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Albaniens Amazonen

Im Norden Albaniens haben Frauen der eigenen Weiblichkeit abgeschworen. Denn nur als Männer können sie frei und selbstbestimmt leben. Erst die Übernahme der Rolle des Familienoberhaupts garantiert eigenes und familiäres Glück.

Es ist kein Ort für eine Frau, diese Raststätte an der staubigen Fernverkehrsstraße von Fushe Kruje. Draußen im Hof bilden Autoreifen riesige Haufen, wenige Meter weiter baumelt rohes Schweinefleisch im Fenster der Raststätte. In der Blockhütte sitzen Männer bei Kaffee und Raki, im Hintergrund flimmert eine Nachrichtensendung über den Bildschirm. Gjuste Bardhi lässt sich schwerfällig auf einen der Holzstühle fallen und zündet sich eine Zigarette an. „Das habe ich alles allein aufgebaut“, sagt sie. „Dieses Restaurant und draußen den Reifenhandel.“ Ohne den Schwur, den sie vor vierzig Jahren abgelegt hat, wäre das nicht möglich gewesen. Den Schwur, keine Frau mehr zu sein. Damals ging sie zu ihrem Vater und legte ihm eine goldene Patronenhülse in die Hand: „Wenn ich jemals wieder eine Frau sein will, dann kannst du mich umbringen“, sagte sie ihm. „Ich werde ein ehrbarer Mann sein.“ Bis heute hat niemand sie mehr in einem Rock gesehen, ihre dichten schwarzen Haare sind immer kurz geschnitten, an ihrem Ledergürtel hat sie ein Messeretui, in dem heute ein Handy steckt. Ihre Freunde, das sind die Männer, die in einer anderen Ecke des Restaurants gerade große Fleischpfannen verdrücken, sprechen von „ihm“, wenn sie über Gjuste reden. Sie ist eine „Burrnesha“. So nennen Albaner Mannfrauen – „Burr“ heißt Mann, „nesha“ ist eine weibliche Endung. Mit Transvestiten oder Transsexuellen hat dieses Phänomen nichts zu tun. In den Bergen des albanischen Nordens hat sich vielmehr die Tradition konserviert, nach der Frauen die Rolle des Familienoberhauptes nur dann einnehmen können, wenn sie zum Mann werden. Beispielsweise wenn es keine männlichen Nachfahren gibt, oder wenn alle Männer der Familie durch Blutrache getötet wurden, oder wenn die Frau ohne einen vom Vater ausgesuchten Mann leben möchte. Nur durch den sozialen Wechsel ihres Geschlechts kann eine Frau „die Tür des Hauses offen halten“, wie die Albaner sagen. Sie entscheiden sich gegen ihre Weiblichkeit, um die Ehre der Familie zu verteidigen. Gjuste hat es für ihren Sohn Artur getan. „Ich wollte nicht, dass man ihn als Hurensohn beschimpft“, sagt sie. Denn sie hat etwas gemacht, das in einer patriarchalischen Gesellschaft wie der nordalbanischen ungewöhnlich ist: Gjuste hat sich scheiden lassen von dem Mann, der ihr vom Vater ausgesucht worden war. „Er war nicht gut für mich, das wussten alle im Dorf. Sogar seine eigene Familie.“ Mehr Details will sie nicht preisgeben. Stattdessen benutzt sie ein Bild: „Eine Heirat ist wie eine Rose, sie kann sehr schön sein, aber sie hat auch viele Dornen.“ Als die Dornen die damals Zwanzigjährige zu sehr verletzten, zog der Vater mit einem Dutzend Verwandter zu seinem Schwiegersohn, die Waffe auf dem Rücken, und forderte: „Gib sie frei!