Gerade ist sein Opus Maximus fertig geworden: Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki legt seinen vollständigen Kanon der Deutschen Literatur vor, einen „Kanon für Leser“, wie er betont. Im Cicero-Gespräch zieht er Bilanz.
Herr Reich-Ranicki, Sie können in diesen Tagen auf den ganzen Kanon der deutschen Literatur blicken, wie Sie ihn zusammengestellt haben: fünfzig Bände – Romane, Erzählungen, Dramen, Gedichte, Essays. Das ist ein großes Werk. Aber es ist auch ein einzigartiges Werk. Wie fühlen Sie sich jetzt?
Als ich das begann, war ich mir nicht sicher, ob ich den Schluss noch erleben werde. Es ist sicher, ich habe es noch erlebt. Der letzte Teil ist soeben erschienen. Wie bei jeder größeren Arbeit, und diese ist ja nun besonders groß, muss man damit rechnen, dass das Echo viel kleiner ist als ursprünglich gehofft. Man glaubt immer, die Sache wird ein starkes Echo haben. Na ja, bisher ist das Echo auf den Kanon eher dürftig oder doch eher schwach. Wie ich mich fühle? Ich habe mein Möglichstes getan. Der Kanon hat natürlich Fehler und Schwächen. Die wichtigste Schwäche ist eine, die mir nicht erst im Nachhinein bewusst wurde, sondern von der ich von Anfang an wusste – dass die Verteilung auf die einzelnen fünf Gattungen nicht richtig funktionieren würde. Dabei ist es sehr einfach zu erklären, warum sie nicht funktionieren kann. Beginnen wir mit dem ersten Teil, den Romanen. Ich habe zwanzig Romane ausgewählt, das ist viel zu wenig, das ist nicht gut. Ich hätte dreißig oder vierzig, mindestens aber fünfundzwanzig nehmen müssen.
Warum diese Begrenzung auf zwanzig?
Ich konnte nicht mehr Romane nehmen, weil die Menge von zwanzig Romanen schon acht, nein eher achteinhalb Kilo wiegt. Also, der Kunde müsste mit einem Gepäckträger in den Buchladen kommen, um die Kassette nach Kauf mitzunehmen. Ich musste es auf zwanzig Romane beschränken. Da ist es auch schon schwer. Und es fehlen natürlich wichtige Romane, die berücksichtigt werden müssten, eigentlich. Es war nicht anders möglich.
Können Sie einen Roman nennen, der drin sein solle und jetzt fehlt?
Gar keinen. Ich habe im Moment keinen Roman im Auge. Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht, weil ich mir so lange darüber Gedanken gemacht habe, als ich den Kanon zusammenstellte. Jetzt, hinterher, wo die Kinder in den Brunnen gefallen sind, hat es keinen Zweck, sich Gedanken zu machen. Es gibt eine Sache natürlich, die man beanstanden kann. Ich habe ja nur einen einzigen lebenden Autor im Kanon. Das ist Günter Grass („Die Blechtrommel“). Er ist nicht der Jüngste, Thomas Bernhard („Holzfällen“) ist jünger. Aber Thomas Bernhard lebt nicht mehr.
Vielleicht hätte man einen unserer großen Unterhaltungsschriftsteller berücksichtigen sollen, Hans Fallada, vielleicht mit seinem Roman „Kleiner Mann, was nun?“. Auch im 19.Jahrhundert gab es einiges davon. Ich wohne hier in Frankfurt in der Gustav-Freytag-Straße. Aber ich wollte keinen Roman von dem im Kanon. Auch keinen Immermann. Nein, das Problem war ja, ich wollte einen Kanon machen, der es aus heutiger Sicht sein sollte. Und nicht die mitgeschleppten Romane, die über hunderte Jahre alt sind. Die man immer und immer wieder abdruckt.
Man muss sich damit abfinden, dass die meisten Werke der Literatur allmählich verschwinden. Manche existieren fünfzig Jahre, manche sogar hundert Jahre, aber ganz wenige länger. Das soll heißen, sie existieren wohl für die Philologie, aber eben nicht mehr für die Leser. Ich habe ja im Grunde genommen – das ist ja das Interessante am Roman-Kanon – zwanzig Romane genommen, aber nur von drei Autoren je zwei Romane. Die drei sind Goethe, Fontane und Thomas Mann. Von den anderen jeweils einen Roman.
Sie werden demnächst sechsundachtzig Jahre alt, Sie lesen seit etwa siebzig Jahren Romane, das ist etwa ein Viertel der Zeit von Goethes „Werther“ (1774) bis heute. In ihrem Kanon sind jedoch die Hälfte der Romane zu Ihren Lebzeiten erschienen. Weshalb diese Ungleichverteilung? Finden Sie die neueren Romane besser?
