Die aus Stahlblechen geformte Skulptur „Plywood“ des in Chemnitz geborenen Künstlers Jay Gard. / Foto: Janine Bächle.

Der Purple Path - Die Kunst weist den Weg

Durch die Kulturhauptstadt-Region schlängelt sich ein von Skulpturen gesäumter Weg. Der Kurator Alexander Ochs hat internationale Kunstschaffende für den Purple Path gewonnen – und die Gemeinden, die am Skulpturenpfad mitbeteiligt waren. Eine Passage über eine Teilstrecke der Freilichtschau, die über großartige Kunstwerke mit Land, Leuten und lokaler Geschichte bekannt macht

Autoreninfo

Jens Hinrichsen ist Redakteur und Filmkritiker beim Kunstmagazin Monopol.

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Sie ist ein richtiger Hingucker, die zweieinhalb Meter hohe Säule aus 40 übereinandergeschichteten Bronzescheiben, die jüngst vor der St.-Wolfgangs-Kirche in Schneeberg errichtet wurde. Der „Coin Stack“ von Sean Scully geht auf Kindheitserinnerungen des irischen Künstlers zurück, auf die Trinkgeld-Stapel aus dem Frisiersalon, die sein Vater allabendlich auf dem Küchentisch aufbaute. Wer Scullys kupferfarben patinierter Skulptur auf dem Purple Path begegnet, muss die Geschichte einer Arbeiterfamilie dahinter nicht kennen. Mindestens ebenso interessant sind die Geschichten, die Werke wie „Coin Stack“ vor Ort aufwirbeln. Ein Beispiel: Jedes Jahr wird am 22. Juli der Schneeberger Bergstreittag begangen, der an die Streiks von Bergarbeitern im 15. Jahrhundert erinnert. Der erste Arbeitskampf im lokalen Silberbergwerk ereignete sich 1496, nachdem die Grubenbesitzer beschlossen hatten, den Wochenlohn der Bergleute um einen Groschen zu kürzen. 

Die abstrakte Skulptur „Stack“ (2019) von 
Tony Cragg. / Foto: Janine Bächle. 
© Tony Cragg / VG Bild-Kunst,
 Bonn 2024

„C the Unseen“ – dieses Motto für Chemnitz, der Kulturhauptstadt Europas 2025, lässt sich mühelos auf den Skulpturenpfad übertragen, den Alexander Ochs seit 2020 aufbaut. Er selber, erzählt der Kurator, habe im Planungsverlauf „eine sehr spannende Ökonomie- und Kulturgeschichte entdeckt“, verbunden mit ihm zuvor ungeläufigen Ereignissen und Personen an Orten, die am Fuß des Erzgebirges – südlich von Chemnitz – gelegen sind. Die rund 50 Werke werden bis zu den Eröffnungstagen im April 2025 aufgebaut sein, einige stehen schon seit 2022. 

Und Kunst soll bleiben – Ochs betrachtet den Purple Path als Kunstsammlung unter freiem Himmel, die von den beteiligten Gemeinden nicht nur mitproduziert, sondern auch zukünftig instandgehalten wird: Ochs will die Menschen einbinden, Selbstwertgefühle stärken. Eine Region wird sichtbar. Aufschwung, Raubbau und Niedergang haben die Kulturlandschaft Erzgebirge geprägt. Im Jahr 1168 löst der Fund von Silbererz ein großes „Berggeschrey“ in der Gegend aus. Auch Zinn wird entdeckt und später weitere Erze wie Blei, Kobalt, Kaolin, Nickel, Zink – und Uran. „Alles kommt vom Berge her“, sagt der Volksmund, die Wohlstandsquelle scheint unerschöpflich. 

Was unsere Industriegesellschaft ausspuckt

„One Million“ (Version von 2019) der 1965
 geborenen Künstlerin Uli Aigner.
Diese Arbeit ist von 2019. / 
Foto: Janine Bächle. © Uli Aigner /
 VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Wenige Kilometer neben Schneeberg steht in Aue-Bad Schlema Tony Craggs „Stack“-Bronzeskulptur – zwischen zwei Schachteingängen. Hier wurde im 20. Jahrhundert Uranerz gefördert, in rauen Mengen, die Sowjetunion deckte im Atomzeitalter 60 Prozent ihres Uranbedarfs mit dem Rohstoff aus Sachsen; für Bomben und Atomkraft verwüstete die sowjetisch-deutsche Wismut AG fast den ganzen Ort. Später wurde Aue-Bad Schlema Symbol für den gelingenden Strukturwandel. Heute ist die Stadt ein beliebter Kurort. Tony Craggs „Stacks“, basierend auf den Resten, die unsere Industriegesellschaft ausspuckt, sind abstrakte Werke. Sie illustrieren nichts, das betont auch Alexander Ochs, der für den Purple Path anspielungsreiche Kunst ausgewählt hat, ohne diese „für die Sache instrumentalisieren“ zu wollen. 

