() Claude Lévi-Strauss
"Das Leben hat keinen Sinn"
Er zählt zu den großen Denkern des 20. Jahrhunderts. Nun wird er 100 Jahre alt. Claude Lévi-Strauss lebt abgeschieden und betrachtet die Welt des 21.Jahrhunderts mit großer Skepsis. Cicero hat ihn in Paris besucht Ein Gespräch mit Claude Lévi-Strauss
Am 8. November dieses Jahres feiert Claude Lévi-Strauss seinen 100.Geburtstag. In den vergangenen Jahren habe ich mit ihm immer wieder eingehende Gespräche in seiner Wohnung im 16.Pariser Bezirk geführt. Im Frühsommer unterhielt ich mich mit ihm in einem langen Telefonat. Claude Lévi-Strauss kann das Haus nicht mehr verlassen, keine Besucher mehr empfangen. Seine Stimme ist brüchig, der Geist hingegen völlig klar. Ich fragte ihn, ob er unserem Gespräch noch etwas hinzufügen wolle, an das er sich im Detail erinnere. „Nein“, sagte er, „Sie haben mir doch die Fragen gestellt, die mir noch kein anderer gestellt hat und denen ich sehr oft ausgewichen bin. Ich habe mich über das Gespräch sehr gefreut.“
Claude Lévi-Strauss sprach von seinen Freundschaften zu Michel Leiris und Roman Jakobson und bedauerte, nicht mehr an der Seine entlang gehen und die Bouquinisten besuchen zu können.
Gegenwärtig erscheint in Frankreich sein Werk in der „Pléiade“ bei Gallimard, was bisher nur wenigen Autoren wie André Gide oder Paul Valéry vergönnt war. Das Publikumsinteresse ist sehr groß, ein Signal dafür, welche Aktualität sein Werk genießt.
Herr Lévi-Strauss, Sie gehen davon aus, dass die abendländischen Kulturen von den als „primitiv“ bezeichneten Kulturen lernen müssten, vor allem von ihren Mythen, in denen der Sinn für Religiosität ebenso zum Ausdruck kommt wie die Urkraft der menschlichen Kreativität.
Ich glaube, es sind weniger unsere Kulturen, die dazu aufgerufen sind, als unsere philosophischen und wissenschaftlichen Denkweisen, denn diese haben sich in einer ganz anderen Richtung ausgebildet. Wir müssen ein Verständnis dafür gewinnen, dass der im Mythos verwurzelte Mensch mit seinen charakteristischen Mitteln genau jene Fragen stellt und zu beantworten sucht, die auch die unseren sind und deren Klärung wir von getrennten wissenschaftlichen Disziplinen erwarten. Die Beschäftigung mit den Mythen hat in mir die Überzeugung reifen lassen, dass die geistigen Muster – die Ideen, Einstellungen und Neigungen – auf allen Entwicklungsstufen durch eine deutliche Verwandtschaft gekennzeichnet sind.
In Ihrem Werk „Das wilde Denken“ erklären Sie, dass zwischen der archaischen und der modernen Anschauung keine wesentliche Kluft liegt, wie der Philosoph und Ethnologe Lévy-Bruhl sagt.
Ich würde nie behaupten, diese sei besser als jene. Doch als westlicher Mensch des 21.Jahrhunderts halte ich den wissenschaftlichen Ansatz, wie er sich im Abendland durchgesetzt hat, für „fortgeschrittener“ – wenngleich uns das nicht von der Aufgabe entbindet, andere Formen der Wirklichkeit zu erforschen und in die Überlegungen mit einzubeziehen.
Sie haben die Mythen der indianischen Kulturen Nord- und Südamerikas mit der europäischen Gralslegende verglichen. Wie ist das möglich? Kann man derartige Verwandtschaftsstrukturen zwischen räumlich und zeitlich weit voneinander entfernten Kulturen voraussetzen?
Das ist eine schwierige Frage, die sich nicht eindeutig beantworten lässt. Alles weist darauf hin, dass der Vorläufer des Homo sapiens, der Homo erectus zum Beispiel, bereits über eine Sprache verfügte und der noch viel ältere Homo habilis zumindest über gewisse sprachähnliche Formen. Von dieser Periode an gab es wahrscheinlich Mythen, deren Rudimente sehr lange erhalten bleiben; es ist daher gut möglich, dass ein paläolithisches Erbe existiert, das sich über die ganze Welt verteilt hat. Und auch wenn wir uns solcher prähistorischen Spekulationen enthalten, besitzt der Mensch doch ein Gehirn, das überall und jederzeit in ähnlicher Weise funktioniert, weshalb Übereinstimmungen und Querverbindungen zwischen den Denkinhalten durchaus normal erscheinen.
Foto: Picture Alliance
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