- Ein Blauwal von einem Roman
Warum Uwe Tellkamps Panorama der untergehenden DDR nicht allein durch seinen Umfang imponiert und nur mit einem Wort zutreffend zu kennzeichnen ist: Meisterwerk
«Ouvertüre»: Nacht und Nebel, Flackern und Schwanken. Trunkene Flut aus Kursivschrift, durchflackert vom grünen Fluoreszieren giftigen Unrats, von grellen Peitschenlampen über Wachttürmen, vom Goldgrund bürgerlicher Kunstausübung. Schwimmend, paddelnd, treibend durch «Tiefseedunkel» und «Spülicht» der Kanalisation, gezogen von leuchtenden Metaphern, gelotst von Schlägen alter Uhren, dem Knistern der Tonabnehmer auf Schallplatten von «Eterna» und der «Deutschen Grammophon», hinabgestoßen ins Rattendunkel der Flöze und anderen Raubbaus – finden wir uns plötzlich ausgespuckt im Dresden eines verwunschenen Dezembernachmittags, an der Seilbahn-Talstation zur Villenkolonie «Weißer Hirsch». Nicht ahnend, dass sich soeben im Zeitraffer vollzogen hat, was wir im Folgenden mit dem anfangs siebzehnjährigen Christian Hoffmann, seinem Onkel Meno, seinem Vater Richard und einigen anderen in eigener Angst durchleben werden: die sieben letzten Jahre des Staates DDR.
Knapp tausend Seiten, 72 Kapitel, drei «Bücher» und eine «Ouvertüre» umfasst der dritte Roman von Uwe Tellkamp, geboren 1968 in Dresden, bis 2004 praktizierender Chirurg, seitdem freier Schriftsteller.
An der Talstation
Die «Ouvertüre» ist das erste Kapitel eines Buchs im Buch, des Diariums von Meno Rohde. Meno ist Zoologe, Lektor der bibliophilen «Dresdner Edition» eines großen Berliner Verlags und Chronist aller Ungleichzeitigkeiten und Ungereimtheiten in einer gleichgeschalteten Gesellschaft, ein kalt-bekümmerter Pilatus im Serenus-Zeitblom-Gewand. Und: Lieblingsonkel Christians, mit dem diese Rezension noch immer an der Talstation des Buches steht, im Frost des 4. Dezember 1982, einen mit Leucht-Zitronen aus dem VEB «Narva» dekorierten Weihnachtsbaum vor Augen, die gelegentlich aus ihrem Wackelkontakt erwachen und die «elbabwärts liegende Silhouette Dresdens» zum Erlöschen bringen.
Nun nähert sich ruckend die Standseilbahn, «eine mit Meereslicht gefüllte Kapsel», um den hochbegabten, wegen seiner Akne weltverachtenden Oberschüler hinaufzuziehen in eine Pädagogische Provinz aus Jugendstilranken, Hausmusik, Big-Ben-Schlägen, Stolz und Verstellung, Sonderwissen und Bildungsdruck. Am Abend wird der fünfzigste Geburtstag Richards, seines Vaters, gefeiert werden.
Richard Hoffmann, Spezialist für Handchirurgie und designierter Medizinalrat, kein Arbeiterkind, auch kein Großbürger, sondern Sohn eines Uhrmachers aus dem Erzgebirge, ist verheiratet mit Anne, geborene Rohde. Anne, Meno und ihr Bruder Ulrich, Werksdirektor und als Einziger in der Familie SED-Mitglied, sind Kinder von Überlebenden des Moskauer Exils: roter Adel. Alle Verwandten, dazu die Kollegen und Vorgesetzten Richards, werden versammelt sein, Christian wird Cello spielen, und wären die Flüsterwitze nicht und die gezischten Verweise, so könnte sich dieser Advent politisierend durchplaudern durch Fontane’sche Rauchsalons und am Morgen des ersten Weihnachtstags münden in den üblichen dienstbotengestützten Verfall einer Familie von den Buddenbrooks bis zu den Dynastien des dänischen Dogma-Films.
