- Stadt, Land, Fluss
Eine kulturhistorische Reise entlang der Neiße durch das kleine „Europa der Regionen“
Kennen Sie Kamjenc, Budyšin oder Běła Woda? Es sind Orte in der Oberlausitz. Die Straßenschilder in Teilen dieser Gegend sind zweisprachig. Die zweite Sprache ist hier eine slawische: Sorbisch. Sie ist eine Besonderheit der Lausitz, und beileibe nicht die einzige. Das Gebiet um Zittau macht auf den ersten Blick einen verschlafenen Eindruck. Lange Zeit jedoch war es an den Lebensadern Mitteleuropas gelegen. Wichtige Handelswege, wie die Salzstraße, führten hindurch, aber auch der Wallfahrtsweg nach Santiago de Compostela. Die Jakobsmuschel als Kennzeichen der Pilger grüßt hier noch heute von Kirchen und Gasthäusern und weist den Wanderern den Weg. Große Speicher, wie das Salzhaus in Zittau, aber auch die eindrucksvollen Renaissance-Bürgerhäuser, wie etwa das Dornspachhaus, zeugen von bürgerlichem Wohlstand und dem Selbstbewusstsein vergangener Zeiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Lausitz in eine Randlage gedrückt. Die Neiße, vorher mitten in Deutschland, wurde zum Grenzfluss. Mit der Solidarność-Gründung im sozialistischen Bruderstaat Polen wurde er auch für Ostdeutsche so gut wie unüberquerbar.
Die deutschen Namen der eingangs erwähnten Orte lauten übrigens: Kamenz, Bautzen und Weißwasser. Was in vielen dieser Städte ins Auge fällt, ist die großflächige Erhaltung historischer Bausubstanz. Unter den Baudenkmälern sind wahre Kleinodien: Die St.-Johannis-Kirche in Zittau etwa verfügt über eine Silbermannorgel; das Rathaus wurde im venezianischen Stil errichtet. Bautzen besticht mit mittelalterlicher Altstadt und einem historischen Markt. Görlitz, das man von Zittau über einen Radwanderweg erreichen kann, war schon im 15. Jahrhundert Ausflugsziel: Dort findet man noch heute eine Nachbildung des Heiligen Grabes in Jerusalem, das die historische Topografie zur Zeit der Kreuzigung Christi präziser abbildet als das Original.
Hollywood in Görlitz
Die Grabkapelle und die Kreuzigungskapelle sind baulich getrennt, anders als in Jerusalem, wo heute eine architektonisch recht verbaute Kathedrale die drei heiligen Orte – Salbstein, Kreuzigungshügel und Grabeshöhle – unter einem Dach vereint. Sogar einen stilisierten Garten Gethsemane besitzt die Görlitzer Anlage, jenseits eines angedeuteten Jordantals. Aber warum diese Kopie, so fern des östlichen Originals? Die Antwort ist eigentlich simpel: Eine Wallfahrt war im Mittelalter eine teure Angelegenheit. Nach Görlitz hingegen kam nahezu jeder. Die Stadt an der Neiße war ein florierender Verkehrsknoten mit Laufkundschaft. Und der Kirche war es egal, ob man das Vorbild in Jerusalem oder das Nachbild in Görlitz bewallfahrtete.
So kommt es vielleicht nicht von ungefähr, dass 500 Jahre später auch die Traumfabrik von Hollywood die Stadt mit ihren besonderen Locations für sich entdeckt hat. Teile der Bernhard-Schlink-Verfilmung „Der Vorleser“ wurden hier gedreht, vor allem aber erstrahlt das glamouröse Warenhaus, eines der besterhaltenen Jugendstil-Kaufhäuser, an prominenter Innenstadtstelle. Der prestigeträchtige Bau lieh sein Inneres als spektakuläre Kulisse dem Wes-Anderson-Film „Grand Budapest Hotel“. Auch Bill Murray hat in Görlitz gedreht. Mit ein Grund dafür, dass sich die durch die Neiße geteilte Stadt mittlerweile mit dem Etikett „Görliwood“ schmückt. Die Grenze zu Polen verläuft in der Mitte einer Fußgängerbrücke, die man heute problemlos und ohne jede Kontrolle von beiden Seiten passieren kann.
Über Jahrhunderte war die Oberlausitz eine Art nördlicher Appendix Böhmens. Wer heute von Graz oder Salzburg kommt und womöglich über Budweis oder Brünn zum Zisterzienserinnenkloster St. Marienthal gelangt, erkennt diesen kulturellen Zusammenhang auf den ersten Blick: Die barocke Gestalt der Zwiebeltürme verweist deutlich ins Südosteuropäische. Und das nur eine Kanufahrt neißeabwärts von Zittau.
