- Der moralische Affe in mir
Frans de Waal sucht nach dem Guten im Menschen und findet es in der Evolution
Es gibt Tauben, die fremdgehen. Brutale Delfine. Rachsüchtige Kamele. Vergewaltiger unter den Orang-Utans. Mordende Störche. Tiere müssen für fast alles herhalten, was der Mensch aus unterschiedlichen Beweggründen als natürlich ausweisen will. Was eine lange evolutionäre Tradition hat und genetische Spuren in der Stammesgeschichte hinterlässt, kann nicht ganz verkehrt sein: Dieses Credo wurde durch die Soziobiologen der siebziger Jahre populär. Die Gewinner-Gene sind diejenigen, die sich auf lange Sicht in sozialen Populationen durchsetzen, beim Menschen ebenso wie beim Tier. Dabei favorisierte die Soziobiologie immer solche Muster, die ein düsteres Bild vom Menschen zeichneten und die darwinistischen Klischees vom Survival of the Fittest bestätigten: Kampfgestählte Alpha-Männchen und brutbewusste Weibchen waren das Maß, das über den evolutionären Erfolg einer Gruppe bestimmte. Kein Wunder, dass «Natürlichkeit» bald zum Hasswort der kulturalistisch aufgeklärten Stände wurde.
Ganz im Gegensatz zu diesen an Konkurrenz und Kampf geschulten Verhaltensforschern steht der niederländische Primatologe Frans de Waal, der seit Jahrzehnten die Umgangsformen von Affen-Populationen erforscht. In seinem neuen Buch über «Primaten und Philosophen» hebt de Waal das Prinzip der Kooperation im Tierreich hervor. Er betont, dass gerade die Fähigkeit zu Empathie und Altruismus das Fortkommen sozialer Verbände sichert. Der Untertitel – «Wie die Evolution die Moral hervorbrachte» – macht deutlich, dass der Verhaltensforscher durchaus in einer soziobiologischen Tradition steht – nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen. De Waal weigert sich, den Menschen als ein im Kern asoziales oder gar bösartiges Wesen zu begreifen, dessen tierische Eigenschaften nur durch einen dünnen moralischen Schutzmantel gebändigt werden.
In seinem ausgreifenden Essay begutachtet de Waal die Philosophie und Wissenschaftsgeschichte von Aristoteles über Thomas Hobbes und Charles Darwin bis hin zu Richard Dawkins und John Rawls. Besonderes Augenmerk legt er auf die pessimistischen Denker, die vom Glauben an eine – selbstredend negative – Tierhaftigkeit des Menschen geeint werden. Vor allem Thomas Hobbes’ Lehre, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, habe eine Denkrichtung begründet, die de Waal als Fassadentheorie bezeichnet: Moral sei nur eine brüchige Kruste, eine Fassade, hinter der sich der humane Ego-Shooter verbirgt. Der zweite historische Pate der Fassadentheorie ist Thomas Huxley, auch bekannt als «Darwins Bulldogge»: Er prägte das Bild vom Menschen als Gärtner, der permanent das Unkraut seiner natürlichen Triebe niederkämpft. Die menschliche Ethik ist bei Huxley ein Sieg über den evolutionären Prozess – und nicht etwa dessen Produkt.
Primatenforscher im Schafspelz
Die Fassadentheoriker sind außerdem da-rauf aus, jede vermeintlich gute Regung als Teil eines Nützlichkeitskalküls zu demontieren. Ebenso wie der Affe, der vorausschauend eine Banane verschenkt, gibt auch der Mensch nur etwas weiter, wenn sich ein Gegenwert abzeichnet: künftige Hilfe in der Gruppe, soziales Ansehen oder das gute Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Ganz ähnlich kann man die Empathie als ein Leiden beschreiben, das sich der Mitfühlende wie ein Virus eingefangen hat – so dass selbst noch die tröstende Geste dem eigenen schlechten Gefühl gilt. Altruismus und Empathie werden deshalb zum Hauptschlachtfeld dieses Buches, das neben de Waals Essay noch vier Gegenpositionen von Philosophen und Evolutionspsychologen enthält, darunter Peter Singer.
