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Die Lehre aus Stuttgart 21: Beteiligung von Anfang an

Überall begehren Bürger gegen Großprojekte auf, nicht nur in Stuttgart. Vermeidbar sind Proteste und Blockaden nur, wenn die Betroffenen in die Planungen einbezogen und ernst genommen werden. Das erhöht auch die Glaubwürdigkeit der Politiker.

Jahrelange Planungen, zahlreiche Studien und Expertengutachten, internationale Zustimmung, öffentliche Anhörungen und die nötigen Genehmigungen hatten, so dachten die Verantwortlichen, ihrem Vorhaben die nötige Legitimität verschafft. Einer Besetzung durch Umweltschützer glaubten sie durch Regierungsunterstützung, gerichtliche Räumungsbeschlüsse, Einsatz von Sicherheitspersonal, Polizei und Wasserwerfern erfolgreich entgegentreten zu können. Und doch mussten sie ihren Plan am Ende aufgeben. Was wie die Kurzfassung von Stuttgart 21 klingt, ist die Geschichte der den Konzernen Shell und Exxon gemeinsam gehörenden Öllagerplattform Brent Spar. Im Verein mit deutschen Medien und deutscher Öffentlichkeit hatte Greenpeace die Versenkung der außer Dienst gestellten Anlage im Nordatlantik verhindert. Und das, obwohl vorher wie nachher nachgewiesen worden war, dass diese Form der Entsorgung geringere Umweltschäden als andere Entsorgungslösungen verursacht hätte. Es waren vor allem die Bilder in den Medien vom „Kampf“ zwischen Greenpeace und Shell, die zu lautstarkem Protest aus der gesamten Politik und nahezu jeder gesellschaftlichen Ecke, einem breiten Boykott von Shell, Drohungen nebst Briefbomben an Shell-Verantwortliche sowie Anschlägen auf Shell-Tankstellen führten. Eine so emotionalisierte Form öffentlicher Kritik hatte es bis dahin in Deutschland nicht gegeben.

Der Fall ereignete sich vor ziemlich genau 15 Jahren und zählt seither zur Pflichtlektüre eines jeden Kommunikationsverantwortlichen. Die Gegner von Stuttgart 21 haben ihn offenbar genau studiert. Ob das auch für die Verantwortlichen in der Politik und bei der Deutschen Bahn gilt, erscheint fraglich.

Die Parallelen sind offenkundig: Auch in Stuttgart verlangen große Teile der Bevölkerung lautstark einen Stopp des Projekts. Angefangen mit „Montagsdemonstrationen“ einiger Tausend Menschen über originelle, kreative Protestformen wie dem täglichen „Schwabenstreich“, „Bürgerchor“ und „Widerstandsbier“ wurde aus einer Bürgerinitiative eine Protestbewegung. Mittlerweile mobilisiert das Bahnhofsprojekt regelmäßig 50000 bis 60000 Demonstranten. Meist sind es „brave“ Schwaben, keine Krawallmacher, sondern Bürger wie der Schauspieler Walter Sittler. Mit betont ruhiger und besonnener Argumentation geben er und viele Bildungsbürger dem Widerstand ein glaubwürdiges Gesicht. Je mehr Zeit ins Land geht, umso mehr Menschen schließen sich den Protestaktionen an, umso entschlossener wird ihr Widerstand. Die Politik, von dem Protest „kalt erwischt“, reagiert bislang im alten Schema: Beschlossen und verkündet – der Tiefbahnhof wird realisiert. Diese unverrückbar scheinende Haltung, die als ignorante Arroganz der Macht aufgefasst wird, schürt den Widerstand und verstärkt ihn zur Wut. Stark emotionalisiert wurde die Lage durch den polizeilichen Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray gegen Schulkinder, Frauen und Rentner und die Bilder darüber.