Fürst Pücklers Begeisterung für England
Eine Kuriosität findet sich auch in der Gruft der imposanten Kirche des Klosters. Dort liegt Henriette Sontag, die erste Gesangsvirtuosin der deutschen Musikgeschichte. Goethe nannte sie einst seine „flatternde Nachtigall“. Konzertreisen führten sie bis nach England und Amerika. 200 Jahre vor der Erfindung von Fernsehen und Internet begeisterte sie ein weltweites Publikum. Den prominenten letzten Ruheort hat Henriette Sontag ihrer älteren Schwester zu verdanken, die Äbtissin in St. Marienthal war. Was hätten sie sich zu erzählen gehabt, der skandalumwitterte Star von Weltrang und die Gott angetraute Lausitzer Nonne. Leider kam es nicht zum klösterlichen Dialog, denn „die Sontag“ verstarb in Mexiko auf Konzertreise und wurde erst posthum ins Tal der Neiße gebracht.
Nicht nur der Fluss, auch ein leidenschaftliches Herzensband verknüpft die charmante Klosteranlage in der Nähe Zittaus mit einem anderen prominenten Ort an der Neiße: Bad Muskau. Hier residierte einst einer der exzentrischsten Adligen des 19. Jahrhunderts, der Gartenkünstler und Orientreisende Fürst Hermann von Pückler-Muskau. Und just der hatte sich in London in die atemberaubende Henriette Sontag verliebt. Was er indes nicht wissen konnte: Die Diva war heimlich mit einem sardischen Adligen verheiratet, der sich für die Ehe mit einer Sängerin noch schämte. Pückler machte der Sontag einen Heiratsantrag – den die Sängerin natürlich ablehnen musste. Fortan litt er fürchterlich unter der Abfuhr. Jetzt ruhen die Entflammten nur eine zweistündige Autofahrt voneinander entfernt: Fürst Pückler in einer selbst entworfenen Pyramideninsel in Branitz, „die Sontag“ in der Barockgruft der Kloster-Schwester.
Von einer frühen Englandreise war Fürst Pückler – ja, das berühmte Eis ist nach ihm benannt – derart inspiriert zurückgekehrt, dass er einen der grandiosesten Englischen Gärten auf dem Kontinent anlegte. Das Bett der Neiße hat er dafür teilweise in einen künstlichen Flusslauf verlegen lassen. Um Landschaftsgemälde mit echten Büschen und Bäumen zu malen, um Alleen und künstliche Berge mit den bestmöglichen Ausblicken zu erschaffen, musste er sich so hoch verschulden, dass er am Ende keinen anderen Ausweg wusste, als zum zweiten Mal nach England zu reisen und nach einer wohlhabenden Gattin Ausschau zu halten. Der Plan missglückte, und Fürst Pückler musste sein Schloss mitsamt Park verkaufen. Heute gehört die Anlage zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Caspar David Friedrich und Krabat
Ein anderer Ort der Lausitz wurde ganz ohne Pücklers Zutun zu einer besonderen Sensation: Der Berg Oybin, ein ebenso schroffer wie sehenswerter Felsen oberhalb Zittaus mit einer Klosterruine, wurde durch Caspar David Friedrich zu einer der wichtigsten Ikonen der Romantik. Um das Jahr 1812 wanderte Caspar David Friedrich zusammen mit dem Malerfreund Friedrich Kersting durch diese Gegend und ließ sich von der besonderen Mystik des Berges inspirieren. Andere Wandergesellen schufteten in einer Mühle, wie Krabat, der sorbische Zauberer. Die Erzählung um den Müllerburschen, der das Handwerk der schwarzen Magie erlernt und seinem Meister durch eine List entkommt, wurde von Otfried Preußler romantisch und anspruchsvoll für unsere Gegenwart aufgearbeitet. Historisch soll Krabat aus der Zeit Augusts des Starken stammen und ihm in seinen Feldzügen beigestanden haben. Der Kern des Mythos aber ist älter und wurzelt in slawisch-heidnischer Zeit. Der literarisierte Krabat jedenfalls wurde zu einer Art Nationalepos der Sorben – und das ganz ohne Nation!