Die Sepiafarbe des Idylls
Lange scheint es, als halte sich hinter den schmiedeeisernen Gartentoren der Pädagogischen Provinz, in der Christian sich heranbilden darf als ein Mensch, der einmal ein großes Klinikum leiten oder einen philologischen Lehrstuhl innehaben wird, die Sepiafarbe des Idylls. Fädchen werden gezogen zu Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten, den Nachbarn im «Haus Karavelle», im «Italienischen Haus», «Haus Wolfsstein» und im «Tausendaugenhaus». Sie spinnen den Leser ein in herrliche Ungleichzeitigkeiten, Residuen von Reform-Gymnastik, weltloser Musikschwärmerei und eines furchtlos zur Kirche wackelnden Broschentanten-Protestantismus, ja, selbst eine frühere Hofdame geistert noch herum und lädt zu Soireen. Frühstück im Wintergarten, «Alte deutsche Dichtungen, in Auswahl herausgegeben von Meno Rohde», Quartettspiel mit Christian, Onkel Niklas, Cousin Ezzo und Cousine Reglinde, ernst von Leinwänden blickende Männer und Frauen, eine Blume, eine Nessel, eine goldene Schnecke in der Hand. Der «Kompass über den knarrenden Parketten» ist, wie Meno, der Chronist, festhält, «unbeirrbar auf Weimar gerichtet». Und von Weimar her schwebt die Bezeichnung «Türmer» ein für die Bewohner des «Weißen Hirschen», oder doch jedenfalls für die, die an Christian Anteil nehmen, so benannt nach der Turmgesellschaft, die über die Wege des jungen Wilhelm Meister wacht.
Aber wir befinden uns in der DDR, in der jede individuelle Disposition, jede private Lüge, jeder schwache Moment früher oder später auf den Prüfstand des Politischen gerät und unter Umständen teuer bezahlt werden muss. Bald schiebt sich die Welt von unten in die Welt von gestern. Das kleinere Übel sind eingefrorene Wasserrohre, die kläglichen Verstrickungen des täglichen Tauschhandels, Zänkereien von fünf Parteien um ein einziges Bad, selbst die plötzlich verfügte Installation schnöseliger Funktionärskinder in den Mietgemeinschaften oder von Staatsstützen, die Honich heißen. Unten im Elbtal, in Richards Klinik, in Menos literarischer Welt, die er «Papierrepublik» nennt, im Internat, das Christian besucht, dann bei der NVA, werden die bürgerlichen Tugenden Prüfungen unterzogen werden, die niemand unbeschadet übersteht, der ein Mensch ist, Widersprüche in sich trägt, Fehler, Wünsche, Begierden hat. Oder auch nur eine schlechte Tagesform.
Unterstrom der Verödung
Christian, Richard, Meno: jeder hat seinen Roman in diesen sieben Jahren zwischen dem 4. Dezember 1982 und dem 9. November 1989. Den ersten beiden schauen wir mit dem Erzähler ins Herz, Meno hingegen, der in seinem Tagebuch jede Begegnung und Erfahrung durchdringt – vivisektorisch, assoziativ und parabolisch –, darf die eigenen Befindlichkeiten beschweigen, mit der gleichen, bisweilen seine Nebenmenschen aufreizenden Gelassenheit, die er in jeder Umgebung zeigt.
Durch drei Augenpaare also wird eine Gesellschaft besichtigt, deren schleichende Erosion sich abbildet in einem gewaltigen Unterstrom von organischen, erdgeschichtlichen, historischen, literarischen Konnotaten der Verödung, Verseuchung und Verschlackung. In dieser unablässig durch alle Erzählungen des Romans drängenden Bilderflut ist dessen eigentlich kritische Ebene zu orten – an keiner Stelle, nicht mit dem kleinsten Zuträger, nicht mit dem größten Dummkopf von Arbeiter-Schriftsteller, ist dieses Buch gehässig. Die Labyrinthe der Partei, die Kasernen, Zuchthäuser und Braunkohlegruben, in denen Christian drei Jahre freiwillig und zwei Jahre unfreiwillig verschwinden wird, sind aus diesem Unterstrom gebildet.
