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Wie weiter mit der SPD?

Zerreißt es die Sozialdemokratie zwischen Neuer Mitte und neuer Linkspartei? Braucht es ein neues Godesberger Programm zur Abgrenzung? Cicero bat den erst kürzlich verstorbenen SPD-Vordenker Peter Glotz um eine Einschätzung.

Braucht die SPD ein neues Godesberger Programm? Diese Frage kann man wie aus der Pistole geschossen bejahen. Schließlich hat dieses Programm 1959, nach fürchterlichen Jahren des Verbots und der Illegalität der Partei in der Nazi-Zeit und nach zehn Jahren aussichtsloser Opposition gegen den übermächtigen und kerzengeraden Greis Adenauer der SPD den Weg zur Macht gebahnt. Ja, ein neues „Godesberg“ wäre eine gewaltige Chance für die inzwischen wieder einmal gespaltene SPD. Nur, was war oder ist das, ein „Godesberger Programm“? Es war ein Prozess, mehr als ein Papier, ein Sprung in die Öffentlichkeit, mehr als Binnenkommunikation, ein Willensakt, mehr als eine philosophisch-politische Fingerübung. Eine Kerngruppe von erfahrenen Fuhrleuten – Willi Eichler, der Redakteur, Heinrich Deist, der Wirtschaftsfachmann, Waldemar von Knoeringen, der Kulturpolitiker, Adolf Arndt, der Staatsrechtler, Fritz Erler, der Außenpolitiker, und ein paar ehrgeizige junge Mitdenker wie Helmut Schmidt, Karl Schiller, und von weit her, aus Berlin, auch Willy Brandt – setzte eine radikale Neuorientierung der ältesten deutschen Partei durch: eine vorbehaltslose Öffnung zum religiösen Motiv in der Politik, die Kehre zu einer sozial gebundenen Marktwirtschaft, die Zustimmung zur Bundeswehr, den Abschied von Geschichtszielen. Die alte Arbeiterpartei behielt noch ein paar Zeremonien bei – die Anrede „Genossinnen und Genossen“ zum Beispiel, für die Erich Ollenhauer bei seiner Begrüßungsrede schon Beifall bekam, ehe er etwas zur Sache gesagt hatte –, bekannte sich aber zu ihrer seit Jahren schon vielfältigen Berufsstruktur. „Volkspartei“ hieß das jetzt. Das (vergleichsweise kurze) Programm von Godesberg war ein politischer Machtanspruch, eine Einstellung auf die neue Zeit und die verschwiegene Rehabilitierung längst toter Vordenker. Das, was die SPD in Godesberg beschloss, hatte 60 Jahre vorher Eduard Bernstein in seiner Artikelserie „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ zum Ärger Bebels und der Parteimehrheit aufgeschrieben. Der bayerische SPD-Vorsitzende Georg von Vollmar hatte mit seinen Reden in dem berühmten Münchner Lokal „El Dorado“ in die gleiche Kerbe geschlagen. „Godesberg“ war kein Salto am Trapez. Godesberg war der Endpunkt einer langen, gründlichen, von vielen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ernsthaft, leidenschaftlich, gelegentlich auch pedantisch geführten Debatte über Jahrzehnte. Werbeagenturen haben nicht mitgewirkt, Kreative schon. Aber die Kreativen kamen aus dem Bauch der alten Sozialdemokratie, viele übrigens aus Abweichlerorganisationen wie dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund ISK, „Neu Beginnen“ oder der SAP. Charakteristisch für Godesberg war also dreierlei: Das neue Programm war erstens keine Kopfgeburt. Es entstand zwar in wichtigen Teilen am Schreibtisch des Redakteurs Eichler. Dieser vollzog aber eine Debatte nach, die es in der europäischen Sozialdemokratie ein halbes Jahrhundert lang gegeben hatte. Zweitens hatte sich eine entschlossene Führungsgruppe gefunden, die die Wende wollte. Der Parteivorsitzende Ollenhauer deckte seine Programmkommission einigermaßen, sein Stellvertreter Knoe-ringen trieb sie voran, die wesentlichen Verfasser waren keine Berufsprogrammatiker aus der Provinz, sondern die handelnden Politiker vor allem aus der Bundestagsfraktion, aber