“ Dann war Gjuste geschieden. Sie hätte mit ihrem Sohn den Rest des Lebens im Haus der Eltern verbringen können. Aber sie wollte mehr für ihn. Er sollte alles haben, was andere Kinder auch haben. So musste Gjuste zum Vater werden, um eine gute Mutter sein zu können. Wer verspricht, zum Mann zu werden, schwört gleichzeitig, auch für immer im Zölibat zu leben. „Sworn Virgins“ werden die Mannfrauen deshalb von der englischen Anthropologin Antonia Young genannt, verschworene Jungfrauen. „Es ist ein kulturelles Missverständnis, dass der Zölibat ein persönliches Opfer für die Frauen darstellt“, schreibt Young in ihrer ethnologischen Studie „Frauen, die Männer werden“. Stattdessen garantiere die Übernahme der Rolle des Familienoberhaupts eigenes und familiäres Glück. Die meisten Burrneshas wählen sich ihr Schicksal selbst, um unabhängig leben zu können. Eine der prominentesten Mannfrauen ist die 88-jährige Qamile Stema. Sie wurde schon von vielen Journalisten und Wissenschaftlern in ihrem kleinen Steinhaus besucht. Das liegt wohl auch daran, dass es nur noch etwa vierzig Burrneshas in Albanien gibt und nur wenige über ihr Leben erzählen wollen. Um zu Qamile zu gelangen, muss sich ein Jeep über Geröllsteine und durch tiefe Krater eines Feldwegs wühlen bis zu einer Ansammlung gedrungener Häuser, Qamiles Heimatdorf Barkanesh. Qamile kommt auf einen Stock gestützt durch den Garten der Nachbarin. Noch in dem Moment, in dem sie die kleine feste Hand zur Begrüßung reicht, sagt sie: „Wenn du es machst wie ich, kannst du leben wie du willst.“ Dann geht sie in eines ihrer zwei kargen Zimmer. Hinter einem abgewetzten Sessel bewahrt sie ihre Kleidung auf: schwarze Plusterhosen aus festem Baumwollstoff, abgewetzte Pullover und weiße Filzhüte. Mit einer solchen traditionellen Männerkappe hatte bei Qamile der soziale Geschlechterwechsel angefangen. Schon als Zehnjährige bettelte sie ihre Mutter auf dem Bazar an, ihr doch einen weißen Hut zu kaufen. Aber diese war skeptisch und fragte sich: Was wird aus ihr, wenn sie ihn nie wieder absetzt? Wenn aus ihrem hübschen Mädchen mit der roten Weste und den langen Wimpern ein Mann wird? Wenn sie für immer allein bleibt? „Der Schwur war das Beste, was ich machen konnte“, sagt Qamile heute. „Ich musste mich nie dem Willen eines Mannes beugen.“ Dann setzt sie sich ihren Filzhut auf die silbergrauen kurzen Haare. Dass Frauen wie Qamile sich dafür entscheiden, ihr soziales Geschlecht zu ändern, wird häufig mit den mittelalterlichen Gesetzen des Kanun in Verbindung gebracht, die im Norden Albaniens in unterschiedlichen Versionen seit über fünfhundert Jahren gelten. Besonders verbreitet ist bis heute der „Kanun des Leke Dukagjini“, der in rotem Einband in jeder Buchhandlung in Albanien zu finden ist. Seine 1262 Artikel regeln alle Aspekte des Zusammenlebens – unter anderem sieht der Kanun auch Zwangsverheiratung und Blutrache vor. Lange ruhten die archaischen Gesetze. Das kommunistische Regime unter dem Diktator Enver Hoxha hatte in den vierziger Jahren jede Form von Selbstjustiz verboten und den Einfluss des Kanun zurückgedrängt. Doch Anfang der neunziger Jahre, als in Albanien der Kommunismus zusammenbrach, versank das Land in Anarchie. Erst seit etwa zehn Jahren gibt es in Albanien so etwas wie eine demokratische Grundordnung. „Was wir jetzt haben, ist noch viel schlimmer: Die Menschen berufen sich mal auf den Kanun, mal auf staatliches Recht. So wie es ihnen gerade passt“, sagt Sokol Delija Perpali. Er ist ein weiser alter Mann, der in Blutfehden vermittelt und dessen Wort in den verschiedenen Familienclans Bedeutung besitzt. Manchmal geht das Morden so lange weiter, bis es keine Männer mehr in der Familie gibt. In einem solchen Fall gestattet es der Kanun, dass eine Frau die Rolle des Familienoberhauptes einnimmt. Sie hat dann, genau wie sonst der Mann des Hauses, einige Pflichten und viele Rechte. Zum Beispiel ist sie dafür verantwortlich, sich um die finanziellen Belange zu kümmern, die Arbeit zu verteilen und die Familie nach außen zu repräsentieren. Andererseits muss sie sich um keine häuslichen Pflichten mehr kümmern, darf