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(Maurice Weiss) Das Begehren ist zentrales Thema in Emckes neuem Buch

Carolin Emcke - „Ich verehre Péter Nádas“

Sexualität ist ein Leitmotiv im Werk von Péter Nádas. Wir sprechen mit Carolin Emcke, die gerade ein Buch über das Begehren geschrieben hat

Wie sich geschichtliche Erfahrungen in Körper einschreiben, und wie Sexualität und Begehren durch Gewalt und gesellschaftliche Konventionen geformt oder deformiert werden – davon handeln unter anderem Péter Nádas’ «Parallelgeschichten». Für uns ist dies der Anlass, mit der Publizistin und Reporterin Carolin Emcke zu sprechen, die für «Die Zeit» in Kenia, Gaza, Irak oder Pakistan unterwegs ist und 2010 zur «Journalistin des Jahres» gewählt wurde. In ihrem Buch «Wie wir begehren» fragt sie, was es heißt, lesbisch, schwul oder heterosexuell zu werden. Gleichzeitig ist ihre Analyse des Begehrens auch eine persönliche Coming-of-Age-Geschichte. Woher das Wollen kommt, wie man ein Ich wird, warum man manchmal, aber nicht immer zu Gruppen gehört – danach fragt Emcke in ihrem Buch. Und erzählt uns, warum sie das Werk von Péter Nádas so fasziniert.

Frau Emcke, in Ihrem Buch denken Sie darüber nach, dass man Identitäten meistens als etwas Abgeschlossenes und Statisches begreift und nicht als wandelbare Größen. Das scheint mit einer Art Authentizitäts-Wahn einherzugehen, über den Sie auch schreiben. In Talkshows etwa sind Subjekte gefragt, die als echter Muslim oder als echter Homosexueller sprechen – und dann auch immer gleich auf diese eine Identität festgelegt werden. Ist das Authentische wieder auf dem Vormarsch?
Der Begriff des Authentischen hat schon eine ganze Weile Renaissance, ich würde sagen, etwa seit Anfang der neunziger Jahre. In der US-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte wurde «das Authentische» auf Kulturen bezogen: Man hat die religiösen, kulturellen, politischen Rechte von Minderheiten oftmals mit einem authentischen kulturellen Kern begründet, der vorgeblich auch über Generationen unverändert bliebe, auch wenn Familien migrieren. Das war mir immer schon unheimlich, dass Gruppen einen ahistorischen, statischen Kern haben sollen, alles Dynamische, Bunte, Lebendige innerhalb von Kulturen wird dadurch gleichsam monochrom. Über das «Was» der Authentizität wird selten reflektiert. Was sollte das denn auch heißen: ein «authentischer Jude» zu sein, eine «echte Muslima» oder eben ein «authentischer Homosexueller»?

In Ihrem Buch gibt es ein Ich und gelegentlich auch ein Wir. Um Rechte durchzusetzen, muss man temporär Gruppen bilden – einerseits. Anderseits sagen Sie aber auch, dass Sie immer gezögert haben, «Mitglied einer Partei» zu werden.
Nun, erstmal ist es eine subjektive Erzählung. Ich erzähle die Geschichte einer Jugend, in der sich ein Ich erst entdecken lernt, die eigenen Wünsche, das eigene Begehren – und das mit der Frage ringt, wie sich Wünsche von Konventionen unterscheiden lassen. Gleichzeitig befragt das Buch die Bedingungen des «Wir». Wann ist meine Zugehörigkeit selbst gewählt, wann bedeutet sie Schutz, wann ist sie zugeschrieben und bedeutet Ausgrenzung? Sich als Angehörige einer Gruppe zu fühlen und gleichzeitig die eigene Individualität zu artikulieren, das ist ein Konflikt, den nicht nur Homosexuelle empfinden. Mir ist meine Individualität wichtig, aber selbstverständlich ist auch: Solange in vielen Ländern Menschen, die so lieben und begehren wie ich, angeklagt, ausgepeitscht oder aufgehängt werden können, so lange verteidige ich dieses «Wir».