auch aus den Ländern. Herbert Wehner, damals der Repräsentant der Linken in der engeren Parteiführung, stand zwar im Verdacht, das Programm abzulehnen, konsekrierte es aber durch seine berühmte Rede auf dem Godesberger Parteitag: „Glaubt einem Gebrannten“. Nur sieben Delegierte stimmten gegen das Programm, darunter der heute einundachtzigjährige Peter von Oertzen. Der Marxismus, damals noch in vielen sozialdemokratischen Parteien Europas im Schwange, wurde auf wenige Bezirke und Einzelfragen zurückgedrängt. Die SPD war die Avantgarde der sozialdemokratischen Bewegung in Europa. Und drittens wurde der Text (den die Massen natürlich auch nicht geradezu verschlangen) durch die neue Führung um Brandt, Wehner und Erler systematisch und kampagnenartig verbreitet. Die Parteikader wurden in Seminare gehetzt, die Verbände in Gespräche gezogen, die Kirchen zu Kongressen gebeten, die Intellektuellen auf Akademien, Tagungen und in Taschenbüchern umworben. Knoeringen führte eine Gesprächskampagne „Gespräch mit jedermann“, Günter Grass trommelte für die EsPeDe. Beim Nachfolgeprogramm, dem Berliner Programm von 1981, mahnten der Hauptverfasser Erhard Eppler und der Hauptdurchsetzer Jochen Vogel immer wieder an, man solle das Papier doch einmal lesen. Nicht viele kümmerten sich um diese Anregung. Nachdem das Programm beschlossen worden war, mitten in der mitteleuropäischen Wende von 1989, war es auch schon wieder veraltet, und zwar nicht nur in seinem außen- und deutschlandpolitischen Teil. Die Implosion des Kommunismus hatte natürlich nicht nur die außenpolitischen Koordinaten verschoben, sondern genauso die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen. Kann man der SPD raten, sofort einen neuen „Godesberger Prozess“ zu beginnen? Die Antwort ist eindeutig „nein“. Versuche zum Ersatz des Berliner Programms hat es ja schon gegeben. Dreimal lag der Führung der SPD in den vergangenen Jahren ein fast fertiger Programmentwurf vor. Zweimal wurden die Entwürfe in irgendwelche Schubladen gesteckt, weil Rudolf Scharping verschwand, weil der verantwortliche Generalsekretär abberufen wurde, weil der aktuelle Machtkampf mit der CDU/CSU wichtiger war oder weil man nicht sicher sein konnte, dass Agenda 2010 und Grundsatzprogramm zusammenpassen würden. Jetzt sind Neuwahlen angesetzt. Der rasche Beschluss des jetzt vorliegenden dritten Entwurfs wäre ein krasser Fehler. Die Lage ist, vor allem wegen der Lafontaine-Gysi-Partei, unübersichtlich. Ein Grundsatzprogramm ist nicht Selbstzweck, sondern Vehikel zum politischen Erfolg. Ein solches Vehikel setzt man nicht zwei Monate nach einer Niederlage, schon gar nicht zwei Monate nach einem neuerlichen Wahlsieg in Bewegung (der nächste ordentliche Parteitag der SPD, auf dem man das Programm beschließen wollte, findet in der zweiten Novemberhälfte statt). Im Übrigen gibt es keine geschlossene Führung der SPD, die das Programm tragen und umsetzen könnte. Wolfgang Clement hat seinen Rückzug aus der Parteispitze schon öffentlich gemacht, andere dürften folgen. Und die viel diskutierte neue Generation von Andrea Nahles, Matthias Platzeck und Siegmar Gabriel muss erst einmal in den Sattel kommen, bevor sie anfangen kann, Dressur zu reiten. Ein neues Programm, kurz nach einer Wahl, neben allen daraus entstehenden Machtkämpfen beschlossen, wäre eine Fußnote, eine Petitesse, ein Gegenstand fürs Feuilleton der Überregionalen. Die Partei muss erst einmal feststellen, wo ihr der Kopf steht. Verliert die SPD die Wahl – mit der Folge, dass sich Gerhard Schröder ins Privatleben oder sonst wohin zurückzieht –, muss sie zuerst einmal verhindern, dass ihr halbe oder ganze Unterbezirke