Schmuck, Waffen und Pferde besitzen und kann in der „oda“, einem eigenen Wohnraum nur für Männer, mit ihren Gästen Raki trinken. Laut der Anthropologin Young stirbt der Geschlechterwechsel aus traditioneller Notwendigkeit aber langsam aus. Stattdessen schwören die meisten Frauen ihrer Weiblichkeit ab, um unabhängig leben zu können. Sie bleiben dann für immer allein. „Als ich geschworen habe, ein Mann zu werden, habe ich mich auch dagegen entschieden, mir jemals die Frage nach einer eigenen Familie zu stellen“, sagt Qamile. Sie sitzt auf der grob gestrickten Überdecke auf ihrem Bett, draußen spielen die Nachbarskinder zwischen den Salatbeeten und Obstbäumen. „Und hat hier jemals ein anderer Mann geschlafen?“, übersetzt der Dolmetscher vorsichtig eine der aus westeuropäischer Sicht dringendsten Fragen nach sexuellen Bedürfnissen. Das Thema ist in der ultrakonservativen Region nicht nur absolut tabu, sondern kann auch regelrecht gefährlich sein. Würde eine verschworene Jungfrau zugeben, in irgendeiner Form sexuell aktiv gewesen zu sein, wäre nicht nur ihre Familie für sieben Generationen entehrt. Sie hätte auch Albanien vor den Augen eines Ausländers beschmutzt. „Na klar haben hier schon Männer geschlafen“, sagt Qamile, „als Freunde.“ Mit der Entscheidung, ihre Weiblichkeit abzulegen, werden die Burrneshas in die Männergemeinschaft aufgenommen. Manchmal lassen sie sich äußerlich nicht mehr unterscheiden, so sehr hat sich der Körper an die neue Rolle angepasst. Bei Rrahime Rama, einer verschworenen Jungfrau in den Frakth-Bergen bei Burrel, erinnert auf den ersten Blick nichts mehr an eine Frau. Über ihrer Oberlippe wächst ein harter Stoppelbart, den sie nie abrasiert, und ihre Hände sind durch die harte Feldarbeit im Laufe der Jahre zu rauen Pranken geworden. Unter dem braunen Wollpullover zeichnet sich kein Busen ab. Würde sich ein unwissender Besucher in den Bergen verirren und Rrahime vor ihrem Haus sitzen sehen, würde er sie wohl für einen stoffeligen Alm-Öhi halten. „Frauenarbeit ist nichts für mich“, sagt Rrahime, „ich kann weder kochen noch putzen.“ Seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr hat sie lieber schwere Männerarbeit verrichtet: die lehmige Erde mithilfe eines Pferds gepflügt, Wasserleitungen verlegt, Holz für den harten Winter geschlagen. Es scheint, als sei über die Jahre nichts Weibliches mehr geblieben. „Nur wenn ich auf den Hochzeiten von Leuten aus dem Dorf tanze, dann weiß ich nicht immer, ob ich gerade die Schritte der Frau oder des Mannes setze.“ Darum bleibt sie lieber gleich im Raum der Männer sitzen. Da gehört sie hin. Erstaunlicherweise sehen das auch die Männer des Dorfes so. Burrneshas werden in der Dorfgemeinschaft als vollwertige Männer akzeptiert. „Es hat ein paar Jahre gedauert, bis niemand mehr daran gezweifelt hat, dass ich es ernst meine“, sagt Gjuste Bardhi, die Burrnesha mit dem Fernfahrerrestaurant. „Aber mittlerweile ist das kein Problem mehr.“ Das lässt sich besonders gut am Abend beobachten. In der Kneipe ist es leer geworden, nur in der Ecke sitzt Gjuste mit ein paar Wachleuten und haut weiße Dominosteine auf den Holztisch. Es wird wenig geredet und viel geraucht. „Ich habe vor Gjuste noch nie eine Burrnesha persönlich kennengelernt“, sagt ein Domino-Spieler, „und war deshalb am Anfang etwas skeptisch. Aber sie redet und handelt wie ein richtiger Mann, ihr Wort gilt hier mehr als das vieler Männer.“ Dann schlägt Gjuste den letzten Dominostein auf den Tisch, klatscht in die Hände und lacht ein rauchiges Stakkato. Sie hat gewonnen.

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