- In Zeiten des Umbruchs
Jochen Schmidt legt mit seinem neuen Roman das Tagebuch eines 14-Jährigen vor, der mitten in der Pubertät die geschichtlichen Umbrüche seiner Zeit wie durch einen Schleier wahrnimmt
«Das Leben ist kein Ponyhof», kann man heute auf den Baumwollbeuteln und T-Shirts selbstironischer junger Menschen lesen. So abgeklärt ist Jens im Sommer 1989 noch nicht: Das Leben ist für den 14-jährigen Ich-Erzähler in Jochen Schmidts Roman «Schneckenmühle» ein Betriebs-Ferienlager. Zum vierten und letzten Mal ist Jens jetzt in diesem sächsischen Ort mit dem heimelige Langsamkeit versprechenden Namen. Zwar versteht der Sohn christlicher Diplom-Philologen schmutzige Witze immer noch nicht und hat beim Skat und Fußball irgendwann «den Anschluss verpasst». Aber er gehört endlich zu den Großen und nimmt sich vor, alles irgendwie nützlich Klingende einfach für später zu notieren. Außerdem hat er sich vielleicht verliebt und würde bei der Abschlussparty möglicherweise tanzen, obwohl er das eigentlich nicht kann. Mit Peggy aus Dresden, die er mag, obwohl sie so seltsam ist.
Doch die Kette gleichförmig durch die Sommerhitze kriechender Tage reißt abrupt, als seine Eltern am letzten Morgen auftauchen, um Jens nach Ungarn mitzunehmen, was äußerst ungewöhnlich ist. Für die erste Rast kündigen sie ihm eine wichtige Erklärung an. Ob sie sich wohl scheiden lassen wollen, überlegt der verstörte Sohn auf der Rückbank. Und Peggy hat er nicht mal nach ihrem Nachnamen gefragt.
Was das kontinentweite politische Großbeben um ihn herum angeht, ist Jens unbedarft. Veränderungen hat er schon misstrauisch beobachtet, wenn sie sich als kleine Verwerfungen im DDR-Alltag zeigten: «Neuerdings gibt es immer mehr Sachen mit Maracuja-Geschmack, da überlege ich noch, was das bedeutet.» Dass er sein Leben in einer Art Blase führt, ist aber nicht nur system-, sondern auch alterstypisch. Vom heutigen Lesebühnenveteranen Jochen Schmidt zum Romanprinzip erhoben, sorgt der pubertäre Mangel an Überblick dafür, dass einem versponnene Ideen, halbverdauter Schulstoff, urbane Legenden, jede Menge Sprüche und Zoten, aber auch treffende Pointen beim Lesen wie Schrotkugeln um die Ohren fliegen. In dieser Zusammenstellung ergibt Schneckenmühle eine ähnlich skurrile, aber unterhaltsame «Zeitkapsel» wie jene, für die Jens’ Gruppe «eine ausgewaschene Papptonne von der Vierfruchtmarmelade» mit Alltagszeugnissen gefüllt und samt einem Schild «Erst im Kommunismus öffnen!» vergraben hat.
Manchmal juckt es einen in den Fingern, Jens in Lehrerrot «Nicht abschweifen!» an den Rand zu schreiben, zum Beispiel bei einem Erlebnisbericht aus dem Sportunterricht. Andererseits verdient er auch oft genug ein «Sehr schön beobachtet!», wenn er etwa bei einem Ausflug die pichelnde Oma vor dem Konsum entdeckt: «Mit der linken Hand, in der sie eine alte Handtasche aus Kunstleder hält, stützt sie sich gegen das Fensterbrett, mit der rechten schlägt sie einer Minischnapsflasche an der Betonkante den Hals ab und trinkt die Flasche aus.» Oder wenn er sich selbst analysiert: Es könnte ihm wichtig sein, stellt er einmal fest, «dass immer möglichst viel Zeit bleibt, bis die Zukunft beginnt». In der ist er nun angekommen.
Jochen Schmidt
Schneckenmühle. Roman
C. H. Beck, München 2013, 220 S., 17,95 €.
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