- Ein Bildungsroman im Comic
Der 77-jährige Yoshihiro Tatsumi zählt zu den Meistern des japanischen Comic. Seine Autobiografie ist ein großer Künstlerroman – und erscheint natürlich in Bildern
Yoshihiro Tatsumi war zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und Japan kapitulierte, seine Jugendjahre hat er in Ruinen verbracht. Seine größte Leidenschaft in jener Zeit war die Comic-Lektüre: Die amerikanischen Besatzer brachten Comic-Hefte und Zeitungs-Strips mit, und ein junger, aus Osaka kommender Zeichner namens Osamu Tezuka adaptierte den Stil von Disney-Figuren wie Bambi und Micky Maus und begann, damit spannende Abenteuer- und Science-Fiction-Geschichten zu erzählen. Tezukas Roboterjunge „Astro Boy” verteidigte mit Atomantrieb und Superkräften sein Heimatland gegen Gefahren aller Art. Aber auch Klassiker der europäischen Kultur wie „Die Schatzinsel” und „Robinson Crusoe” oder Fritz Langs „Metropolis”-Film adaptierte Tezuka für das neue Format.
Für die japanische Nachkriegsjugend sind die Comics – oder wie sie dort zumeist heißen: die Manga (zwanglosen Bilder) – schnell zur wichtigsten und am weitesten verbreiteten Lektüre geworden. Mit ihnen hielt die westliche Massenkultur Einzug in das bis dahin kulturell weithin abgeschottete Land. Doch anders als etwa die deutschen Comiczeichner in den Fünfziger- und Sechzigerjahren begnügten die japanischen Manga-Autoren sich bald nicht mehr mit der Kopie ihrer amerikanischen oder europäischen Vorbilder. Im Gegenteil, kein anderes Land der Welt hat so schnell wie Japan eine so eigenständige und differenzierte Comic-Kultur für alle Altersgruppen und Bildungsschichten entwickelt.
Und Yoshihiro Tatsumi sollte in den Fünfzigerjahren zu einem ihrer prägendsten Protagonisten werden. Leidenschaftlich verschlang er alle Tezuka-Geschichten und verehrte den gerade mal sieben Jahre älteren, aber unerhört reifen und produktiven Zeichner wie einen Gott. Wegen Tezuka begann Tatsumi auch selber zu zeichnen und wurde schnell zu einem gefragten Autor für die damals vor allem in den „kashibonya” – Leihbibliotheken – vertriebenen Kinder-Manga. Die dicken, wöchentlich erscheinenden Bücher enthielten stets mehrere Geschichten von verschiedenen Autoren und wurden wie am Fließband produziert. Nicht selten wurden die jungen, oft noch bei ihren Eltern wohnenden Zeichner von dubiosen Verlegern in Arbeits- und Wohngemeinschaften verfrachtet und dort wie Zeichensklaven gehalten. Doch gerade aus diesen scheinbar so entfremdet arbeitenden Gruppen entsprang der Geist einer ästhetischen Revolution.
„Gegen den Strom” heißt die voluminöse Autobiografie des inzwischen 77-jährigen Yoshihiro Tatsumi, die jetzt auch in deutscher Sprache vorliegt. Darin schildert er seinen Werdegang zum Comic-Zeichner und entwirft dabei zugleich ein detailreiches Panorama des Japan der ersten Nachkriegsjahre: Er zeigt die versehrten Gesichter der Kriegsgeneration und die beengten Lebensverhältnisse; er zeigt die Massen von jungen Menschen, die vom erblühenden japanischen Wirtschaftswunder in die großen Städte gespült werden – wie die Mangazeichner leben sie alle in hoffnungslos überfüllten Quartieren; es ist eine Welt, die kaum Raum zur individuellen Entfaltung lässt.
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Warum, fragt sich der junge Tatsumi alsbald, spielt gerade diese Welt in den Manga keine Rolle? Bald schon fühlt er sich zu eingeschränkt von den vorgegebenen Genres; auch will er keine Geschichten mehr erzählen, die sich ausschließlich an Kinder wenden. Vielmehr schweben ihm grafische Romane vor, die sich in ihren Themen und im ästhetischen Stil an der realistischen Darstellung orientieren, an der Psychologie echter Menschen und am alltäglichen Leben der Leser. Seine wesentlichen Einflüsse sind nicht mehr Disney-Figuren und Abenteuerromane, sondern die Filme von Akira Kurosawa und Yasuhiro Ozu oder die Hard-Boiled-Detektivromane von Mickey Spillane.
„Gekiga” nennt Tatsumi diese neue Art von Bildergeschichten, was auf deutsch so viel wie „dramatische Bilder” bedeutet. Mit ein paar gleichgesinnten Zeichnern, die allesamt für das Leihbuchmagazin „Kage” arbeiten, gründet er 1957 eine „Gekiga”-Gruppe und schreibt ihr ästhetisches Manifest: Es gehe darum, das ästhetische Potenzial der Bildergeschichten auszuloten und zu erweitern, „Manga zu zeichnen, die keine Manga mehr sind”. So werden Tatsumi und seine Mitstreiter gewissermaßen schon in den Fünfzigerjahren zu den Erfindern dessen, was man heute als „Graphic Novel” bezeichnet: Gemeinsam entwickeln sie eine literarisch inspirierte, ästhetisch reflektierte Form des Comic, die sich nicht mehr als schematische Unterhaltungslektüre versteht, sondern als eigenständige Kunstform mit einer eigenen Sprache.
„Gegen den Strom” ist ein faszinierender Künstler- und Bildungsroman; faszinierend vor allem darin, wie er schildert, wie selbst in den entfremdeten Verhältnissen einer industriell organisierten Massenkultur sich ästhetischer Eigensinn auszuformen vermag. Die Leihbüchereien verschwinden mit dem beginnenden Wohlstand im Japan Anfang der Sechzigerjahre, aber die Gekiga-Comics bleiben: Für die japanischen 68er, die Studentenbewegung und Protestkultur werden sie mit ihrem ungeschönten, oft düsteren Realismus, mit ihren politischen und historischen Themen zum wichtigsten Medium.
Yoshihiro Tatsumi: Gegen den Strom. Eine Autobiografie in Bildern. Carlsen, Hamburg 2012. 850 S., 44 €
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