Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
() Angela Merkel als junges Mädchen
Aus dem Osten kommt das Licht

Auf der Suche nach den November-Gesichtern von Angela Merkel und Matthias Platzeck.

In jenem deutschen Staat, der vor fünfzehn Jahren viel zu spät das Zeitliche segnete, weil er nicht nur einfach ein normaler zweiter deutscher Staat war, wie der Zeitgeist der frühen achtziger Jahre im Westen der geteilten Nation nicht müde wurde zu behaupten, sondern eine ordinäre zweite deutsche Diktatur, mit all dem Schrecken, der Systemen dieser Art so eigen ist – in jenem deutschen Staat also, der heute wie ein böses Märchen hinter uns liegt und dessen Alltagsbilder und -details, trotz gelegentlicher vampirartiger Lebendigkeit in parteipolitisch oder unterhaltungsindustriell motivierten Nostalgie-Shows, langsam, aber sicher zu verblassen beginnen, gab es, wie mancher heute meinen könnte, nicht nur eine Partei, sondern tatsächlich eine ganze Hand voll. Zwar hatte nur eine von ihnen, die SED, auch „führende Partei der Arbeiter-klasse“ genannt, die Macht und das Sagen; doch die restlichen vier–die „Christlich-Demokratische Union Deutsch-lands“ (CDU), die „Liberal-Demo-kratische Partei Deutschlands“ (LDPD), die „National-Demokratische Partei Deutschlands“ (NDPD) und die „Demokratische Bauern-Partei Deutschlands“ (DBD) – verfügten, neben einer unveränderbaren Sitzquote im Scheinparlament „Volkskammer“, immerhin über unverwechselbar eigene Parteiabzeichen. Ansonsten wurden sie mit tödlicher Ironieferne „Blockparteien“ genannt, vereinigt im Block der „Nationalen Front“, unter Führung der SED, deren diesbezügliche Rolle Verfassungsrang hatte. Das Parteiabzeichen der SED mit den ineinander verschränkten Händen wurde im Volksmund denn auch realitätsnah „Existenzellipse“ genannt. Die Abzeichen der Blockparteien dagegen sahen zum Übersehen hübsch aus: Das goldgrüne der Bauernpartei zierte eine Ähre, auf dem liberaldemokratischen ging, wie bei der FDJ, die Sonne auf, die Nationaldemokraten durften silberne Eichenblätter auf silbernen Grund prägen und den Christdemokraten gelang es nicht nur, die Taube mit dem Ölzweig im Schnabel in den blauen Schild zu implantieren, das schwungvolle Parteiemblem wurde gekrönt von dem Wort-Bogen „Ex oriente lux“. Zu Deutsch: „Aus dem Osten kommt das Licht“. Es ist diese längst verblasste Formel, die mir in diesen Tagen durch den Kopf geistert, scheinbar absurderweise, aber dann doch irgendwie ziemlich logisch, wenn ich die Schlagzeilen in den Zeitungen über zwei deutsche Politiker lese, die vor sechzehn Jahren noch in jener Welt der fünf Parteiabzeichen gelebt haben wie ich vor rund dreißig, und die nun die mächtigsten des wiedervereinigten Deutschlands sein sollen: „Ein Menschenfischer“ wurde der eine genannt und die andere schlicht zur „Protestantin aus dem Norden“ gekürt, was stark nach Preußen klingt und allen Tugenden zwischen Theorie und Praxis aus dem Geiste Friedrichs des Großen und Immanuel Kants, von den biblischen Anklängen ganz zu schweigen. Weniger konjunkturauratisch gesehen, ist aber auch dieser zweite Karriereschub beider in der Welt des Politischen zunächst nur ein veritables Krisenprodukt: Ihr erster begann, als die SED-Diktatur zusammenbrach. Hängt es vielleicht damit zusammen, dass mich mit dem Auftauchen jener Formel auf dem Parteiabzeichen der „Christlich-Demokratischen Union Deutschlands“ in den Grenzen der DDR vor meinem inneren Auge zugleich ein nicht weniger seltsamer Wunsch umtreibt: Ich möchte für einen Moment unbeobachtet in den Privatalben jener beiden Politiker aus dem heutigen Osten des Landes blättern, auf der Suche nach Fotografien, die ihre Gesichter zeigen in jener legendären Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, da die Mauer