert, ist der siebenköpfige Kern um den einstigen Vorstadt-Polizisten Paul Hjelm und seine aus Göteborg stammende Kollegin Kerstin Holm bislang stabil geblieben.
Dahl macht die Leser damit zu Zeugen von sieben Entwicklungsromanen. So wird Jorge Chavez, Sohn chilenischer Exilanten, Freizeit-Bassist, Computerfreak und inzwischen verheiratet mit einer Kollegin, im neuen Roman während seines Vaterschaftsurlaubs zur Zielscheibe und Testperson eines Serienkillers. Gunnar Nyberg, einst «stärkster Polizist Schwedens», mutiert vom mit Anabolika vollgepumpten Schlägermonster zum Ehemann einer Russisch-Dozentin mit Traum von einem Häuschen in der Toskana. Arto Söderstedt wiederum, intellektuell brillanter früherer Staranwalt finnischer Gangsterbosse und Oberhaupt einer vielköpfigen weißblonden Familie, erbt im Laufe der Serie eine beträchtliche Summe und kommt in «Tiefer Schmerz» während eines Italien-Aufenthalts bei einem Einsatz fast ums Leben. Das seinige hätte Viggo Norlander, ausgestattet mit der Mentalität und den Umgangsformen eines «Würstchenbudenfritzen» und inzwischen Vater zweier kampflustiger Töchter, bereits im ersten Band beinahe eingebüßt: gekreuzigt auf den Bohlen eines Verbrechertreffpunkts in Estland.
An der Spitze aber steht die Vaterfigur des eulengleichen, so korpulenten wie wortkargen Jan-Olov Hultin. Im Gegensatz zu seinem präpotenten Chef ist er ein genialer Kriminal-Tüftler, der sich weder durch seine Inkontinenz noch durch andere Widrigkeiten irritieren lässt und mit dem neuen Band nun wohl endgültig in Pension gehen wird.
The Police und der «Sommernachtstraum»
Dass «Misterioso» das Debüt eines Autors war, der sich mit diesem Roman in einer Doppel-Identität als Schriftsteller gerade neu erfand, hätte kein Außenstehender geahnt. Alles, was seine nach dem Vorbild von Sjöwall/Wahlöö auf zehn Bände angelegte Kriminal-Serie seither auszeichnet, ist hier bereits ausgeprägt: das spektakuläre Team, dessen Mitglieder von Buch zu Buch wechselweise die Hauptrolle übernehmen. Die pointierten, schnellen Dialoge. Witz, Sarkasmus, Ironie. Poesie. Und, als leitmotivisches Material: Musik, Literatur. Wenn nicht gerade Ovids «Metamorphosen», Rilkes «Duineser Elegien», die Orestie, das Hohelied Salomos oder Shakespeares «Sommernachtstraum» den Subtext abgeben, leitet bei Arne Dahl ein Musikstück durch die Handlung; zumeist stammt es von einem der Großmeister des Modern Jazz: Thelonious Monk, John Coltrane, Miles Davis – im jüngsten Band sind es, doppelt beziehungsreich, The Police mit «King of Pain».
Der Roman «Misterioso», der von der ökonomischen Ausplünderung Schwedens durch die neue Kaste der Superreichen und vom tödlichen Rachefeldzug eines ihrer Opfer erzählt, bezieht sogar seinen Titel von einer Komposition Thelonious Monks: Nachdem er die Finanzhaie erledigt hat, legt der Serienmörder eine Kassette mit einer Fassung des Stücks «Misterioso» ein, die nur ein einziges Mal gespielt wurde; erst als er gestört wird und das Band in der Wohnung des Opfers zurücklassen muss, kann Jan-Olov Hultins Einzelgänger-Kollektiv den verschlungenen Weg zum Täter rekonstruieren.
Das Schöne ist des Schrecklichen Anfang
Die Kunst führt zum Mörder – und gibt damit immer wieder einzelnen Beamten der «A-Gruppe» ein spezifisches Bildungsprogramm auf. Denn wie im wirklichen Leben sind auch hier die individuellen Voraussetzungen stark unterschiedlich. Während Kerstin Holm und Gunnar Nyberg im Kirchenchor singen und daher in der Tradition des religiösen Liedes zu Hause sind (und Kerstin sich überdies als Jazz-Spezialistin erweist), spielt Jorge Chavez in einer Band – und wird in «Ungeschoren» zum Werkzeug eines tasächlichen «King of Pain».
