- „Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende“
Ulrich Gutmair schreibt in „Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende“ über ein längst verschwundenes Berlin, in dem der Techno der Sound des Aufbruchs war und der anarchische Geist des anything goes bunte Blüten trug. Ein unwiederbringliches Hier und Jetzt
Auferstanden aus Ruinen: Nur wenige Wochen dauert es nach dem Mauerfall im November 1989, bis das Zentrum des alten Ost-Berlin, die Gegend zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße, zum Zentrum einer neuen Pop- und Kunst-Boheme wird. Aus dem Westen der Stadt, aber schon bald auch aus dem restlichen Deutschland und der ganzen Welt strömen abenteuerlustige junge Leute nach Mitte und besetzen die Brachen und leerstehenden Häuser.
In halbverfallenen Fabriketagen werden Ateliergemeinschaften gegründet und jene Galerien, in denen der spätere Kunst-Boom erblüht. In Kellerlöchern und Hinterhof-Garagen entstehen Bars und die ersten von jenen Clubs, in denen Techno zum prägenden Sound des nun wiedervereinigten Deutschland wird: jene Musik, zu der die ost- und westdeutsche Jugend erstmals gemeinsam tanzt; und jene Musik, wegen der Jugendliche aus aller Welt bis heute in die Stadt kommen.
Der anarchische Geist des anything goes
Ein einzigartiger Moment in einer unwiederbringlichen historischen Situation: Ulrich Gutmair, Zeitzeuge der Nachwendejahre und heute Kulturredakteur bei der «taz», hat diese längst wieder verschwundene Welt in einem wunderbaren kleinen Büchlein eingefangen. In «Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende» erzählt er vom Berlin der frühen Neunziger, porträtiert die Protagonisten jener Zeit und beschreibt die prägenden Orte vom Tacheles bis zum Techno-Club «Ständige Vertretung»; er schildert, wie die West-Berliner Szene den Osten entdeckte und sich dort vom Mief der Mauerstadt-Zeiten befreite; er beschreibt aber auch, wie die Ost-Berliner Boheme aus dem Prenzlauer Berg «eines Nachts schlafen ging und am nächsten Morgen in einer anderen Welt erwachte».
Der anarchische Geist des anything goes, der nach dem Mauerfall in Mitte herrscht, prägt das kulturelle Leben der Stadt bis heute.
Die Unmöglichkeit der richtigen Erinnerung
Von den Orten des Aufbruchs ist aber nichts mehr zu sehen. Die Häuser sind abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit saniert, auf den einstigen Brachen sind teure Townhouses entstanden, ganze Straßenzüge haben ihr Gesicht komplett verändert.
Wer heute durch Mitte und die angrenzenden Bezirke läuft und nach den Stätten des einstigen Aufbruchs sucht, findet kaum Orientierungspunkte wieder, an denen sich die Erinnerung aufhängen könnte.Gutmair klagt nicht über die Veränderung. Ihm fehlt jegliche Nostalgie für das ruinierte Ost-Berlin der Achtziger wie auch für die ärmlichen Lebensbedingungen der Nachwende-Boheme.
Wie spurenlos deren Welt heute verschwunden ist, ist ihm zu einem literarisch zu gestaltenden Faszinosum geworden; immer wieder spricht er von der Unmöglichkeit der richtigen Erinnerung. Augenzeugenberichte aus jener Zeit sind rar, und in den – natürlich stets ohne staatliche Erlaubnis eingerichteten – Bars und Clubs war das Fotografieren verboten. Es wollte auch überhaupt niemand fotografieren oder sonstwie etwas für die Nachwelt festhalten.
Zu intensiv war das Gefühl, in einem unwiederbringlichen Hier und Jetzt zu leben, als dass man sich damals um irgendein Morgen gesorgt hätte.
Ulrich Gutmair: Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende
Tropen, Stuttgart 2013. 240 S., 17,95 €
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