Mit der Heftigkeit des Protests hatte man weder im Stuttgarter Rathaus noch in der Villa Reitzenstein gerechnet. Es scheint, als habe man zu lange geglaubt, gewisse Kritik gehöre nun einmal zur zwangsläufigen Begleitmusik eines solchen Projekts. Im Laufe der Jahre wird man sich an Proteste gewöhnt und sie weniger ernst genommen haben, als sie es verdient hätten. Im Umfeld näherrückender Wahlen übersah man schließlich, welches Eskalationspotenzial in dem Thema steckte und wie verlockend es für den politischen Gegner, die Bürgergesellschaft und die Medien war, dieses zu nutzen. Hinzu kam die Überzeugung der Politik, mit den vorgeschriebenen Beteiligungen der Öffentlichkeit, der Offenlegung der Planungen, der Behandlung von Einsprüchen bis zu rechtskräftigen Entscheidungen und der Befassung der Parlamente das Projekt rechtsstaatlich abgesichert zu haben. Man glaubte, das Projekt sei damit hinreichend legitimiert. „Spätestens dann, wenn die höchsten Gerichte über das Projekt entschieden haben“, sagt auch Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, müsse ein Schlusspunkt gesetzt sein. Dem schloss sich Ministerpräsident Stefan Mappus mit den Worten an: „Bei völlig rechtmäßig getroffenen Entscheidungen braucht man keine Bürgerbefragung.“

Juristisch betrachtet mögen sie recht haben. Mit diesem Hinweis werden sich die Demonstranten allerdings nicht nach Hause schicken lassen. Legalität ersetzt keine öffentliche Akzeptanz, macht ein Projekt in den Augen der Bürger nicht automatisch legitim. Ihre Akzeptanz zu erreichen, bedeutet eine andere Kommunikation mit ihnen, wie man aus zahlreichen Beispielen, wie etwa dem Fall Brent Spar, lernen kann. Stuttgart 21 liefert den Beweis: Trotz aller Möglichkeiten, sich jedenfalls aktuell ausreichend über die Planung und die Argumente für das Projekt zu informieren, bleiben die Gegner bei ihrer Forderung „Kein Stuttgart 21“. Ungeachtet aller bisherigen Versäumnisse lässt sich die jüngste Entwicklung der Proteste gegen das Projekt freilich nicht mehr allein durch Fehler bei der Information der Bürger und der Kommunikation mit ihnen erklären.

Stuttgart 21 liest sich wie eine Anleitung zur Steigerung der Politikverdrossenheit der Bürger. Erst den Protest kleinreden, dann die Demonstranten in die Ecke stellen, die Eltern beschimpfen, weil sie ihre Kinder mit zur Demonstration nehmen. Schließlich die Staatsgewalt mit Knüppeln und Wasserwerfern einsetzen. Und wenn das alles nichts hilft und der Protest „aus dem Ruder“ läuft, scheinbar geschmeidig beidrehen. Egal wie der Schlichtungsversuch von Heiner Geißler endet, eines steht bereits fest: Die Legitimation der Politik geht verloren, wenn sie so die Signale der Menschen missachtet.

Inzwischen allerdings dämmert den Politikern, dass der Widerstand ernst zu nehmen ist. Hatte Mappus anfangs von „Berufsdemonstranten“ und „Widerstand der Straße“ gesprochen, dem man entschieden entgegentreten müsse, bezeichnet er es nun immerhin als „Sieg der Demokratie, wenn Menschen für und wider demonstrieren, sich emotional engagieren“. Eine Einsicht, die die Demonstranten sich als Erfolg an ihre Fahnen heften können. Allerdings hat dazu auch die Politik selbst wesentlich beigetragen, auch durch den dramatischen Polizeieinsatz, der heftige öffentliche Reaktionen und eine starke Emotionalisierung des Protests ausgelöst hat. Immerhin erscheinen die offiziellen Zugeständnisse, es seien in der Vergangenheit Kommunikationsfehler gemacht worden, als ein Hinweis darauf, dass offenbar das eine oder andere Signal des Bürgerprotests bei den Entscheidern angekommen ist.

Die Haltung der „vor Ort“ betroffenen Politiker ändert sich in Windeseile. Plötzlich erscheint auch denjenigen die Bürgerbeteiligung möglich, die gestern noch die Proteste verteufelten. Der „Moderator für Großprojekte“, so ein Debattenschnellschuss, soll ins Gesetz. Doch wer heute so und morgen anders redet, stößt auf berechtigte Skepsis.

So liegt der „Sieg der Demokratie“ hoffentlich vor allem darin, dass Politik und Wirtschaft langsam erkennen, dass die Bürger ihren Großprojekten und anderen Vorhaben mit einem neuen Selbstbewusstsein entgegentreten. Damit ist Stuttgart ein Symbol, weshalb der Vorgang auch außerhalb der Stadt nicht nur in den Medien eine so große Beachtung findet. Der Fall zeigt exemplarisch, dass der Politik vielfach der direkte Draht zu den Bürgern verloren gegangen ist. Politischer Wille und Meinungen der Bürger fallen immer häufiger auseinander.

