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Warum lasst ihr euch das bieten?
Rendite statt Qualität, hohle Gratisprodukte statt ernster Journalismus? Tatsächlich ist die Medienkrise eine Sinnkrise. Bodo Hombach rechnet mit den verkommenen Sitten eines unkritischen Medienbetriebs ab und fordert den egoistischen Leser
Morgens vor dem Rasierspiegel ist die Welt noch in Ordnung. Du bist Mitarbeiter einer großen und angesehenen Zeitung, mit Reichweite und Einfluss. Der redet niemand drein. Die macht seit Jahrzehnten eine ansehnliche Arbeit und versteht es, sich den meisten Lesern unentbehrlich zu machen. Die nimmt ihre Mittlerrolle ernst, ist Gelenkstelle zwischen allen Räumen des öffentlichen Lebens, Drehscheibe für Ideen, Schnittpunkt für Kraftlinien aller Art, Arena, Forum, aber auch Nische und Nest, Rumpelkammer für Exkurse ins Fantastische, frech, präzise, zivil, Sendbote zwischen den Ein- und Ausgeschlossenen, Dolmetscher zwischen oben und unten, Gestern und Morgen, Rand und Mitte, Vor- und Nachdenkern, Instrument der Auseinandersetzung und des Zusammengehens, aktuell, flexibel, empfindsam und hart, mit Leidenschaft und Kühle, Katheter für sozialen Problemstau, Kompostecke für Kulturabfall, Schredder für Abgelegtes, Abgenutztes, Abgestandenes, Seismograf für feinste Beben auf der nach oben offenen „Richter-Skala“ des Geistes, offen für jede Bitte, aber verschlossen für jeden Befehl. – Kein schlechtes Gefühl. Das Spiegelbild lächelt. „Ich kenne dich nicht, aber komm her, ich rasier dich!“ – Der Tag kann beginnen.
Auf der Fahrt ins Büro kommt es zu Momenten des Innehaltens und Nachdenkens. Da sind die Leute, um die es geht: Gesichter und Schicksale, Interessen, Prägungen, Leidenschaften, Temperamente. Was ist ihr Lebensgefühl? Welches Bild haben sie von der Welt? Was treibt sie um? Der Kündigungsbrief im Postkasten, der Lottobescheid, die jüngste Geburts- oder Todesanzeige, der DAX, das „Tor des Monats“? – Millionen „hängen rum“, sind entbehrlich, nehmen nicht mehr teil und hören die Uhr ticken. An den Häuserwänden flotte Sprüche: „Hol dir!“ „Kauf dir!“ Grelle Bilder verordnen Jugend, Gesundheit, Schönheit, Erfolg. Jetzt und hier. Wehe dem Leistungsverweigerer oder Konsummuffel. Wehe dem Langsamen, Umständlichen, Behinderten! Wie viele werden heute außer Atem kommen?
Ankunft im Pressehaus. Smalltalk im Aufzug. Das Wetter. Das Wochenende. Lange Korridore. Ein unglaublich zergliedertes System. Macher, Verwalter, Techniker, Gestalter, Planer. Hinter jeder Tür vielleicht ein kreativer Feuerkopf, vielleicht aber auch ein Bremser mit dem Territorialverhalten eines Merowingers.
Nicht Maschinen machen die Zeitung, sondern Menschen. Da sind Redakteure mit ihren Sekretariaten. Da ist ein mittleres Heer von freien Mitarbeitern, Autoren, Fotografen, Layoutern. Da ist ein tief gestaffeltes Netz von Informationsquellen, persönlichen Kontakten, Präsenz in einschlägigen Gruppierungen, Publikationen, Akademien. Natürlich auch Technik und Logistik. Alles in allem eine lange Kette von Subjekten mit viel Erfahrung und guten Ideen, aber auch fehlbar und begriffsstutzig, mit Gelassenheit, aber auch Ungeduld und Leidenschaft. Der Leser ist das letzte Glied der Kette, mit seinen Vorlieben und Abneigungen, seinem Werdegang, Erziehung, Schule, Erfahrungen, mit seinem Charakter, Temperament und – Parteibuch. Und alles hat den Charme der Vergänglichkeit. Irgendwo im Hintergrund steht die Freiheitsgarantie des Grundgesetzes, das Pressegesetz mit seinen Idealen: Menschenrechte, Wahrheitsliebe, Ausgewogenheit, Berufsethos.
