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(picture alliance) Die Jungfreisinnigen Schweiz (jfs) entwarfen dieses Plakat

Merkels Überschuss-Lüge - Deutschland rechnet sich schön

Deutschland fordert harte Einschnitte für Schuldensünder – und gönnt sich selbst soziale Wohltaten. Der Wahnsinn hat Methode: In Brüssel tut Berlin derzeit alles, um eigene Fehler zu verbergen. Ein Kommentar

Europa spricht deutsch. Dieser vorlaute Ausspruch von Unions-Fraktionschef Volker Kauder ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden. Zwar versucht Kanzlerin Angela Merkel, die deutsche Dominanz in der Eurokrise mit netten Worten an die Hilfsempfänger in Athen oder Madrid vergessen zu machen. Doch spätestens, seit die britische Financial Times Berlin zur heimlichen Hauptstadt Europas erklärte, ist klar, dass Kauder recht hatte.

Wie sehr Europa der deutschen Agenda folgt, wird sich wieder beim EU-Gipfel Mitte Dezember zeigen. Merkel will noch schärfere Kontrollen für Schuldensünder einführen. Obwohl der umstrittene neue Fiskalpakt noch nicht einmal in Kraft ist, sollen die Eurostaaten ihre Budgethoheit weiter einschränken. Von einem Supersparkommissar ist die Rede und davon, dass es Finanzhilfen nur noch gegen Reformen geben soll. „Konditionalität“ nennt Merkel das.

Nur Deutschland soll von der Überwachung ausgenommen werden. Offiziell werden die strengen neuen Regeln natürlich auch für das größte und mächtigste Land der Eurozone gelten. Doch hinter den Kulissen hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dafür gesorgt, dass Berlin keine Auflagen oder gar Strafen fürchten muss. Deutschland rechnet sich schön – und gefährdet damit die Glaubwürdigkeit der eigenen Politik.

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Hier ist nicht vom Budgetdefizit die Rede, das pünktlich zur Wahl gegen null streben soll. Das sieht zwar schön aus, ist jedoch unrealistisch, wie Schäuble selbst einräumte. Die milliardenschweren Wahlgeschenke dürften ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Die Rede ist vielmehr von dem Versuch, Finanzrisiken durch Rechentricks zu verschleiern.

Deutlich wurde dies zum ersten Mal im Frühjahr, als die EU‑Kommission ihren Bericht über wirtschaftliche Ungleichgewichte vorlegte. Zwölf Länder bekamen Rügen, weil sie mehr importieren als exportieren und das Leistungsbilanzdefizit mehr als 4 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachte. Doch Deutschland blieb ungeschoren, obwohl der deutsche Überschuss in derselben Größenordnung liegt. Ein Überschuss sei nicht so schlimm wie ein Defizit, argumentierte Währungskommissar Olli Rehn.

Was war passiert? Auf Drängen Schäubles hatte Rehn für Überschussländer eine andere Grenze gezogen als für die Defizitländer. Wie es der Zufall so will, liegt sie bei 6 Prozent – Berlin blieb 2011 mit 5,9 Prozent knapp darunter. Das Handelsblatt klagte über „zweierlei Maß“. Schließlich sei das Zuviel des einen das Zuwenig des anderen – auch Berlin hätte eine Rüge verdient.

Doch Rehn sah darüber hinweg. Das könnte sich schon bald rächen. Denn im laufenden Jahr ging der deutsche Überschuss nochmals in die Höhe – in US‑Dollar gerechnet ist er sogar größer als in China. Das ruft nicht nur Ökonomen auf den Plan, die den ungehemmten deutschen Exporten eine Mitschuld an den Defiziten des Südens geben. Es dürfte auch Brüssel alarmieren, denn wahrscheinlich wird die Sechs-Prozent-Hürde gerissen.

Schon im Februar 2013 droht deshalb ein Rüffel der EU‑Kommission. Deutschland, das das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht sogar im Grundgesetz verankert hat, stünde dann als Überschusssünder am Pranger. Doch mit Strafen rechnet im Wahljahr niemand. Merkel und Schäuble scheint der deutsche Regelverstoß denn auch nicht zu stören, im Gegenteil: Dem ersten Sündenfall folgt nun, wenn nicht alles täuscht, gleich der zweite.