Craggs zerklüftete Formen könne man auch in der Darstellung aufgeworfener Erde auf der Mitteltafel des Annaberger Bergaltars wiederfinden, so Ochs. Im gut neun Kilometer entfernten Lößnitz stehen zwei Werke aus Porzellan der Österreicherin Uli Aigner für die Porzellanherstellung in Sachsen. Bereits im 17. Jahrhundert hatte die Unternehmerfamilie Schnorr im Erzgebirge Kobalt – gebräuchlich für die blaue Unterglasurbemalung – gefördert. Ab 1708 wurde in der „St. Andreas Zeche Weiße Erde“ auch der Porzellan-Grundstoff Kaolin abgebaut. 1710 schließlich wurde die erste Meißner Porzellanmanufaktur eingerichtet. 

„Include Me Out“ von Friedrich Kunath. 
/ Foto: Janine Bächle.

Aigner treibt seit 2014 ihr Lebensprojekt „One Million“ voran – entsprechend der illusorischen Zahl an unterschiedlichen Porzellangefäßen, die die Künstlerin bis zu ihrem Tod herstellen will. Die bis jetzt rund 9000 auf Drehscheiben gefertigten Objekte aller Größen sind über den ganzen Erdball verteilt, „mit dem Projekt nehme ich die Globalisierung persönlich“, so Aigner. Neben dem monumentalen „ITEM 3501“ präsentiert sie in Lößnitz das ursprünglich ebenso dimensionierte „ITEM 3502“, das während des Herstellungsprozesses (in China) zerbrach, aber als eine Daseinsform von Porzellan von der Künstlerin anerkannt wird. 

In einer halben Fahrradstunde erreicht man Zwönitz. Früher wurde hier Eisenerz abgebaut, die im 18. und 19. Jahrhundert gewachsene Textilindustrie hat sich gehalten. Die ortsansässige Strumpffabrik Falke liefert die Strumpfhosen-Stoffe, mit denen Nevin Aladağ ihre über einem Teich im Austelpark hängenden Lampions bezieht. Die Künstlerin mit kurdisch-türkisch-iranischen Wurzeln ist von der Pattern-and-Decoration-Bewegung inspiriert und proklamiert mit ihrem Projekt „Color Floating“ ihre Vision von Vielfalt und Kulturtransfer. Der humorvolle Skulpturenkreis aus cartoonhaften Fichten, die sich an den Händen beziehungsweise Ästen halten, wurde von Friedrich Kunath im nahen Thalheim errichtet. 

Der Aufstellungsort Buntsockenpark erinnert noch an die Thalheimer Textilproduktion, die anders als im 12 Kilometer entfernten Zwönitz nicht überlebt hat. Außerhalb des Kreises verharrt noch eine deprimiert wirkende Fichtenfigur. Der paradoxe, soziale Ängste formulierende Werktitel „Include Me Out“ ist einem Spruch des in Warschau geborenen jüdischen Hollywoodmoguls Samuel Goldwyn entlehnt. Kunath scheint hier von der eigenen Melancholie im „Exil“ zu erzählen. Der Künstler stammt aus Chemnitz und lebt heute in Los Angeles. 

Im Wasser spiegelt sich die Arbeit „Color Floatings“ (2023/24) der  in Berlin lebenden Bildhauerin Nevin Aladağ. 
/ Foto: Janine Bächle. © Nevin Aladağ / VG Bild-Kunst, Bonn 2024


Nach neun Kilometern ist Jahnsdorf erreicht, in dem Jeppe Hein einen Parcours errichtet hat, auf dem man sitzen und kommunizieren kann. Die von den Bänken im New Yorker Central Park inspirierte Serie „Modified Social Bench“ des dänischen Bildhauers wurde in Kooperation mit den Leuten der Gemeinde gestaltet, für Alexander Ochs ein Musterbeispiel für die verändernde Kraft von Kunst. Der Kurator erzählt von einem jungen Mann mit „ein- schlägigem“ T-Shirt, den das Gemeinschaftsprojekt aus der Lethargie riss.  „In seiner Welt war es davor nicht vorstellbar, dass jemand sagt: ,Komm, wir bauen miteinander was auf“, so Ochs. Rund 17 Kilometer sind es bis zur Dittersdorfer Höhe bei Amtsberg, auf der Olaf Holzapfel eine Skulptur zur Königlich-Sächsischen Triangulation errichten wird. Seit 1969 steht auf der Anhöhe ein Vermessungsstein der zwischen 1862 und 1890 unternommenen Landvermessung, die auf Dreiecken und Trigonometrie basierte. 