Jetzt ist alles an der Arbeit. Finger klappern über die Tasten, Bildschirme leuchten, Telefone summen und unzählige Gespräche im Korridor, im Aufzug, an der Frühstückstheke. Es vibriert der Betrieb. Konferenzen, Regularien, Strukturdebatten. Der nächste Unternehmensberater steht ins Haus. Synergie-Hoffnung, Rationalisierungsanstrengung, Qualitätssteigerung, Einsparungen. Die Abonnentenzahlen schwanken mit fallender Tendenz, die Marktanteile sind bedroht. Früher sagte einer dem wütenden Leser: „Dann lesen Sie doch eine andere Zeitung!“ – Heute greift man zum Bußgewand und sagt: „Bitte, geben Sie uns noch einmal eine Chance!“
Es gibt kaum noch Wichtigeres als Abonnentenstand und Anzeigenpegel. Ist das die „Vierte Macht im Staat“? Wir liefern gute Arbeit ab, und ist die ihr Geld noch wert? Der Leser spürt es hoffentlich noch: Ein gelungener Artikel entlässt ihn nicht dümmer als er vorher war, und beim Lesen erscheint er ihm kürzer, als er physikalisch ist. Er vernebelt nicht, sondern schafft Durchblick. Er macht nicht nieder, sondern richtet auf. Die Zeitung oder die Sendung erweitern seinen Horizont, ermöglichen Teilhabe, Meinungsbildung, Kontrolle der Macht. Seitdem immer mehr Menschen einen immer größeren Anteil der Welt nur noch über die Medien erfahren, entscheiden diese über die gefühlte Bedeutsamkeit eines Themas. Das ist eine tägliche Herausforderung und eine tägliche Verantwortung. Da provozierte einer: „Du hast dir nichts vorzuwerfen. Deine Zeitung ist immer noch gut. Nur deine Leser wurden schlechter.“ Treue Gefolgschaft ist aus der Mode. Es gibt immer mehr „Laufkunden“. Viele leben auf Probe, flüchtig, bis zum Widerruf. Blätter drängen auf den Markt, die kostenlos in die Menge geworfen werden. Scheinbar kostenlos, denn natürlich zahlen die Leute – über die Werbeetats und die Produktpreise. Sie zahlen auch, wenn sie das Blatt gar nicht lesen.
Auch das ist wahr: Die Werbe-Inseln wachsen flächendeckend zusammen. Der Beeinflussungsversuch der PR auf journalistische Medien und die Beeinflussung der Berichterstattung durch wirtschaftliche Interessengruppen nimmt massiv zu. Für die Marketing- und Werbeabteilungen der Industrie ist es die effizienteste Form der Image- und Produktwerbung. Schleichwerbung kommt hinzu. Schon soll es Austauschbeziehungen nach dem Muster „Anzeige gegen Text“ geben. Nicht mehr alle können widerstehen. Für den Leser ist das kaum durchschaubar. Er soll es auch nicht merken. Etliche Journalisten passen sich an. Sie orientieren sich an der politischen Mehrheitsmeinung. Sie „jagen im Rudel“, wie ein Kluger von ihnen kritisierte. Kampagnenjournalismus muss nicht mehr organisiert werden. Es ergibt sich wie von selbst. Die Neidhammel umkreisen den Sündenbock. Einige Journalisten werden zu Dienern zweier Herren. Der Lokalredakteur, der auch für die Mitarbeiterzeitung eines Autokonzerns schreibt, muss diesem nicht nach dem Munde reden, aber er kann ihm nach dem Ohre schweigen. Er geht Konfliktthemen aus dem Weg.