Das Dresden der Nomenklatura erscheint surreal, sein dunkles Herz ist die «Kohleninsel» in der Elbe, ein schwer bewachtes Sperrgebiet, das sich der Tagebau, die Stasi, sämtliche Behörden für Gesuche und Schikanen sowie die Vollzugsanstalt mit einer Art Majakowskiring zu teilen scheinen, in dem führende Genossen residieren, darunter auch Schriftsteller wie jener Altberg, der, im Land Rübezahls aufgewachsen und selbst so polternd wie gütig, unter Eingeweihten der «Alte vom Berge» genannt wird. Das Portrait dieses Dichters im goldenen Käfig, der, bramarbasierend in vielfache Schuld verstrickt und besessen von seiner Scham, den Ideologien des Jahrhunderts in die Falle gelaufen zu sein, den Mut zu sich selbst und somit für andere nicht mehr aufbringt, ist nur eine aus einem Dutzend faszinierender Charakterstudien. Wen immer man erkennen mag in den Autoren und Wissenschaftlern, die sich vorzugsweise unter Menos Lupe bewegen: Sie repräsentieren – scharfzüngig, brillant, hochkomplex allesamt – die Breite der Möglichkeiten für Intellektuelle, sich zu einem Regime wie dem der DDR zu verhalten.
Da sind der geniale, politisch indifferente, aber stets willfährige Naturwissenschaftler, der völlige Freiheit genießt und das Leben eines Aristokraten führt; der schwach begabte Nachkomme, mit Kunst und Privilegien genährt, der sich als Décadent und Kommunistenhasser inszeniert; der vom Realsozialismus enttäuschte jüdische Emigrant, der feinsinnig an der marxistischen Lehre festhält; der «Klassizist», privilegiert, offensiv stalinistisch, geschmackssicher und elitär; und zuletzt die beinah rücksichtslos offene, beinah kompromisslose Jungautorin.
Kultur-Nostalgie im Zwielicht
Meno, Lektor, Schmetterlingskundler, Tierschriftsteller, Kummerkasten, lavierend zwischen Zensur, mehr oder minder gesteuerter Papierknappheit und den Launen von Staatsdichtern und Halbdissidenten, die doch allesamt sein literarisches Urteil zu fürchten scheinen – Meno also bleibt weitgehend unbehelligt in seiner Zeitzeugenschaft. Richard, der in der Chirurgischen Poliklinik den Mangel verwaltet, ist für das Regime, das er verabscheut, ein unsicherer Kantonist. Lange nicht belangt, seiner großen chirurgischen Begabung wegen, wird er zusehends von seiner Vergangenheit eingeholt.
Richard hat, in jugendlichem Idealismus, wie ihm jetzt scheint, seinen besten, auch liebsten Freund bespitzelt, er hat eine Freundin und ein Kind von ihr. Überhaupt: Frauen. Richard ist erpressbar geworden, und so wird er erpresst, dann einfach nur noch gedemütigt. Am Ende, lange bevor die Stasi-Akten geöffnet werden, ist der beste Freund sein Feind, die Ehe mit Anne zerrüttet und die geliebte, gleichwohl verleugnete Tochter, herzzerreißend ihm zugetan, wird ihm entzogen. So entlarvt, verliert er auch die Bewunderung des Sohns, der aus Richards Unverblümtheit seinen schwankenden Mut gezogen hat. Christian, mäandernd zwischen den widersprüchlichen Lebenslehren der «Türmer», verbissenem Anstand und Eskapismus, Karrierepflicht und Systemverachtung, ist fremd im eigenen Körper, ewig feindselig verliebt, zitternd-kaltschnäuzig verbunkert im Elfenbeinturm aus Bildungswissen, Lustfeindlichkeit und Arroganz. Eine Tonio-Kröger-Gestalt, in destruktiver Selbstreflexion befangen, lustvoll eingewühlt in die eigene Feigheit und so aufrichtig im Zweifelsfall, dass er die Gulag-Seiten des Systems am eigenen Leib erfahren muss: Er verbringt ein mörderisches Jahr im Braunkohletagebau.