Es geht doch zunächst darum, dass es Romane sein müssen, die noch lesbar sind. Ich habe irgendwo einen Satz gesagt, ich weiß nicht mehr, wo, aus dem der Verlag einen Slogan gemacht hat: „Dies ist ein Kanon für Leser.“ So war er gedacht. Historiker mögen sich mit den Romanen von Wieland beschäftigen und von Ludwig Tieck. Ich glaube, die gehören in einem Kanon für Leser nicht rein. Der Kanon für Leser beginnt mit Goethe, hat seinen Höhepunkt mit Fontane und sein Ziel mit Thomas Mann und schließlich mit Grass.
Zweierlei war zu berücksichtigen. Ich wollte einen Kanon machen, der objektiv und subjektiv in Ordnung ist. Objektiv soll heißen: Er soll das, was literarisch wirklich wichtig ist und was bis heute lebendig ist, sein. Subjektiv: Der Kanon soll meinen persönlichen Geschmack erkennen lassen, mein Gesicht und meine Perspektive wiedergeben.
Und dann gibt es noch einen anderen Aspekt, der wichtig ist: Das ist kein Kanon der Literatur der Deutschen, vielmehr ein Kanon der deutschen Literatur, das soll heißen, ein Kanon der Literatur der Deutschen, der Österreicher und der Schweizer. So sind wahrlich Titel drin, die verwundern. Das tut vielleicht die „Strudlhofstiege“. Aber ich habe den Roman von Doderer reingenommen. Ich bin sicher, dass die Österreicher ihn für sehr wichtig halten. Manche Deutsche wahrscheinlich weniger wichtig. Mir erschien es richtig.
Sie haben in einer Ihrer Antworten auf fragende Leser in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Fontanes „Stechlin“ als einen von drei Romanen bezeichnet, den Sie mit auf eine einsame Insel nehmen würden. Der fehlt im Kanon. Gibt es stattdessen dort einen Roman, den Sie umgekehrt nicht mehr notwendig in Ihrer Nähe haben müssten?
Ja also, ich habe als junger Mensch natürlich sehr den „Grünen Heinrich“ von Gottfried Keller geschätzt. Aber dass ich den Roman so furchtbar geliebt hätte, das wäre übertrieben. „Effi Briest“ und der „Stechlin“ standen mir viel näher als der Keller. Es war dann aber doch nötig, den „Grünen Heinrich“ mit hineinzunehmen.
Und bei den Dramen?
Nun, bei den Dramen gilt das ganz bestimmt. Wollen wir mal sehen.
Bei der Durchsicht der 43 Stücke Ihres Kanons – von 23 Autoren – kann man den Eindruck gewinnen, das deutsche Theater sei alles in allem der Aufklärung verpflichtet, mit leichter Tendenz nach links.
Ich weiß nicht, ob man das so formulieren kann, es gibt ja verschiedene Aspekte, die mich dazu gebracht haben, dieses oder jenes Drama aufzunehmen. Ein Dramatiker, bei dem ich lange überlegt habe, ob ich ihn noch aufnehmen soll oder nicht, war Friedrich Hebbel. Schließlich habe ich „Maria Magdalena“ aufgenommen, aber Hebbel ist ein Dramatiker, der, wie ich glaube, in Vergessenheit geraten wird. Ich habe auf die Grillparzer-Dramen verzichtet, einige Österreicher mögen die. Botho Strauß ist der einzige lebende Dramatiker, den ich berücksichtigt habe. Neuere Dramatiker wie Peter Hacks, Heiner Müller und Thomas Bernhard sind ja schon tot.
Es gibt eine Linie von Lessing zu Schnitzler und Bert Brecht.
Ja, aber ist Raimund ein linker Aufklärer?
Der nun wohl gewiss nicht.
Und Nestroy? Doch, der wohl auch. Ich habe ja von Arthur Schnitzler den „Professor Bernhardi“ genommen. Und den „Reigen“ und „Liebelei“. Meiner Ansicht nach sehr wichtige Stücke.
Autoren von Gedichten! Das muss Herzenssache sein bei der Auswahl
Gar nicht schwer. Aus einem ganz einfachen Grund: Bei der Lyrik kann ich etwas tun, was ich bei einem Roman überhaupt nicht tun kann. Und beim Drama eigentlich auch nicht. Ich kann kürzere Gedichte wählen, ich kann ja so viele Gedichte auswählen. Das ist ja das Ungleichmäßige bei diesem Kanon. Ich wollte nicht nur die Lyriker aufnehmen, die man von Generation zu Generation schleppt.
Bei den großen Lyrikern des 19.Jahrhunderts und auch bei denen des 18.Jahrhunderts habe ich sehr aufgepasst, wen ich nehme. Und habe festgestellt, dass manche Dichter eigentlich besser sind, als ich gedacht hatte. Ich habe gern viele Gedichte von Mörike genommen. Natürlich steht an erster Stelle Goethe und dann Heine und Brecht. Ich habe mich bemüht, alles zu prüfen. Herausgekommen ist dabei auch eine besondere Wertschätzung für Matthias Claudius, der doch nur wenig geschrieben hat.