Karge Honorare in einigen Medien machen zusätzliche Einnahmen aus PR-Tätigkeiten verlockend. Doppelbindungen führen immer zur Rücksichtnahme, zu Schreib- und Recherchehemmungen im Dienste des heimlichen Auftraggebers.
In vielen Blättern und Sendern werden Agenturberichte ungeprüft übernommen. Man hört, sieht und liest denselben Bericht. Das empfinden die meisten als Bestätigung. Mancher glaubt sogar dem selbst erfundenen Gerücht, wenn es zu ihm zurückkehrt.
Kritische Berichte polarisieren und verprellen. Das halten manche nicht für gut für die Abonnentenzahl. Insgesamt scheint die Lust am argumentativen Streitgespräch nachzulassen. Komplexe Themen verwirren und ängstigen die Leute. Sie mögen es anscheinend einfach, schwarz-weiß, klar ausgerichtet, im Gleichschritt („Wir sind Papst“). Sie wollen nicht Gegenwind und Widerstand. Leser, Zuschauer und Hörer wollen Bestätigung. Es ist scheinbar einfach, sie glücklich zu machen. („Für mein Geld kann ich erwarten, dass man an meine niedrigsten Instinkte appelliert.“)
Journalisten, die ihr Handwerk verstehen, gelten leider oft als lästige Schnüffelsucher und Fragensteller. Sie ähneln dem Zahnarzt. Sie bohren, bis es wehtut. Dann sind sie an der richtigen Stelle. Hinter den Fassaden der Macht, hinter Verlautbarungen und offiziellen Lesarten vermuten sie interessante Abstellräume. Würdenträger machen sie nicht schüchtern. Traditionen machen sie nicht ehrfürchtig.
Das passt einigen nicht mehr in ihre Landschaft. Analytische und kritische Fähigkeiten von Journalisten sind wichtiger denn je, aber sie werden als störend empfunden, manchmal vom eigenen Arbeitgeber. Wenn eine große Kaufhauskette zur Bilanz-Pressekonferenz einlädt, darf kein Journalist mit eigenem Kamerateam anrücken. Die Firma selbst stellt den Ü-Wagen und „verkauft“ den fertigen Bericht. Sie bietet auch die Hochglanzfotos an und lässt sich vor dem Interview mit dem Firmenchef selbstverständlich die Fragen vorlegen. Wenn der dann trotzdem ins Stottern kommt, wird das ganze Interview kassiert.
Warum lässt sich die Öffentlichkeit dies alles bieten? Die hohe Komplexität politischer, ökonomischer und sozialer Problemstellungen überfordert und ermüdet große Mehrheiten der Gesellschaft. Wer will heute überhaupt noch ein politisches Handlungskonzept als richtig oder falsch bewerten? Als „irgendwie richtig“ erscheint es, wenn es Komplexität reduziert, das heißt, wenn es in Schlagworten, fetten Schlagzeilen, Worthülsen und Vorurteilen daherkommt. Kritischer Journalismus glaubt letztlich an eine von Menschen beherrschbare Welt. Er traut sich zu, Fakten und Kriterien zu finden, die sinnvolles Handeln ermöglichen. Er unterstellt einen mehr oder minder vernünftigen Politikbetrieb, der in demokratischen Strukturen Meinungen und Informationen bewegt, um sich in diesem Wechselspiel selbst zu reproduzieren. Wer von den rund 50 Prozent Nichtwählern in diesem Lande teilt noch diesen Glauben? Vielleicht hat Journalismus als Erkenntnisweg noch nicht ausgedient, aber er kämpft ziemlich einsam – noch nicht chancenlos – gegen das Massenbündnis unkritischer Nutzer mit einer Unterhaltungs- und Verblödungsindustrie. Warum also sollte man als Politiker gegen den Trend schwimmen, wenn man Wahlen gewinnen will?
Foto: Picture Alliance
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