Zu diesem Zeitpunkt hat der neue, weder bei den kommunistischen Mandarinen, noch bei Wachtposten und Hausspionen sonderlich beliebte Sowjet-Präsident Gorbatschow bereits das Zauberwort «Beschleunigung» ausgegeben, und es scheint, als schlage sich, kaum ist das Wort gefallen, auch der Roman auf die Seite des Tempos, der Tänze auf dem Vulkan, Republikfluchten, Suizide und Respektlosigkeiten – auf die Seite des Rests, den sich ein «von Braunkohletagebauen und vergifteten Flüssen zerfressenes Chemie-Reich gibt». Ins Zwielicht rückt eine Kultur-Nostalgie, aus der kein Ethos entsprungen ist, das nicht problemlos mit den raffiniertesten Zynismen, mit Berechnung und Feigheit zusammengehen würde – und der sich doch andererseits poetischer Reichtum, Musikalität, Pathos und Schönheit von «Der Turm» verdanken.
Ewig süße Krankheit Gestern
Annähernd tausend Seiten hat dieser «Blauwal» von einem Roman, wie Christian alle Bücher nicht unter 500 Seiten und literarischen Höhenmetern nennt. Er führt eine Unzahl Menschen mit sich, viele sind interessant, manche, kaum anskizziert, unvergesslich. Einige verlieren sich, andere tauchen auf, niemandem außer Richard und Christian sind die innersten Regungen abzulesen, aber manchen vertraut man – auch solchen, die SED-Mitglieder sind. Dresden, «süße Krankheit Gestern», «Emirat des Bohnerwachses und der Gummibäume», wird mit tausend Metaphern besungen. Und am Ende erledigt als barockes, in «Algen, Dreck und Unrat» steckengebliebenes Schiff, «mit allen Fasern an der Vergangenheit haftend, die so schön nie war, wie du es schwärmst». Aber wer immer da spricht, der Autor oder sein Alter Ego Christian, macht sich etwas vor: die abgetakelte Serenissima ist die große Liebe dieses Buches.
Uwe Tellkamp besitzt die Kühnheit, seiner Figur Meno einen Satz
in den Mund zu legen, an dem man ihn selbst messen muss: Schlechte
Schriftsteller, sagt er, seien nicht fähig, ein Phänomen zu
erzeugen, «was der eigentlich schöpferische Akt wäre», sondern nur
imstande, über das Phänomen zu reden, «eben ‹Magie› zu sagen, statt
aus Worten etwas herzustellen, das sie hat». Nach diesem Maßstab
ist Uwe Tellkamp selbst genuin schöpferisch. Er hat einen
Bildungsroman geschrieben, der uns endlich vom kollektivistischen
Pop-Dagegensein bundesdeutscher Kleinbürgerkinder und kalauernder
Prenzlberg-Aktivisten erlöst. Man mag diese Urgewalt von
Erzählströmen und Bilderfluten einen Wenderoman nennen oder nicht,
traditionell oder nicht, man mag ihr einen Buchpreis für braves
Erzählen zuerkennen oder nicht: Sie ist eingepflockt in die
deutsche Literatur, setzt Maßstäbe, wird so bald nicht
vergehen.
Andreas Nentwich ist Literaturkritiker und Redakteur der Schweizer Wochenzeitschrift «Sonntag».
Uwe Tellkamp
Der Turm. Roman
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. 973 S., 24,80 €
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