Den meisten Kollegen geht musikalisches Spezialwissen dagegen ab. Insbesondere an der Figur Paul Hjelm aber zeigt sich, wie selbst die Arbeit in einer Mordkommission ganz nebenbei zur kulturellen Entwicklung beitragen kann. Beim «Würstchenbudenfritzen» Viggo Norlander ist da freilich nichts zu machen, und Arto Söderstedt ist den meisten anderen mit anderem Wissen voraus. Paul aber sieht man in der U-Bahn alsbald mit Ohrstöpseln sitzen, Jazz hörend, er kauft sich ein Klavier und beginnt zu spielen. Im Band «Falsche Opfer» (deutsch 2004) verleibt er sich zudem Ovids «Metamorphosen» und die «Duineser Elegien» ein, weil die Täter sich klandestin mit Zitaten aus diesen Texten verständigen – es geht um einen Fall zwischen rechtsradikalem Terrorismus und Kinderpornografie, und Paul Hjelm findet am Ende bestätigt, was der Dichter schrieb: «Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen.»
In «Tiefer Schmerz», wo der extrem grausame Mord an einem internationalen Mädchenhändler sich mit dem nicht minder gewaltsamen Sterben eines weltweit renommierten Hirnforschers verquickt, erfordert die Aufklärung des Falles die Kenntnis der griechischen Mythologie; in «Rosenrot» (deutsch 2006) enthält das Hohelied des Salomo die magischen Worte, die die Motivation des Täters aufschließen. Und in «Ungeschoren» schließlich sieht sich ausgerechnet der Kraftkerl Nyberg vor der Aufgabe, Shakespeares «Sommernachtstraum» nach Hinweisen auf den Mörder zu durchforsten: dessen Tattoo-Signaturen auf den Körpern seiner Opfer ergeben zusammen das Kennwort «Puck».
Der perfekte Plot ist nicht das Wesentliche
«Sophokles», sagt Arne Dahl dezidiert, «steht mir näher als der zweifellos großartige Kriminalautor Ed McBain. Das Gefühl, das ich mit meinen Büchern hervorrufen will, ist das der Tragödie – sie ist zugleich meine Richtschnur, um die Essenz einer Kriminalgeschichte zu destillieren. Die grundlegenden Erzählungen von Schuld, Strafe und Sühne sind in den antiken Dramen zu finden: das, was in konventioneller Kriminalliteratur so leicht verloren geht, in der sich immer alles um den Plot dreht. Ich liebe den perfekten Plot, aber für mich ist er nicht das Wesentliche. Denn ich habe ja die Hoffnung», er lacht leise und schaut rasch aus dem Fenster, «dass, wer meine Bücher liest, danach nicht unbedingt nach dem nächsten Krimi greift, sondern vielleicht nach einem Stück Literatur.» Paul Hjelm – also auch ein pädagogisches Vorbild? Jetzt muss Dahl wirklich lachen. «Ja, ein kleiner Hauch literarischer Erziehung. Hat wahrscheinlich mit meiner eigenen Entwicklung zu tun, diese Idee.»
Und sie ist ernst gemeint. Nicht zuletzt, weil sich der Literaturwissenschaftler Jan Arnald schon in seiner Dissertation am Beispiel des literarischen Alleskönners und Allesschreibers Artur Lundkvist mit der Verbindung disparater literarischer Genres beschäftigte; der Belletristik-Autor Arnald widmete dem Tausendsassa Lundkvist seinen dritten Roman.
Wie klingt eigentlich «Kind of Blue»?
«Ich möchte in meiner eigenen Arbeit diese beiden Sphären, die scheinbar vollkommen getrennt voneinander existieren: die populäre und die Hochkultur, miteinander verschmelzen», sagt der inzwischen in neun Sprachen übersetzte, für seine Thriller mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnete Kriminalautor Dahl. «Das ist mein Traum, meine Utopie, mein Ideal: literarisch gute Bücher zu schreiben, die von vielen gelesen werden.»