Die Geschichte Ihrer Kindheit und Jugend vergegenwärtigt, wie diese manchmal subtilen, oft auch brutalen Gruppenbildungen mit ihren Ausschlussmechanismen funktioniert haben. Sie erinnern sich an die Feten in den Partykellern Ihrer Mitschüler und daran, wie Sie sich in Jungen verliebt haben. Sie rekonstruieren Ihr Unbehagen beim «Bravo»-Lesen oder auch Ihre Begeisterung für Ihren Handballverein. Wenn Sie vom ebenso abenteuerlichen wie qualvollen Zauber des Erwachsenwerdens erzählen, löst das Erinnerungen an die bundesrepublikanischen achtziger Jahre aus. Die Art und Weise, wie damals über Sexualität gesprochen wurde, wirkt heute so hilflos technisch. Sex kommt vor allem als Reproduktionskrücke vor, in Schaubildern von Geschlechtsorganen.
Gewiss spielt diese Geschichte in einer bestimmten historischen Zeit: nach den politischen Aufbrüchen von 68 und vor Aids. Das Reden über Sexualität war immerhin schon von Fragen der Sittlichkeit und der Religion entkoppelt, es war biologistisch, aber war es deswegen schon frei? Anderes an dieser Erzählung ist, hoffentlich, allgemeingültig. Das Suchen nach der eigenen Form zu lieben und zu begehren, das Unsichere, noch Unbestimmte der Pubertät, das Leiden an dem Sprachlosen dieser Zeit, die Angst vor der Ausgrenzung – das teilen alle, homosexuell oder nicht. Die Frage, wie anders man sein möchte, sein darf, ohne noch genau zu wissen, woraus diese Abweichung besteht – das hat nichts mit den siebziger oder achtziger Jahren zu tun. Insofern ist dies eine Coming-of-Age-Geschichte und keine Coming-out-Geschichte. Ich muss mich nicht outen, und ich muss nichts «bekennen». Die Frage des Buches ist eine existentielle: Wie finde ich heraus, wer ich sein will, in welchen Phantasien erfinde ich mich, wenn in der Literatur oder im Film nur begrenzt Vorlagen oder Vorbilder zur Verfügung stehen?

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Das ist eine Frage, die Sie immer wieder variieren. «Gibt es einen inneren Kern der Lust, der (…) nach einer Form sucht?» – «Wird das Begehren erst geformt»? oder «Braucht die Phantasie das Wissen von dem, was möglich wäre, oder speist sie sich aus sich selbst?» Der innere Kern und die äußeren Formen: Kann man sagen, was davon zuerst da war?
Ich gebe in dem Buch darauf keine endgültige Antwort. Es kann sein, dass es eine innere Anlage gibt, die nach und nach zum Ausdruck kommt, es kann sein, dass es ein eindeutiges Begehren gibt, das erst entdeckt werden will. Und es kann sein, dass das Begehren bei manchen offener ist, dass es ambivalenter ist, sich wandelt, wächst, sich vertieft. Wie leicht sich die eigene Lust verstehen oder leben lässt, hängt aber auch davon ab, ob ich weiß, dass es diese Lust und dieses Leben überhaupt gibt und geben darf. Soziologen würden sagen, dass wir Scripts brauchen.

Was ist denn unter einem Script zu verstehen?
Wir brauchen Drehbücher, um Vorstellungen zu entwickeln, wer wir überhaupt sein wollen. Ich kann nur in der Rekonstruktion meiner Geschichte und der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, mich selbst befragen. Ich habe ziemlich lange gebraucht, um meine eigene Phantasie als meine eigene Phantasie zu deuten. In der entscheidenden Szene, in der ich zum ersten Mal eine Frau aufregend fand – das war mit fünfundzwanzig Jahren – habe ich im ersten Moment gedacht: Die müssten Männer aufregend finden. Ich habe meinen Blick auf eine Frau gar nicht als meinen Blick erkannt. Dass ich homosexuell begehren könnte, kam mir zunächst nicht in den Sinn. Die Pubertät, das Leid für alle, die etwas anders begehren, etwas anders sein wollen, besteht doch darin: Ihre Empfindungen gehen nicht mit den Vorstellungen zusammen, wie sie lieben oder sein sollten. Das ist es, was mich interessiert. Nicht nur ein Begehren zu haben, das unterdrückt und verboten ist, sondern das Begehren überhaupt nicht so leicht identifizieren zu können als eigenes Begehren, weil die Phantasie dazu fehlt. Ich bin Habermas-Schülerin und mit der Lektüre von Hannah Arendt sozialisiert: Ich glaube an narrative Identität, daran, dass wir als sprachliche Wesen uns nur selbst verstehen und verständigen, indem wir uns Geschichten erzählen. Deswegen habe ich auch dieses Buch geschrieben: damit es eine Erzählung mehr gibt, die vielleicht Menschen hilft, ihr Begehren zu begreifen, die in so einem Text ihre Phantasien entdecken können.

