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Heldenfilm

Dokumentation Art War - Ohne Drehbuch, aber mit Gasmaske

Eigentlich wollte der Filmemacher Marco Wilms eine Dokumentation über Hamed Abdel-Samad drehen. Dann brach die ägyptische Revolution aus. Wilms warf sein Drehbuch über den Haufen, folgte Abdel-Samad nach Kairo und tauchte ein in die Welt von Aktivisten und Künstlern

Autoreninfo

Katharina Pfannkuch studierte Islamwissenschaft und Arabistik in Kiel, Leipzig, Dubai und Tunis. Sie veröffentlichte zwei Bücher über das islamische Finanzwesen und arbeitet seit 2012 als freie Journalistin. Neben Cicero Online schreibt sie u.a. auch für Die Welt, Deutsche Welle und Zeit Online.

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Eine Straße mitten in Kairo. Staubige Mauern, ein junger Mann läuft vorbei, von einem Baugerüst flattert eine Plane. Alles wirkt ganz normal. Bis der Zuschauer plötzlich erkennt, dass die Kamera geradewegs auf eine Straßensperre zurast: Auf die meterhoch aufgetürmten Betonblöcke ist der weitere Straßenverlauf nur aufgemalt. Originalgetreu und aus der Entfernung täuschend echt. Straßensperren wie diese sollen seit der Revolution immer wieder Demonstranten in Ägyptens Städten aufhalten. Straßensperren wie diese werden aber auch immer wieder zur Leinwand für Graffiti- und Straßenkünstler.

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Explosion von Kreativität

„Schon zu Beginn der Revolution gab es eine regelrechte Explosion von Kreativität“, sagt Hamed Abdel-Samad. Der Politikwissenschaftler, Autor und TV-Partner von Henryk M. Broder erlebte die Revolution in seinem Heimatland von Anfang an hautnah mit. Auch der Berliner Dokumentarfilmer Marco Wilms war im Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz, als der Aufbruch in ein neues Ägypten gefeiert wurde. Genau wie Abdel-Samad war Wilms fasziniert von der plötzlich freigesetzten Kreativität: „Mit ganz neuen Ausdrucksformen eroberten die Künstler Straßen und Plätze“.

Vor allem Graffiti-Künstler sind auf dem Weg in die Zukunft wichtig, meint Wilms: „Sie suchen die Interaktion mit den Menschen auf der Straße und diskutieren mit Passanten, noch während ihre Wandmalereien und Graffitis entstehen. Ihr Beitrag zur politischen Bewusstseinsbildung ist enorm“. Denn es geht nicht nur darum, graue Fassaden zu verschönern, die Wände werden zu Medien: „Die Künstler dokumentieren die Geschichte der Revolution. Gleichzeitig beleben sie die pharaonische Tradition der Wandmalerei wieder und interpretieren diese neu“, erklärt Hamed Abdel-Samad.

Die berühmten Märtyrer-Porträts etwa, die nach Ausschreitungen während eines Fußballspiels in Port Said im Februar 2012 nahe des Tahrir-Platzes entstanden, erinnerten an die Todesopfer in der Hafenstadt. Straßenschlachten, Frauenrechte, Staatsgewalt: Jedes Thema wird seit der Revolution künstlerisch dokumentiert. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung von Meinungsäußerung und kreativer Individualität bahnen sich junge Künstler ihren Weg durch die Straßen des Landes – farbenfroh und ehrlich, respektlos und laut.

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Momentaufnahmen sind nicht genug

Internationale Medien berichteten viel über die revolutionären Wandmalereien aus Ägypten. Doch Momentaufnahmen waren Marco Wilms nicht genug. Fast drei Jahre lang begleitete er fünf ägyptische Künstler bei ihrer Arbeit, dokumentierte ihre anfängliche Euphorie ebenso wie ihre Zweifel nach dem Wahlerfolg Mursis 2012 und ihre Entschlossenheit, Islamisten und autoritären Kräften nicht das Feld zu überlassen. Denn die Künstler sind politische Aktivisten: Sie demonstrieren und liefern sich wenn nötig Straßenschlachten. Wilms war immer dabei, ausgestattet mit Gasmaske, Kamera und viel Spontanität. Herausgekommen ist die einzigartige Dokumentation „Art War“, die hinter die Schlagzeilen über politische Machtkämpfe und Todesopfer blickt. Graffiti-Künstler stehen dabei im Mittelpunkt, aber auch Musiker kommen zu Wort.