Ein Wunsch, der bei den sechs auf Deutsch vorliegenden Bänden der «A-Gruppen»-Serie nachprüfbar in Erfüllung gegangen ist – wobei, wer auf Suspense und sonst gar nichts aus ist, übrigens keinen Augenblick fürchten muss, wegen Behelligung mit kanonisierter Literatur und Musik als Krimileser etwa nicht auf seine Kosten zu kommen. Andersrum wird ein Schuh draus: Musik und Literatur fungieren hier wie Kassiber; als rätselhafte Elemente bleiben auch sie verschlüsselt, bis der Fall gelöst ist. Keiner muss eine Zeile Ovid gelesen, keiner eine Improvisation von Miles Davis je gehört haben, um der Täter- und Motiv-Jagd quer durch Europa, bis in die USA, mit Hochspannung folgen zu können. Hinterher allerdings könnte er entschieden Lust haben, mal mit eigenen Ohren zu hören, wie «Kind of Blue» eigentlich klingt.
Werte-Duell zwischen Mörder und Polizist
Die Frühstücksgesellschaften im Södermalm-Café sind mittagessenden Familien gewichen, wir gehen in Sonne und Wind ein paar Schritte um den Block und reden über Wut – Wut, die den intellektuellen Literaten Jan Arnald dazu bringt, es in seiner zweiten Schreib-Existenz mit Verbrechen aufzunehmen, die in und an der schwedischen Gesellschaft begangen werden. «Im Grunde», sagt er, «geht es mir wie dem Fernsehkritiker in ‹Ungeschoren›: Man lebt vor sich hin, denkt sich nichts Böses, und plötzlich wird irgendwas zu viel – jeder meiner Romane gründet sich auf ein reales Vorkommnis, das mich in Wut versetzt hat. In ‹Ungeschoren› sind es die so genannten Ehrenmorde, die hier in zwei kurdischen Familien begangen wurden. Dazu kommt die wahre Geschichte vom unterbezahlten polnischen Krankenhauspersonal, das für Geld Patienten ermordet. Und schließlich explodierte mein Ärger über private TV-Programme, die Leute dazu bringen, sich selbst und andere vor aller Augen zu beschädigen – ich hatte große Lust, einen TV-Boss umzulegen!»
Da ist es doch für alle weit erfreulicher, sich aufs Raffinierteste auszudenken, wie derartige Individuen zur Strecke gebracht werden könnten, als es tatsächlich selbst zu tun. Arne Dahl lacht. «Ja, das ist bei weitem die bessere Lösung. In ‹Tiefer Schmerz› rückt auf diese Weise das Schweigen über die Tatsache ins Zentrum, dass es in Schweden während der zwanziger Jahre ein rassebiologisches Institut gab, dessen Forschungen in die medizinischen Versuche in deutschen Konzentrationslagern mündeten. In ‹Böses Blut› bin ich Recherchen über geheime Folterkommandos im Vietnamkrieg gefolgt, die Präsident Nixon direkt unterstellt waren und später in den USA wahrscheinlich weitermordeten. In ‹Rosenrot› war es die Weigerung der Pharma-Konzerne, Afrika mit preiswerten Aids-Medikamenten zu versorgen, die mich aufbrachte. Ich brauche nur die Zeitung aufzuschlagen, schon gerate ich in Wut – und schon habe ich Material und Motive für den nächsten Roman.»
Unter den Büchern um die «A-Gruppe» markiert der jetzt auf Deutsch erscheinende Roman «Ungeschoren» einen Wendepunkt. Nach dem Erscheinen von «Rosenrot» vor fünf Jahren war Arne Dahls Pseudonym endgültig aufgeflogen. Danach konnte, danach musste aber auch der bekannte Belletristik-Autor Jan Arnald sich nun deutlicher ins Arne-Dahl-Business einmischen. Das Ergebnis war ein Thriller, auf den die Leser mit bis dahin ungewohnter Emotionalität reagierten – es ging um die Problematik des «guten Mörders».