fiel und alles ins Rutschen kam, was eben noch für die Ewigkeit galt. Ich möchte es deshalb, weil sich an den Menschengesichtern jener so gewaltigen, nicht aber gewalttätigen Nacht – auf Fotos, in Filmen, in Texten und Erzählungen – unretuschierbar ablesen lässt, was dem Einzelnen das Ereignis Freiheit, ihr materiell fassbarer wie unfassbarer Eintritt ins wirkliche Leben tatsächlich bedeutet hat. Wer die deutsche Geschichte auch nur ein wenig kennt, weiß jedenfalls, dass kein anderer Tag als dieser 9.November 1989 jemals dessen Emanzipations-Karat hatte noch haben wird. Er ist – im Unterschied zum 8.Mai 1945 und dessen ideologisch einseitigen, politisch aber hochmodischen Früh- wie Spätinterpretationen im Stile nord-koreanischer Phantasy-Historik – der einzige authentische Tag der Befreiung aller Deutschen. Denn seine moralische Reinheit wie politische Friedfertigkeit haben bewiesen, dass Revolutionen nicht unbedingt blutig sein müssen, um erfolgreich zu sein. Ein alter Fortschritts-Aberglaube wurde da glanzvoll widerlegt, der uns bis in diese Tage ein ums andere Mal zu beweisen versucht, dass notwendige Geschichtszäsuren ohne Massenmord nicht auskommen und das strukturell Gute daran, eben der Klassen-, Rassen- oder Massenfortschritt, unberührt davon bleibt. Eine Logik, die sich vorzugsweise bei Marx und Hegel Legitimationsformeln besorgt und mit der Freiheit über kurz oder lang immer nur als blutige Phrase hantiert. Aber bei Hannah Arendt findet sich der ebenso provokative wie wunderbare Satz: „Der Sinn von -Politik ist Freiheit.“ Wenn das stimmt, was ich glaube, dann war der 9.November 1989 das sinnvollste politische Ereignis der Deutschen im 20.Jahrhundert. Und dieses Ereignis hat ein vieltausendfaches Gesicht, das ich gerade in diesen Tagen gerne um zwei weitere komplettiert hätte: um die November-Gesichter von Angela Merkel und Matthias Platzeck. Ich weiß: Spätestens ab hier begänne nun das Reich der Spekulation. Denn ließe sich wirklich das Gesicht beider, vorausgesetzt, es gäbe sie auf Fotografien aus jenen historischen Stunden mit Zukunftswert, prospektiv hochrechnen zu einer Vision von Freiheitsverteidigung in Zeiten einer gewiss nicht nur fiskalischen Staatskrise bislang unbekannten Ausmaßes, sondern vor allem auch einer geistigen, die sich noch weniger wegrechnen lässt als die finanzielle? Die „Erbschaft dieser Zeit“, um mit Ernst Bloch zu sprechen, hat ja nicht nur Konsequenzen, wie sie der Philosoph schon vor siebzig Jahren ausgemalt hat: „Etwas wird anders. Von unten läuft ein Stoß weiter. Die Mitte merkt sich jetzt mindestens arm. Zwar merkt sie das falsch; denn es ist verschieden, nie Geld gehabt zu haben oder sein Geld verloren zu haben. Doch zuweilen auch kommt die einzigartige Lage, dass Spießbürger das Leben erneuern wollen.“ Die Erbschaft dieser Zeit, die Angela Merkel und Matthias Platzeck, deren gesellschaftliche Kindheits- und Jugendprägungen mir aus eigenem Erleben und Erfahren vom unbeschwert Fröhlichen bis ins tief Schmerzhafte vertraut sind, nun überlassen bekommen haben, hat ja durchaus Voraussetzungen, die sich nicht nur zwischen Wismar und Weimar finden lassen, sondern ebenso zwischen Hamburg und München wie Düsseldorf und West-Berlin. Man hat, ideologisch gesehen, in vielerlei Hinsicht nur den Augiasstall gewechselt. Ausgemistet werden, heißt das, muss er noch immer. Jenseits der antiken Metapher: Die Generation 68 hat das Land geistig, moralisch und finanzökonomisch in einem Ausmaß ruiniert, das in seiner destruktiven Potenzialität an die bekannten historischen „Erfolge“ des SED-Staats fast heranreicht. Die Fama sagt, dass Angela Merkel am Abend des 9. November 1989 in der Sauna war und Matthias Platzeck erstmals eine oppositionelle Veranstaltung mit organisierte. Die beiden