De Waal will nicht nur die sozialen Gesten des Helfens,
Mitfühlens und Schenkens aufwerten; er macht außerdem ebenso
plastisch wie witzig klar, dass die Verfechter der Fassadentheorie
meistens Opfer ihres eigenen Coolness-Gebarens sind. Je abgebrühter
und negativer man über die menschliche Natur urteilt, desto
weniger riskiert man, als gefühlsduseliger Träumer dazustehen.
Diese Dominanz der kalten Rationalität verführt dazu, Werte wie
Empathie und Hilfsbereitschaft als sekundär einzustufen.
So weit, so schön: Frans de Waal entlarvt die
verhaltenstheoretischen Scharfmacher, die dem menschlichen
Konkurrenzdenken eine biologische Basis zuschreiben. Mit
eindrucksvollen Beobachtungen aus dem Leben der Menschenaffen
belegt er deren komplexes Gefühlsspektrum: Schimpansen sind fähig,
anderen Lebewesen ohne jegliches Kalkül zu helfen, und sie
entwickeln sogar ein bewusstseinsähnliches Selbstbild. Aber die
Liste der Einwände gegen diese sympathische Image-Kampagne fällt
dennoch länger aus als all die Pluspunkte eines an Kooperation
orientierten Menschenbildes. Die Beiträge des Bandes diskutieren
vor allem de Waals Definition von intentionalem Handeln und seinen
Hang zu Anthropomorphismen; gegen die grundsätzliche Biologisierung
menschlichen Handelns haben sie wenig einzuwenden.
De Waal ist ein Primatenforscher im Schafspelz. Denn wo seine Vorgänger an einer Theorie des Egoismus strickten, sieht er die Ethik als Teil eines evolutionären Programms. Dabei ist fraglich, ob man die großen historischen Unterschiede moralischen Verhaltens so einfach beiseite schieben kann. Warum sieht die Ethik des frühen Mittelalters anders aus als die postindustrieller Gesellschaften? Warum gelten bei Chinesen andere Maßstäbe als bei Europäern, und warum handeln einzelne Individuen derselben Gesellschaft, vor ein moralisches Dilemma gestellt, so enorm unterschiedlich? Man muss die Universalität des Guten gar nicht infrage stellen – aber vielleicht sind es gerade die feinen Unterschiede in der Auslegung des Guten, die menschliche Gesellschaften ausmachen.
Gut ist der Nutzen der Gemeinschaft
Irritierend ist vor allem, dass keiner der Beiträger den Gemeinschaftsbegriff de Waals kritisiert. Moralisches Handeln, erklärt der Primatologe, kommt nur im Sozialverband zustande, und dieser wiederum begünstigt zunächst immer die Mitglieder der eigenen Gruppe. De Waal wertet dieses Handeln im Sinne der Gruppe auf, weil es den Egoismus des Einzelnen bremst und kooperatives Sozialverhalten fördert. Loyalität gegenüber der Familie oder der Gemeinschaft, schreibt er, sei eine notwendige moralische Pflicht, nicht zuletzt in Kriegszeiten. Solch eine Verteidigung partikularer Interessen wäre mit der strengen Kant’schen Ethik, die ja gerade auf die universale Gültigkeit des Kategorischen Imperativs setzt, allerdings kaum begründbar.
Auch dass sich das Wir-Gefühl einer Gemeinschaft schnell ins
glatte unmoralische Gegenteil verkehrt, bleibt dabei
unberücksichtigt. Von der fließenden Grenze zwischen Mensch und
Tier kann De Waal deshalb nicht überzeugen – trotzdem ist sein Buch
ein Gewinn, weil es die Grundlagen der Moralität neu verhandelt.
Philosophen und Kulturwissenschaftler sollten sich bei diesem
freundlichen Übernahmeversuch der Ethik allerdings warm anziehen –
vielleicht einen Kant-Pelz. Der schützt zuverlässig vor der
Vereinnahmung der Ethik durch Gruppeninteressen.
Frans de Waal
Primaten und Philosophen. Wie
die Evolution die Moral hervorbrachte
Mit
Beiträgen von Robert Wright, Christine M. Korsgaard, Philip Kitcher
und Peter Singer.
Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert, Birgit Brandau, Klaus
Fritz.
Hanser, München 2008. 216 S., 19,90 €
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