«Etliche Leser sagen, ‹Ungeschoren› habe ihr Leben verändert», berichtet Dahl, eine Wirkung, die ihn nicht erstaunt. «Dies Buch ist nicht nur in mancher Hinsicht viel witziger als meine früheren Romane, es geht zugleich auch tiefer ins Dunkle. Bei jedem gesellschaftlichen Problemfall, den der Täter mit seinen Morden offenlegt, geht es um Fragen der Moral: Wann ist ein Mensch ‹gut›? Was ist verantwortliches Handeln? Was ist gerecht? Hat noch jemand Mitleid, Mitgefühl? Alles läuft auf einen Test auf die Menschlichkeit hinaus, ein Werte-Duell zwischen dem ‹guten Mörder› und dem ‹guten Polizisten› Jorge Chavez – diese Szene ist das Herz des Romans.»
Die Aufklärung von Details hat den Autor am Ende nicht mehr sonderlich interessiert, auch das ist neu und gemeinhin ein Verbrechen in der Krimiwelt. Arne Dahl macht ein ironisches Spitzbubengesicht. «Ja, ich habe die Grenzen des Genres ein bisschen erweitert, schon der Plot ist eigentlich unmöglich. Außerdem interessierte mich, wie viele Unwahrscheinlichkeiten noch eben zulässig sind, und ich habe festgestellt: viele! Die Traditionalisten hielten das Buch geradezu für einen terroristischen Anschlag auf das Genre. Ich selber bin sehr froh damit. Ich glaube, dies ist einer meiner härtesten Romane.»
Riese im Puppenhaus
Mit dem zehnten Arne-Dahl-Krimi, der jetzt im August in Schweden erschienen ist, müsste – ginge es nach Dahls ursprünglichem Plan – eigentlich Schluss sein mit der «A-Gruppe»; auch der Tod ihres erfundenen Autors war für diesen Zeitpunkt programmiert. Wir haben inzwischen die Straße erreicht, in der Jan Arnalds Wohnung liegt, die Töchter warten, aber die Frage muss er doch noch beantworten: Ist jetzt also alles vorbei?
Im Häuserschatten ist es kühl, der Wind hat aufgefrischt und
stellt uns die Haare zu Berge. «Das Schreiben ist eine ziemlich
einsame Angelegenheit», sinniert der Erfinder Arne Dahls, «und die
A-Gruppe, das sind meine Freunde und Kollegen, ich arbeite mit
ihnen zusammen – ich kann sie nicht sterben lassen! Nein, im Ernst:
Für mich hing alles an diesem zehnten Buch, und jetzt weiß ich, es
wird nicht das letzte sein. Aber ich schreibe», die Stimme hebt
sich, «auch weiterhin belletristische Romane!»
Spricht’s, winkt und ist davon.
Am Abend in der Altstadt sehen wir den hellblonden Pagenkopf eines voluminösen Mannes über allen anderen Köpfen schweben, gemächlich bewegt er sich durch die flanierende Menge: ein Riese im Puppenhaus. «Guck mal», sagen die Leute, «Kurt Wallander!» und wünschen dem Schauspieler Rolf Lassgård einen guten Abend. Der grüßt leutselig zurück.
Ein Menetekel? Gerade wegen der Wallander-Figur, hatte Arne Dahl am Morgen etwas grimmig konstatiert, seien die Krimis seines Kollegen Mankell schließlich fade geworden. «Alles um eine Person zu zentrieren, das geht nicht mehr. Die Geschichten büßen ihre Dynamik ein, alles, was bleibt, sind Wiederholungen. Ich jedenfalls möchte nicht immer wieder dasselbe Buch schreiben.» Grundlose Sorge. Aber Rolf Lassgård als Gunnar Nyberg könnte eine gute Idee sein: ein optisches Erkennungssignal dafür, wer der legitime Nachfolger Henning Mankells im Kriminal-Olymp ist.
Bücher von Arne DahlMisterioso
Aus dem Schwedischen von Maike Dörries.
Piper TB, München 2003. 352 S., 8,95 €
Böses Blut
Piper TB, München 2004. 368 S., 8,95 €
Falsche Opfer
Piper TB, München 2005. 388 S., 8,95 €
Tiefer Schmerz
Piper TB, München 2006. 432 S., 8,95 €
Rosenrot
Piper TB, München 2007. 416 S., 8,95 €
Ungeschoren
Piper, München 2007. 432 S., 19,90 €
Alle Übersetzungen seit «Böses Blut» von Wolfgang Butt
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