Neben dem großen Werk Ihres Kanons gibt es auch das gewaltige Unternehmen der „Frankfurter Anthologie“, eine Reihe von Gedicht-Interpretationen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die nächstes Jahr mit dem dreißigsten Band erscheint. Wie verhält sich die Gedicht-Auswahl hier und dort zueinander?
Na ja, ich habe sämtliche Gedichte, die in der „Frankfurter Anthologie“ waren, geprüft, ob sie in den Kanon gehören oder nicht. Es sind in der „Frankfurter Anthologie“ Gedichte manchmal nur deshalb gebracht worden, weil ein Interpret etwas darüber schreiben wollte. Der Interpret hatte auch etwas Bemerkenswertes zu sagen. Aber deshalb musste das Gedicht nicht in den Kanon. Das sind zwei sehr verschiedene Werke. Aber es gibt noch einen dritten Aspekt, der sehr wichtig ist für den Vergleich mit dem Kanon. Es gibt in einem Band von mir „Meine Gedichte“ von Walther von der Vogelweide bis heute. Darin sind nur Gedichte, die mir sehr nahe stehen oder mir besonders gefallen. Es gab nur ein Gedicht, das ich reingenommen habe in „Meine Gedichte“, aber auf gar keinen Fall in den Kanon. Das ist Hans Leips „Lili Marleen“…
„Von der Kaserne, vor dem großen Tor“…
Deutsche und englische Soldaten haben es im Zweiten Weltkrieg gleichermaßen geliebt. Ich habe eine Schwäche dafür. Das geht aber im Kanon nicht.
Gibt es das umgekehrt auch? Sie nehmen in den Kanon, was Sie eigentlich nicht mögen?
Oh ja, viele. Ein anderes Problem. Ich habe bei Goethe mehrere Gedichte, die ich nicht mag. Dennoch sind sie zum Teil mit reingenommen. „Schatzgräber“ ist etwas, was ich gar nicht mag, das aber reinmuss. „Saure Wochen, frohe Feste“, das geht gar nicht. Ich habe ab und zu Gedichte genommen, die ich nicht gerade liebe, die aber zur Geschichte der deutschen Poesie gehören und berücksichtigt werden müssen. Das gilt auch für Schiller, denken Sie an die „Glocke“.
Ist es ein Kriterium für gute Lyrik, dass man sie leicht auswendig lernt?
Nein. Es gibt Gedichte, die sich leicht auswendig lernen lassen, ohne bedeutend zu sein. Es gibt Gedichte, die schwer auswendig gelernt werden können, aber sehr gut sind. Nein, das muss nichts heißen.
Jetzt ist mit dem Erscheinen der Essay-Kassette…
…von Martin Luther bis Durs Grünbein. Es ist das erste Mal, dass es eine solche Sammlung in Deutschland gibt…
…Ihre Arbeit am Kanon beendet, und Sie können darauf nur noch zurückblicken. Was empfinden Sie dabei? Glück? Zufriedenheit?
Zufriedenheit ist das bessere Wort. Ich bin zufrieden, denn als ich den Kanon begonnen habe, habe ich sehr daran gezweifelt, ob ich ihn zu Ende bringen werde. Es hat Jahre gedauert. Aber es ist fertig. Es ist da. Wann der nächste Kanon der deutschen Literatur so vorgelegt wird, weiß ich nicht.
Und welches Schicksal wünschen Sie Ihrem Kanon?
Natürlich wünsche ich mir, dass der Kanon möglichst viele Leser findet. Und dass er den Lesern so viel Freude gibt, wie er sie mir bei der Arbeit jahrelang bereitet hat. Der Kanon macht den Reichtum des deutschen Romans bewusst, er zeigt, dass viele herrliche deutsche Erzählungen längst vergessen sind, er präsentiert uns die deutschen Dramen, wie sie geschrieben wurden, worum sich ja das heutige Theater wenig kümmert, er beweist, dass die deutsche Lyrik auch ohne Schubert, Schumann oder Mendelssohn unübertroffen ist.
Und der nun erschienene letzte Teil? Die Essays?
Der Titel ist nicht sehr glücklich. Denn hier werden auch Reden und Abhandlungen, Feuilletons und Kritiken, Aufsätze und Artikel geboten. Kurz: nichtfiktionale Prosa von hoher Bedeutung. Das wäre allerdings ein abscheulicher Titel. Der Titel „Essayistisches“ käme der Sache schon näher, doch schön klingt er nicht. Also blieb es beim Arbeitstitel „Essays“.
Die Fragen stellte Jürgen Busche
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