Dass Krabat darüber hinaus aber im besten Sinne „multikulti“ ist – so wie die ganze Region im Dreiländereck –, wurde deutlich, als Preußlers Version der Sage sowohl den tschechischen als auch den polnischen und deutschen Jugendbuchpreis errang. Die slawischen Wurzeln finden sich auch in den Namen der Müllerburschen wieder: Lyschko, Tonda, Hanzo, Witko oder Lobosch. Die angebetete Kantorka trägt den Namen der sorbischen Vorsängerin zum Osterbrauch. Die Sorben vereinen slawische Mystik und katholischen Glauben. Mit dem sogenannten Osterreiten, das vor allem in der Gegend nordwestlich von Bautzen als lebendiges Brauchtum gepflegt wird, wurde das heidnische Ritual, die Fruchtbarkeit der Felder durch Umritte zu beschwören, ins Katholische übertragen. Selbst wer mit Religion wenig vertraut ist, ist beeindruckt von der Wirkung der schwarz gekleideten Reiter, die mit fliegenden Frackschößen und Zylindern die Monstranz begleiten. Die sorbischen Segnungslieder werden mit Inbrunst gesungen.
Ein Europa der Regionen
Gestüte aus ganz Sachsen stellen ihre Pferde zur Verfügung, und Touristen aus aller Welt harren auf Feldwegen oder im Hof des Klosters St. Marienstern in Panschwitz-Kuckau aus, um Zeugen dieses Brauchtums zu werden. Wer sich tiefer mit der Oberlausitz befassen will, der muss graben. Nicht nach Braunkohle wie in der Niederlausitz, sondern nach den kulturellen Wurzeln. Die Region, die seit dem Mittelalter ein zusammenhängendes Territorium mit mehr oder weniger unverändertem Zuschnitt ist, beheimatet eine Schnittstelle der Kulturen. Mal war der Kurfürst von Sachsen, mal der Markgraf von Brandenburg, ein anderes Mal wiederum der König von Ungarn oder Böhmen oder gar der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches höchster Landesherr.
Doch Prag war weit, Wien noch weiter und selbst Dresden eine Tagesreise entfernt. Dies führte zu einer starken Rolle der Landstände und der Städte. Den Höhepunkt bürgerlicher Selbstbestimmung erreichte die Landschaft an der Neiße mit dem Sechsstädtebund. Die durch den Handel erstarkten Bündner Zittau, Görlitz, Bautzen, Kamenz, Lauban und Löbau erlangten mit ihrem Zusammenschluss im Jahr 1346 eine erhebliche Selbstständigkeit gegenüber dem damaligen Landesherrn, dem böhmischen König Karl IV. Die bedeutendsten Städte der Oberlausitz unter der Führung Zittaus unterhielten Verbindungen nach Böhmen und Schlesien genauso wie nach Italien oder Ungarn. Und das, ohne dem Regenten Rechenschaft schuldig zu sein! So gab es in den Sechsstädten bereits ein „Europa der Regionen“, lange bevor dieses Schlagwort wirklich erfunden war.
Eine Sonderrolle spielten auch die Klöster, die erhebliche eigene Macht entfalteten. Diese Lausitzer Besonderheit führte dazu, dass das gesamte Gebiet bis heute kein einheitliches Glaubensgebiet ist. Die reichsweite Regelung cuius regio, eius religio galt hier nicht,da es keinen gebietseinheitlichen Feudalherren gab. Im Einflussgebiet der Klöster St. Marienstern und St. Marienthal blieb die Bevölkerung katholisch, in den Territorien der protestantisch gewordenen Fürsten war man evangelisch, in den unabhängigen Städten gab es beides.
Erwachen aus dem Dornröschenschlaf
So gibt es bis heute in der Oberlausitz – anders als im übrigen Sachsen – einen hohen Anteil Katholiken. Was lebendig und erfahrbar ist, ist nicht nur der spannende Kulturmix, sondern auch eine lebendig gebliebene Spiritualität, die den Glauben wie den Aberglauben der Vorfahren ernst nimmt. Krabat oder der wandernde Zauberer Pumphut sind die populäre Vorhut einer ganzen magischen Schar von trickreichen Irrlichtern, dem heimtückischen Wassermann oder der grausamen Mittagsfrau, die nur von den Schlauen und Fleißigen überlistet werden können. Und schlau und fleißig sind die Menschen hier alle.
Doch die Zeiten, da sie im Zentrum der Aufmerksamkeit lagen, sind vorbei. Die Bewerbung Zittaus mitsamt der Neiße-Region zur Europäischen Kulturhauptstadt ist ein Versuch, die Region erneut aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Das eine oder andere Mal ist das in der Vergangenheit schon gelungen.
Fotos: Jürgen Matschie/Städtische Museen Zittau, Jürgen Matschie/Städtische Museen Zittau, Christoph Irrgang/bpk/Hamburger Kunsthalle, Privatsammlung in der Hamburger Kunsthalle, bpk/Museum Georg Schäfer Schweinfurt
Dies ist ein Artikel aus dem Sachsen-Sonderheft „Einblicke“ von Cicero und Monopol.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.