Sie fragen sich, ob Ihnen das homosexuelle Begehren mehr Freiräume lässt – auch, weil es historisch noch nicht so gelabelt ist und weil es uneindeutiger bleiben kann, ohne die jahrhundertealten Bilder davon, wie sich Männer und Frauen am besten zueinander verhalten. Das erinnert sehr an Péter Nádas’ «Parallelgeschichten», die literarisch untersuchen, wie sich Geschichte in Körper eingeschrieben hat; in entscheidenden Szenen des Romans hat man den Eindruck, dass das heterosexuelle Begehren ungleich stärker von historischen Rastern geprägt ist.
Ich verehre Péter Nádas. Mich fasziniert, sei es in seiner «Spurensicherung» oder auch im «Buch der Erinnerung», wie er Geschichten am Nichtwissen entlang erzählt – das Bewusstsein, etwas nicht vollständig rekonstruieren zu können. Ich würde auch sagen, dass sich geschichtliche Erfahrungen in Körper einschreiben. Es sind historisch vorgegebene Bilder, in denen wir uns spiegeln. Und die Geschichte der Bilder, der Rollen, der Muster, in denen Menschen sich selbst und ihre Körper begreifen, ist für Heterosexuelle länger und beladener.

Gibt es nicht auch Vorbilder für schwule und lesbische Beziehungen, und riskiert man nicht, das homosexuelle Begehren zu einer Art Utopie zu erklären, eben zum offeneren, weniger machtgeprägten Modell?
Nein. Ich will nicht behaupten, dass homosexuelles Begehren normativ höherwertig sei, und auch nicht, dass homosexuelle Beziehungen per se macht- oder konfliktfrei seien. Ich halte sexuelle Orientierung für überhaupt keine moralische Kategorie. Die eine Form der Lust ist nicht besser oder schlechter als die andere. Sie ist eben nur eine Form der Lust. Was die Beziehungen angeht: Wir lieben und trennen uns ja wie andere auch. Wenn ich aber über heterosexuelle Erotik nachdenke, kommt eine ganze Ideengeschichte des Begehrens damit einher, und so verstehe ich auch Peter Nadas; traditionelle Vorstellungen von der bürgerlichen Familie, von historisch kodifizierten Praktiken, Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Ich denke, es ist für Homo­sexuelle – noch – etwas leichter, diese tradierten Bilder und Normen zu unterwandern. Wer ohnehin abweicht von der Norm, wer ohnehin ausgeschlossen ist, der kann etwas freier die eigenen Phantasien ausleben. Das ändert sich vermutlich in ein oder zwei Generationen, wenn es ähnlich viele ästhetische und soziale Codes für schwule und lesbische Paare gibt, wenn es genauso einengende Traditionen gibt, aus denen man sich dann wieder befreien muss.

Es gibt noch eine zweite Verbindung zu Nádas’ «Parallelgeschichten»: Dass sich Gewalt über Generationen hinweg in die Körper einschreibt, hat auch mit der nationalsozialistischen Rassenhygiene zu tun, die im Roman eine wichtige Rolle spielt. In Ihrem Buch verfolgen Sie den biopolitischen Wahn vom gesunden Volkskörper am Beispiel des Paragrafen 175 – der bis weit in die Geschichte der BRD hinein gewirkt hat, zum Teil sogar bis in die Gegenwart.
Es gibt Motive aus dem Nationalsozialismus, die lange fortwirkten, und zwar die Vorstellungen von «Krankheit» und von «Ansteckung». Das Motiv, dass «das Andere» nicht nur «entartet», «pervers» oder krank, sondern eben auch ansteckend sei, findet sich in der Geschichte des Paragrafen 175. Diese Angst vor Ansteckung setzt sich fort. Die Diskussion um die Adoption von Kindern zum Beispiel, die Homosexuellen in Deutschland nicht gestattet ist, operiert unterschwellig mit solchen biopolitischen Motiven, als könnten homosexuelle Eltern ihre Kinder «infizieren».

Um noch eimal auf das Thema Ihres Buches zurückzukommen: Es war die Musik, die Ihnen eine ganze Welt eröffnet hat. Die Phantasie braucht Bilder vom geglückten Leben, um zu eigenen Wünschen zu kommen, schreiben Sie. Ist «Wie wir begehren» auch deshalb ein Buch, das eine glückliche Geschichte erzählt?
Ja, für mich handelt dieses Buch nicht nur vom Begehren, sondern auch von Musik. Klassische Musik war für mich die Sprache, über die ich mich artikulieren konnte. Und: Ja, ich wollte unbedingt eine glückliche Geschichte erzählen, eine, die aus den Diskursen von Identität und Differenz herausführt. Und eine, die denen, die noch heute leiden am Schweigen über das Begehren, eine Erzählung anbietet, eine glückliche.

Carolin Emcke: Wie wir begehren. S. Fischer, Frankfurt 2012. 254 Seiten, 17.99 €.

 

 

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