 „Es ist die erste Dokumentation, die über einen so langen Zeitraum hinweg das Land und seine Künstlerszene begleitet“, sagt Hamed Abdel-Samad. Er ist überzeugt: „Marco Wilms war der richtige für diesen Film“. In „Art War“ gibt Abdel-Samad nicht nur Antworten, sondern wirft auch Fragen auf. „Ich habe ein Buch über die Revolution geschrieben, aber ich bin selbst noch immer dabei, zu begreifen, was in Ägypten geschieht“, sagt er lächelnd. 

Wilms und Abdel-Samad kannten sich schon vor der Revolution. Der Berliner war von der Biographie des Deutsch-Ägypters fasziniert, man traf sich 2010, die Idee einer Dokumentation über Abdel-Samad entstand. Das Drehbuch war fast fertig, die Finanzierung stand – dann brach die Revolution aus. Abdel-Samad war schon in Ägypten, als Wilms ihn anrief. „Ich wusste nicht, was mich erwartet“, erinnert er sich, „doch ich dachte: Dort findet gerade eine Weltrevolution statt, das muss ich miterleben“. Also packte Wilms seine Kamera ein und flog nach Kairo. Statt eines Drehplans folgte er seiner Intuition und knüpfte schnell Kontakte in die gerade erst entstehende Street Art-Szene.

Den Künstler Ganzeer etwa lernte Wilms in einem Café kennen. Der damals noch unbekannte Ganzeer arbeitete gerade an einer Skizze, aus der später eine Wandmalerei in Kairo werden sollte. Von da an begleitete Wilms ihn. Über zwei Jahre später ist Ganzeer eine internationale Größe, seine Werke werden Galerien in Kanada gezeigt, die New York Times berichtete über ihn.

Hamed Abdel-Samad muss um sein Leben fürchten

Für Hamed Abdel-Samad änderte sich seit der Revolution ebenfalls viel: Er veröffentlichte sein drittes Buch, ist ein beliebter Talkshow-Gast und durch seine Kommentare und Einschätzungen einem wachsenden Publikum bekannt – auch in seiner Heimat. Sowohl in Deutschland als auch in Ägypten eckt er immer wieder an. Im Juni 2013 erhielt er dafür eine erschreckende Quittung: Weil er die Ideologie der Muslimbrüder mit dem Faschismus verglich, rief der Islamist Assem Abdel Meguid im Internet und im ägyptischen TV zu Abdel-Samads Tötung auf. An diese dunkle Episode erinnert auch Wilms in seinem Film.

Einschüchtern lässt sich Abdel-Samad nicht. Er ist überzeugt: „Extreme Meinungen schaffen Freiräume für moderate Kräfte, denn sie erweitern Grenzen und beeinflussen so die Dynamik der Gesellschaft“. Die Konfrontation zwischen Vertretern konträrer Ansichten sei wichtig. Eine solche Konfrontation ist auch in „Art War“ zu sehen: Ein Jugendlicher unterbricht ein Interview nahe des Tahrir-Platzes. Er stört sich an dem Aufdruck von Abdel-Samads Kapuzenpulli. „God is busy“ prangt in großen Buchstaben auf der Brust des Autors. Zu viel für den selbst ernannten Tugendwächter im Teenageralter. Der verbale Disput mündet in purer Aggression, ein Mob versammelt sich. Mittendrin: Marco Wilms – mit Kamera. „Die Menge war so sehr mit der hitzigen Diskussion beschäftigt, dass keiner meine Kamera bemerkte“, erinnert sich Wilms.

Szenen wie diese machen „Art War“ so besonders. Die Stärke des Films liegt aber auch darin, dass der Blick über die üblichen Motive hinausgeht. Abseits vom Lärm der Millionenstadt Kairo führt der Künstler Ammar Abou Bakr den Zuschauer und Wilms zur Quelle seiner Inspiration: Auf einem Sufi-Festival in Luxor zeigt sich das friedliche und tolerante Gesicht des Islam.

Marco Wilms eröffnet mit seinem Film eine neue Perspektive auf eine Gesellschaft im Umbruch, die man aus den Medien zu kennen glaubt. Weltpremiere  feiert „Art War“ am 29. Oktober auf dem Filmfestival DOK Leipzig, in den folgenden Wochen wird der Film in der Schaubühne Lichtenfels (30.10.), im Cinestar Leipzig (2.11.), im Studio Kino Hamburg (14.11.) sowie am Theater an der Ruhr (14.12.) gezeigt. Weitere Daten und Informationen zur TV-Ausstrahlung unter http://films2013.dok-leipzig.de/de/film.aspx?ID=4953 und https://www.facebook.com/pages/ART-WAR/224618117681436.

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