Diesmal geht es an die Substanz: die öffentlichen Finanzen. Gemeinsam mit Frankreich hat Deutschland einen Entwurf der EU‑Kommission verwässert, der für mehr Transparenz in der Schuldenstatistik sorgen sollte. Ausgerechnet das Land, das sich sonst gern als Schulmeister geriert und größtmögliche Transparenz fordert, will nun eigene Risiken vertuschen.

Seite 2: Warum Deutschland in der EU‑Schuldenstatistik schon bald sehr schlecht dasteht

Der Vorschlag der Kommission sah vor, nicht nur wie bisher die aktuellen staatlichen Finanzlöcher zu melden, sondern endlich auch Schattenhaushalte auszuleuchten. Künftig sollen die EU‑Länder ihre Daten über Staatsgarantien für wackelige Banken, öffentliche Zuschüsse für private Bauprojekte sowie „implizite Pensionsverpflichtungen“ in den Sozialkassen vorlegen. Nur mit diesen Zahlen sei eine nachhaltige Finanzpolitik möglich, sagen die Experten von der Statistikbehörde Eurostat in Luxemburg.

Für eine nachhaltige Finanzpolitik sind natürlich auch Merkel und Schäuble. Dennoch sträubten sie sich gegen die neuen Regeln. Man habe nichts dagegen, Daten über abgeschlossene Perioden zu liefern, hieß es in Berlin. Pensionszahlungen seien dagegen mit Unsicherheiten behaftet; schließlich gehe es um Projektionen in die Zukunft. Eine „seriöse Verwendung“ dieser Zahlen sei nicht möglich.

Noch steht Deutschland in der EU‑Schuldenstatistik relativ gut da. Doch als Land mit der ältesten Bevölkerung und der geringsten Geburtenrate könnte sich dies bald ändern. Die Bundesregierung hat die Folgen vermutlich längst berechnet – doch die EU‑Kommission in Brüssel soll davon vorerst nichts wissen.

Erst 2015 sollen auch implizite Pensionsverpflichtungen offengelegt werden. Die Zahlen zu „Public Private Partnerships“ (PPP) werden erst 2018 folgen – und dann auch nur im Drei- Jahres-Rhythmus und nicht, wie sonst üblich, jedes Jahr. Der deutsche Europaabgeordnete Sven Giegold spricht von einem „Rückschritt“. Gerade hier, fürchtet der grüne Finanzexperte, ticke eine Zeitbombe.

Denn viele Autobahnen, Flughäfen und Verwaltungsgebäude werden zwar von privaten Unternehmen betrieben, aber von der öffentlichen Hand vorfinanziert. Und das ist oft mit erheblichen Risiken verbunden, wie das Debakel um die Elbphilharmonie in Hamburg gezeigt hat. Giegold warnt, dass der Steuerzahler nicht nur mit versteckten Lasten aus deutschen Projekten rechnen muss. Auch die Rettung von Krisenländern wie Portugal oder Spanien könnte sich wegen kostspieliger und intransparenter von Staat und Privatwirtschaft mischfinanzierter Projekte verteuern.

Berlin rechnet also nicht nur die eigenen Schulden schön, sondern auch versteckte Risiken der Eurokrise. Die deutsche Bundesregierung verhindert eine ehrliche europäische Schuldenstatistik – und fordert gleichzeitig, Schuldensünder strenger zu kontrollieren und härter zu bestrafen. Berlin gönnt sich kurz vor der Wahl ein paar kostspielige Wohltaten – und verschweigt beharrlich die Risiken, die in der eigenen Bilanz lauern. Auf Dauer kann das nicht gut gehen.

Merkel und Schäuble müssen sich entscheiden: Entweder wollen sie maximale Kontrolle und Transparenz – dann muss auch Deutschland seine verdeckten Risiken offenlegen und das chronische wirtschaftliche Ungleichgewicht abbauen. Oder sie beanspruchen eine Vorzugsbehandlung. Dann sollten sie aber auch aufhören, die Partner ständig zu schurigeln. Andernfalls werden die nämlich eines Tages anfangen, die Ursache für die eigenen Defizite in den deutschen Überschüssen zu suchen. Ganz falsch lägen sie damit nicht.

Europa spricht deutsch, okay. Aber dass es auch deutsch rechnet, ist dann wohl doch zu viel verlangt.

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