- Sieg paradox für Winfried Kretschmann
Die Baden-Württemberger haben entschieden: Stuttgart 21 wird gebaut. Die Volksabstimmung sollte aber nie nur den Volkswillen erfragen, sondern vor allem Winfried Kretschmann aus einem unauflöslichen Dilemma befreien. Jetzt erst hat der grüne Ministerpräsidenten die Chance, das Land erfolgreich zu regieren
Baden-Württemberg hat abgestimmt und das Votum ist eindeutig. 58,8 Prozent der Einwohner des Landes stimmten am Sonntag für das Projekt Stuttgart 21. Nur 41,2 Prozent befürworten in der Volksabstimmung die Kündigung der Finanzierungsverträge mit der Bahn und votierten damit gegen den Bau des unterirdischen Bahnhofs in der Landeshauptstadt. Selbst die Stuttgarter, deren Stadt völlig umgestaltet wird und die die Hauptbetroffenen der jahrelangen Baumaßnahmen sein werden, stimmten mehrheitlich für den neuen unterirdischen Bahnhof. Kein Wunder, dass die Gesichter der Stuttgart-21-Gegner am Abstimmungsabend immer länger wurden.[gallery:Der Streit um Stuttgart 21]
Natürlich gab es bei der Volksabstimmung über Stuttgart 21 nicht nur Verlierer, sondern auch Sieger. Der erste Sieger ist die Bahn, die nun nicht nur darauf verweisen kann, dass sie Baurecht hat, sondern dass auch die Mehrheit der Baden-Württemberger hinter dem umstrittenen Projekt steht. Wenn die Kosten jetzt nicht ins Unermessliche explodieren, wird der Stuttgarter Bahnhof in den kommenden acht Jahren unter die Erde verlegt. Der zweite Sieger heißt dann CDU. Die Christdemokraten konnten beweisen, dass sie in dem Bundesland, in dem ihre Partei im März nach über fünf Jahrzehnten Dauerregentschaft die Macht verlor, noch mobilisierungsfähig sind und die grün-rote Regierung des Landes in Bedrängnis bringen können.
Der dritte große Sieger jedoch heißt, so paradox es klingen mag, Winfried Kretschmann. Die grüne Basis mag sich nun grämen, doch Winfried Kretschmann hat die Volksabstimmung und vor allem ihr Ausgang aus einem ansonsten schier unauflöslichen Dilemma befreit. Der grüne Ministerpräsident kann nun darauf verweisen, dass er Demokrat ist und das Ergebnis der Volksabstimmung akzeptiert. Erst diese Niederlage schafft die Voraussetzung für eine erfolgreiche Amtszeit des bundesweit ersten grünen Ministerpräsidenten und seiner grün-roten Landesregierung.
Natürlich gab sich Kretschmann nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses pflichtschuldig zerknirscht und sprach von einer „harten Entscheidung“. Zusammen mit seiner Partei hat er schließlich jahrelang gegen Stuttgart 21 gekämpft. Seine sensationelle Wahl zum Ministerpräsidenten vor acht Monaten verdankt er zu einem Gutteil den Gegnern des Projektes. Aber schon vor der Landtagswahl im März wusste Kretschmann, dass der Bau des Tiefbahnhofs eigentlich nicht mehr zu verhindern ist. Dem Vorwurf des Wahlbetruges oder des Umfallers kann er sich nun allerdings mit Verweis auf das Votum vom Sonntag entziehen. Seine Koalition mit den Sozialdemokraten, die den Bahnhofsneubau befürworten, wird nicht mehr durch diesen tiefen Konflikt belastet, die Regierungsarbeit nicht länger von dem ewigen Streit über Stuttgart 21 gelähmt.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum ein anderes Votum sehr viel mehr Probleme bereitet hätte
Kein Wunder, dass sich Kretschmann am Sonntag zugleich „gelassen“ präsentierte. Auch er weiß, jedes andere Votum der Baden-Württemberger hätte zwar die grüne Seele gestreichelt, aber ihm in seinem Amt sehr viel mehr Probleme bereitet. Der Ministerpräsident muss nun nicht beweisen, dass er in der Lage gewesen wäre, den Stopp des Projektes Stuttgart 21 gegen den Bauherren Bahn und gegen die Bundesregierung durchzusetzen. Angesichts weit fortgeschrittener Planung, bestehenden Baurechts und unterschriebener Verträge hätten seine Landsleute damit schier Unmögliches von ihrem Ministerpräsident verlangt. Der Konflikt, der das Land Baden-Württemberg spaltet und die Landespolitik lähmt, wäre weiter angefacht worden. Ständiger Streit mit Bahn und Bund und kräftezehrende juristische Auseinandersetzungen wären die Folge gewesen. Hinzu wären Regressforderungen der Bahn in Milliardenhöhe gekommen. Ordentliches Regieren wäre in den kommenden vier Jahren kaum möglich geworden.[gallery:Der Streit um Stuttgart 21]
Auch vor dem Dilemma eines gespaltenen Votums haben die Wähler den Ministerpräsidenten bewahrt. Nichts hätte der Landesregierung schließlich mehr Schwierigkeiten bereitet, als wenn zwar die Mehrheit der Baden-Württemberger gegen Stuttgart 21 gestimmt hätten, aber der Volksentscheid wegen des nicht erreichten 30-Prozent-Quorums der Landesverfassung trotzdem gescheitert wäre.
Nun hingegen kann Kretschmann die gemäßigten Bahnhofsgegner einbinden und er kann gleichzeitig gegenüber der Bahn darauf drängen, dass der Kostenrahmen von 4,1 Milliarden Euro eingehalten wird. Und auch wenn es in Baden-Württemberg nun zumindest eine realistische Chance auf die Befriedung dieses Konfliktes gibt, ist das Votum vom Sonntag kein Sieg der Demokratie.
Das Votum kommt erstens viel zu spät. Eine offene und ehrliche Abstimmung muss am Beginn des Planungsprozesses stehen und nicht am Ende. Die Volksabstimmung war auch deshalb eine Posse, weil die Gegner des Bahnhofs eigentlich keine Chance hatten, zu gewinnen. Das Zustimmungsquorum von 30 Prozent aller Wahlberechtigten, das die Verfassung von Baden-Württemberg vorsieht, ist viel zu hoch. Obwohl die direkte Demokratie in Baden-Württemberg Verfassungsrang hat, ist das Instrument damit nicht praxistauglich.
Alle Beteiligten aus der Politik wussten dies von Anfang an. Deshalb diente die Volksabstimmung drittens von Anfang an in erster Linie dazu, den grünen Ministerpräsidenten aus seinem Dilemma zwischen Wahlkampfrhetorik und Regierungsrealitäten zu befreien sowie den tiefen Koalitionskonflikt zwischen Grünen und SPD in der Landesregierung zu schlichten. Doch dazu ist das Instrument eigentlich nicht gedacht.
Somit ist der paradoxe Sieg für Winfried Kretschmann bei der Volksabstimmung über das Projekt Stuttgart 21 vielmehr ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. Es ist vor allem kein gelungenes Bespiel dafür, dass mit Volksabstimmungen die Krise der repräsentativen Demokratie überwunden werden kann. Dafür bräuchten Volksabstimmungen klare Regeln und Quoren, die die direkte Demokratie nicht ab absurdum führen.
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