Transformation, Niedergang, Neubelebung

„Modified Social Bench for Jahnsdorf #1“ des 
dänischen Künstlers Jeppe Hein. 
/ Foto: Janine Bächle.

Sechs Kilometer weiter, in Zschopau, pflanzt Michael Sailstorfer demnächst einen riesigen Motorradrückspiegel an das Ufer des gleichnamigen Flusses, dessen Wasser der Künstler auf diese Weise in den Himmel umleitet. In den Glamourhimmel Hollywoods mögen sich die Lila-Pfadfinder versetzt fühlen, wenn sie im 16 Kilometer entfernten Olbernhau ankommen. Der Schriftzug „Plywood“ (Sperrholz) der gleichnamigen Buchstabenskulptur des in Chemnitz aufgewachsenen Künstlers Jay Gard ähnelt der berühmten Buchstabenfolge in den Hollywood Hills. In Sachsen sind die Lettern allerdings ein bisschen kleiner dimensioniert. Sie stehen für (falsche) Illusionen, Transformation, Niedergang, Neubelebung. In Olbernhau prosperierte die Holzproduktion – bis das Spielzeugkombinat VERO mit der Wende abgewickelt wurde. Ökonomisch und kulturell ging es zunächst bergab mit Olbernhau. Heute glänzt der liebevoll sanierte Ort wieder. „Plywood“ kann also auch für das große Versprechen stehen, mit dem man im Weltkulturerbe Erzgebirge vor Jahren bereits den Sprung in eine bessere Zukunft gewagt hat. 

„Twister Again“ der 1946 in Harrisburg/USA 
geborenen Bildhauerin Alice Aycock. 
/ Foto: Janine Bächle.

Ein skulpturaler Wirbelwind bohrt sich 18 Kilometer weiter ins Gras des Erzgebirgischen Freilichtmuseums in Seiffen. Die US-Künstlerin Alice Aycock hat das Werk mittels 3-D-Software entworfen und als starren und doch energetischen Aluminiumstreifen-Sturm realisiert. Noch einmal mit Alexander Ochs: Kunst sollte Historie nicht illus­trieren, und das tut auch Aycocks „Twister Again“ keinesfalls. Trotzdem lässt der Wirbel an die Energie denken, mit der die Seiffener Ende des 18. Jahrhunderts aus ihrer Existenznot eine Tugend machten: Die Mineralien waren erschöpft, die vielen wasserbetriebenen Pochhämmer zum Zerkleinern der Erze zunächst funktionslos. Mit der Erfindung des Reifendrehens nutzten die Ex-Bergleute die Wasserkraft neu. Bis heute hält der Familienbetrieb Werner in Seiffen mit der Herstellung von „Reifentier“-Figuren die Handwerkstradition am Leben, die einmal Innovation war. 

„Wir arbeiten hier ein wenig gegen die Musealisierung guter Traditionen an“ – Alexander Ochs spricht aus der Erfahrung, dass „neu installierte Werke oft eine Diskussion entfesseln“. Die Gespräche mit Menschen vor Ort kreisen nicht nur um Kunst, sondern um persönliche Geschichten, die sich mit Werken verknüpfen lassen, sowie die Geschichte der Region. „Die Menschen im Erzgebirge, in Mittelsachsen und im Zwickauer Land fühlen sich gesehen und aufgewertet“, so die Zwischenbilanz des Kurators. Ist Kunst doch mächtiger, als viele denken? Probieren wir den violetten Weg.

 

Infos zu Wandern in Sachsen: Der Purple Path schafft eine Verbindung, denn der Kunstweg aus Skulpturen und Interventionen internationaler und lokaler Künstlerinnen und Künstler verbindet Städte und Gemeinden über Rad- und Wanderwege, Landstraßen, Busse und Bahnen. Chemnitz als Stadt der Moderne verbindet sich mit annähernd 440.000 Menschen in mehr als dreißig, oft uralten Dörfern und Städten der Region.

 

Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol.

 

 

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