zu Lafontaine davonlaufen. In diesem Fall wird sich der in den wirtschaftsfremden Kadern der Partei weit verbreitete Unwille, was Schröders Politik der Sanierung der Sozialsysteme betrifft, mächtig Bahn brechen. Mit einem schnell zusammengeschusterten Heuschreckenprogramm würde sich die SPD eine Bleikugel ans Bein binden. Das nächste Programm muss zeigen, wohin die SPD will, wenn sie wieder regiert. Gewinnt Angela Merkel, dürfte das vermutlich 2013 der Fall sein, und auch das nur, wenn die rot-rote Partei wieder vom Spielfeld verschwunden ist. Gewinnen Schröder und Fischer aber die Wahl 2005, braucht die SPD kein neues Programm, sondern eine kluge Regierungspraxis. Staatssekretäre, die im Auftrage ihrer Ministerinnen und Minister Spiegelstriche für einen Programmentwurf fertigen lassen, sind ein Albtraum. Wer Wahlen gewinnt, muss seine Siege nicht philosophisch begründen. Die Siege sprechen für sich selbst. Godesberg war ein Produkt von Niederlagen, nicht von Siegen. Es spricht also alles dafür, dass sich die SPD mit einem neuen Programm Zeit lassen sollte und erst einmal in der eigenen Organisation die – längst vorliegenden – Analysen der neuen Lage diskutiert: die radikale Kapitalmobilität, die neue Konkurrenz in der EU, den Einfluss der Kapitalmärkte, die Explosion der Verschuldung durch die Wiedervereinigung, den demografischen Knick mit seiner Wirkung auf die Sozialversicherungssysteme und so fort. Auch lohnte es sich, die verschiedenen „Kapitalismen“ in Europa zu beobachten und das schwedische, das schweizerische oder das finnische Modell genau zu studieren. Zum Beispiel steuerpolitisch: Die Schweden verlangen hohe persönliche Steuern, eine hohe Mehrwertsteuer und niedrige Unternehmenssteuern. Sie leisten sich mit dem Geld, das sie einnehmen, einen weit üppigeren öffentlichen Dienst als wir. Wäre das ein Weg gegen die Massenarbeitslosigkeit? Die Finnen haben ihr Bildungssystem revolutioniert und die Schweiz hat einen deutlich flexibleren Arbeitsmarkt als Deutschland. „Reformpolitik“ bedeutet nicht, dass man den kalifornischen oder britischen Kapitalismus kopieren muss. Aber was bedeutet sie? Diese Frage bietet Stoff für eine systematische Diskussion, die Zeit erfordern und Lernschmerz auslösen wird. Genau diesen Lernschmerz muss die SPD auf sich wirken lassen. Sie ist heute in der Gefahr der zwanziger Jahre. Da hatte sie 1921 in Görlitz mit dem „Görlitzer Programm“ eine Neubesinnung versucht. Hervorragende Staatsrechtler wie Hermann Heller, Hans Kelsen oder Gustav Radbruch hatten zum Beispiel eine Debatte um Sozialismus und Staat begonnen, die den damaligen Zeitgeist eingeholt und überholt hatte. Die SPD nahm diese Debatte auf. Als sich 1925 MSPD und Teile der USPD vereinigten, opferte man die Neubesinnung. Die SPD fiel mit dem „Heidelberger Programm“ von 1925 auf den „Klassenkampf“ zurück, wie er im „Erfurter Programm“ von 1891 angelegt worden war. Genau dasselbe könnte wieder passieren. In dem notwendigen, aber übereilten Bestreben, die „Linkspartei“ wieder einzufangen, könnte die SPD auf aktuelle ökonomische und außenpolitische Analysen verzichten und auf die Einigungskraft gesinnungsstarker, aber unrealistischer Formeln zurückfallen, zum Beispiel auf das Berliner Programm. Damit könnten, besonders in den vor uns liegenden unruhigen Zeiten, vielleicht sogar Wahlen gewonnen werden, vor allem im Osten Deutschlands, in Teilen des Ruhrreviers und in abfallenden fränkischen Industriestädten. Die Zukunft bestimmen könnte die SPD mit dieser philosophia moralis des „Teilens“, des „Verzichts“, des „Opfers“ und der „Umverteilung“ nicht.

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