Dass Politik so nicht mehr funktioniert, ist eine Binsenweisheit. Aber im Handeln und in der Kommunikation der Politik ist diese Erkenntnis immer noch nicht angekommen. Langzeitumfragen zeigen, dass die Menschen der politischen Kaste nicht mehr vertrauen. Die Wahlbeteiligungen, ganz gleich auf welcher Ebene, haben einen Tiefpunkt erreicht. Es wird Zeit, dass die Politik erkennt, dass die Uhren heute anders gehen.

Im Protest gegen Stuttgart 21 wird daher mehr sichtbar als nur der Widerstand gegen ein Großprojekt. Der Protest ist gleichzeitig Symbol für Politik- und Politikerverdrossenheit der Bürger und mangelnde Bodenhaftung der politischen Entscheidungsträger. Wer sich nicht mehr ernst genommen fühlt, verliert zu Recht Vertrauen. Wem vermittelt wird, er habe keine Ahnung, der fragt nach der Legitimation der Politik. Ungeachtet dieser schlechten Erfahrungen wird der Graben zwischen der Wirklichkeit der Menschen und den politisch Handelnden immer größer. Kein Wunder, wenn man sich anschaut, wie die Pflicht zu Information und öffentlicher Beteiligung vielfach wahrgenommen wird. Die Attitüde „Information von oben nach unten“ funktioniert nicht mehr. Die Bürger fordern Mitspracherechte und Information auf Augenhöhe. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat in ihrer Antrittsrede als Bundesratspräsidentin formuliert, wie die Politik diese (neuen) Anforderungen erfüllen muss. Es gehe darum, „von Anfang an aus Betroffenen wieder Beteiligte“ zu machen. Damit hat sie eine entscheidende Vorbedingung für erfolgreiche Politik formuliert. Information und Beteiligung, das verlangen die Bürgerinnen und Bürger immer lauter.

Dass Projektplanungen auch anders ablaufen können, zeigen zwei Hamburger Großprojekte im Jahr 2007: das eine die Idee einer Living-Bridge, einer an die Ponte Vecchio erinnernden 700 Meter langen Brücke über die Elbe mit Restaurants, Geschäften und 1000 Wohnungen, das andere die Frage der baulichen Gestaltung des Domplatzes mitten in der City. In beiden Fällen hatten die Bürger die Möglichkeit, in Onlineforen die Pläne ausgiebig zu diskutieren und eigene Ideen vorzuschlagen. Die Ergebnisse dieser unter breiter Beteiligung von Bürgern und Experten sowie einer starken Medienresonanz abgelaufenen Prozesse sind bemerkenswert. Die zunächst als wegweisend bezeichnete Idee der Living-Bridge fand keine Mehrheit und wurde verworfen. Und der Hamburger Domplatz ist nun eine grüne Oase in der Stadtmitte mit den angedeuteten Grundmauern des Doms ganz ohne die ursprünglich vorgesehenen Stahl- und Glasbauten. Positive Beispiele sinnvoller Bürgerbeteiligung statt Bürgerproteste. Aber auch im Stadtstaat Hamburg läuft, was Bürgerbeteiligung angeht, nicht alles glatt, wie das Beispiel der gescheiterten Schulreform und der Protest der Hamburger gegen die Elbphilharmonie zeigen.

Die Hamburger Projekte und Stuttgart 21 lassen sich wegen ihrer Größe, des jeweiligen Finanzvolumens und der Auswirkungen auf die Lebenswelt der Menschen nicht ohne weiteres miteinander vergleichen. Der Politik und der Wirtschaft zeigen sie aber, dass Kommunikation von Anfang an ein wesentlicher Bestandteil der Planungen der Projekte sein und der Kommunikationsverantwortliche seinen festen Platz im Projektteam haben muss. Welche Botschaft ist mit dem Projekt verbunden? Wie kann man es kommunizieren? Ist es überhaupt kommunizierbar? Das sind die Fragen, die sich gleich am Anfang stellen. Denn alle Beispielsfälle zeigen, dass ein Vorhaben, das den Beteiligten kommunikativ nicht vermittelt wird und deshalb keine Akzeptanz findet, nicht durchgeführt werden kann. Die Kommunizierbarkeit ist also der Lackmustest in der Projektplanung.