Naturwissenschaftler aus christlich-bürgerlichen Elternhäusern haben sich also, wenn das stimmt, im Moment des Ausbruchs des Vulkans nicht am Kraterrand, sondern ziemlich weit ab davon aufgehalten. Das spricht zunächst einmal für einen gewissen Instinkt, man weiß ja nie. Es spricht aber auch für eine gesellschaftliche Form existenzieller Äquidistanz zu den Zentren von Macht und Gegenmacht, die als legitim anzuerkennen man älter, erfahrener, demütiger werden muss, wenn man, wie ich, zum Einsatz an der jeweiligen Hauptkampflinie neigt und hier notwendig mit dem Freund-Feind-Schema operiert, in das als dritte Figur gerade noch der Feigling passt. Von daher ähneln sich vielleicht unsere Kindheiten, Norddeutsche einer Generation, die wir sind. Aber dann, nach Schulzeit, Pioniertuch und FDJ-Hemd, das ich schon nicht mehr trug, nach Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht in Mecklenburg und der Uckermark, nach Betriebsferienlager, Mauerbau und 1.-Mai-Umzügen, formte sich die Wirklichkeit fortan, so wie man sich auf sie einließ oder nicht. Der evangelischen Jungen Gemeinde gehörte ich ebenso an wie die Pfarrerstochter Angela Merkel, aber ich verließ sie als Gedichte schreibender jugendlicher Rebell, als christlicher „Mensch in der Revolte“, der schließlich von der Universität flog, weil er dem Geist des 1968 blutig niedergewalzten „Prager Frühlings“ auch noch 1971 folgte. Die Pfarrerstochter dagegen glänzte als Schülerin und Studentin mit Bestnoten und durfte in der Sowjetunion forschen, die der jugendliche Dichter als pures Unrechts- und Massenmordsystem gedeutet hatte. Auch dafür wurde er 1973 von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit abgeholt und für Jahre aus dem begrenzten Gesellschaftsverkehr der DDR gezogen. Hat die Pfarrerstochter hier versagt und ich den reinen Helden gegeben? Wer so denkt, weiß nichts vom Leben, und von dem, was die Bibel uns abverlangt, weiß er schon gar nichts. Doch dann lese ich in einer Zeitung, dass Matthias Platzeck ein Raumfahrt-enthusiast war und von der Nacht der ersten Mondlandung schwärmt. Und ich erinnere, dass ich diese berühmte Nacht im Juli 1969 ebenfalls schlaflos vor dem Fernsehschirm verbracht habe, ebenfalls in der Uckermark und ebenfalls mit dem Wachtraum, eines Tages selbst auf dem Mond zu landen: Ich, zu diesem Zeitpunkt achtzehnjähriger Hilfspfleger einer evangelischen Pflegeeinrichtung für geistig Behinderte am Rand der Schorfheide, nicht weit entfernt von Wandlitz, der Siedlung der herrschenden Politbürokraten. Knapp vier Jahre später schossen mich ihre Geheimpolizisten und Parteijuristen wirklich auf den Mond, der lag ganz nah und hieß Brandenburg, wie das Land, das Matthias Platzeck heute regiert. Fast drei Jahre lang habe ich ihn erforschen dürfen. Eine wüste Gegend. Wie der echte Mond: viele Krater, kaum Atemluft und große Kälte. Aber das sorgte dafür, dass ich, ein 1976 freigekaufter politischer Häftling, dreizehn Jahre eher als meine beiden Generationsgefährten die Republik betrat, die sie nun direkt und indirekt regieren müssen. Und obwohl ich diese Republik wie das Paradies erreichte und lange als solches verteidigte gegen die, die sie heute, erweitert um unser gemeinsames ehemaliges Erfahrungsfeld, als ruiniertes Erbe an zwei Politiker übergeben, die lange nicht in die Hauptkampflinie vorrücken wollten, bin ich wieder Opposition und „Mensch in der Revolte“, wenn auch räumlich entfernt. Denn mein Bedürfnis nach Hauptkampflinien hat sich erschöpft. Ich lebe jetzt von jener Distanz, die meine beiden imaginären Gesprächspartner so erfolgreich bis 1989 pflegten. Manche sagen, ich wäre feige geworden. Aber das ist ein Missverständnis. Ich war schon am Kraterrand des Vulkans.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.