Das bedeutet, dass die Politik zukünftig nicht mehr umhinkommt sicherzustellen, dass die Bürgerinnen und Bürger von Anfang an real an dem Projekt beteiligt werden. Das war bei Stuttgart 21 offenbar nicht der Fall. Wer genau hinsieht, stellt nämlich fest, dass die Beteiligung zwar nach allen erforderlichen Regularien, tatsächlich aber nur pro forma abgelaufen ist. Wie anders kann man es verstehen, dass bei den über 10000 Einsprüchen nur die berücksichtigt wurden, die Änderungen an Einzelheiten des Tiefbahnhofsprojekts vorsahen? Alle Einsprüche, die sich gänzlich gegen das Projekt aussprachen oder Alternativen unter Beibehaltung des Kopfbahnhofs vorgeschlagen haben, sind komplett unter den Tisch gefallen.

So werden aus Betroffenen keine Beteiligten, sondern Protestierende wie im Fall Stuttgart 21 oder gar „Wutprotestanten“ wie in Gorleben. Die Folge dieses Kommunikationsversagens ist fatal: Denn nun spielt es keine Rolle mehr, ob der Protest gerechtfertigt ist oder nicht, ob die Protestierer mit ihrem Protest recht haben oder nicht. Ab jetzt bringen Information und Kommunikation allein nicht mehr die Lösung. Nun ist der Widerstand die Realität, mit der man sich auseinandersetzen muss, vor allem der durch diesen ausgelöste Verlust der eigenen Handlungsfreiheit. Um sie zurückzuerlangen, ist allein die Frage zu beantworten, was man dem Protest operativ und nicht, was man ihm inhaltlich entgegensetzen kann. Denn Kommunikation ist in diesem Stadium überfordert, die Basis für ein Agieren „nach Plan“ zu ermöglichen. Folgerichtig ist das Stuttgarter Schlichtungsverfahren trotz aller gut gemeinten Informationen via Internet und TV eine reine Schaufensterveranstaltung und Bühne der beteiligten Befürworter und Gegner. Dadurch jedenfalls wird der Konflikt nicht gelöst werden. Protest und Demonstrationen werden nicht nachlassen. Handlungsfreiheit wird daher nur gewonnen, wenn Lösungen gefunden werden, die am Ende dem Widerstand gegen das Projekt nachgeben.

Stuttgart 21 steht heute exemplarisch für viele Projekte. Immerhin markiert das Megaprojekt einen Wendepunkt, hinter den weder Wirtschaft noch Politik je wieder zurückkehren können. Wenn „Politik planbar“ sein soll, müssen Partizipation und Information künftig Standard für solche Projekte von Politik und Wirtschaft werden. Da mögen sich noch so viele Kritiker melden, die gegen solche Bürgerbeteiligung ins Feld führen, das würde den Fortschritt stoppen. Es gibt längst auch über die genannten Hamburger Bauprojekte hinaus gute Erfahrungen mit Beteiligungselementen. Dazu braucht man nicht einmal die Schweizer Praxis zu bemühen. Auch in Deutschland gibt es mittlerweile über 140 Kommunen, die ihre Bürgerinnen und Bürger an der Haushaltsaufstellung beteiligen. Bereits 67 der Kommunen haben sogenannte Bürgerhaushalte beschlossen. Diese Beispiele zeigen, dass Partizipation Politik tatsächlich planbar macht. Natürlich gibt es auch bei solchen Verfahren Gewinner und Verlierer. Aber wenn alle Bürgerinnen und Bürger in der Kommune Gelegenheit hatten, ihre Vorstellungen einzubringen, schafft das Akzeptanz für das Ergebnis und wird daher auch von den „Verlierern“ mitgetragen.

In großen und zunehmend wohl auch kleinen Projekten bedeutet das für beide Seiten – Politik wie auch Bürgerinnen und Bürger – einen Gewöhnungsprozess. Der Bürgerfrust über „die da oben“ muss in echte und aktive Beteiligung umgelenkt werden. Auf der Suche nach Akzeptanz und einem Mehr an Legitimation muss die Politik dies ermöglichen und gleichzeitig das Bewusstsein schaffen, dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Es mag sein, dass das eine oder andere Politik- oder Wirtschaftsprojekt dadurch nicht so umgesetzt werden kann, wie man sich das ursprünglich gedacht hatte. Aber mit der Bürgerbeteiligung hat man die Legitimation für seine Projekte und damit den notwendigen Handlungsspielraum sichergestellt. Das schafft nicht nur Akzeptanz, sondern macht Politik tatsächlich planbar.

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