- Orangen im Nahostkonflikt
Diskussion, Kompromiss und Mehrheitsentscheidung sind nicht der Kern von Demokratie, sondern können sie sogar gefährden – sagt die israelische Friedens- und Demokratiepädagogik ‚Betzavta‘. Stattdessen soll sich jeder zuallererst um die eigenen Anliegen kümmern. So wollen die Betzavta-Erfinder nichts Geringeres lösen als den israelisch-palästinensischen Konflikt
Eine Orange liegt auf dem Küchentisch einer Zweier-WG. Beide Bewohner möchten sie haben. Die gängige Reaktion: die Orange teilen. Das ist der grundsätzliche Fehler, den demokratische Gesellschaften ständig begehen – sagt die Demokratie- und Friedens-Pädagogik Betzavta – Hebräisch für ‚gemeinsam‘. Denn genauso wie im Orangenproblem, so müsse man in der Demokratie allgemein nach anderen Alternativen suchen.
Die pädagogische Methode hat sich auf die Fahnen geschrieben, Demokratie als Lebensform zu vermitteln und so zu Frieden zu führen. Was abstrakt klingt, bedeutet konkret, Gemeinplätze demokratischen Verständnisses zu verlassen und sich dorthin zu begeben, wo Diskussion umgangen wird, Kompromiss und Mehrheitsentscheidungen nur Ultima Ratio sind und Win-Win-Situationen entstehen.
Vom Konflikt zur Selbstergründung
Im Stuhlkreis um einen gelben Blumentopf mit Efeu-Pflänzchen sitzen zwölf junge Erwachsene, die meisten Studenten an der TU Berlin. Jeder hält einen Zettel mit seinem Namen in der Hand. Hier, in einem kleinen Raum in der Unibibliothek, leiten ein langhaariger Kerl mit Regenbogenmütze und Bergschuhen und ein Student mit schnurgeradem Pony und großer Hipster-Brille ein Betzavta-Seminar. „Ihr habt jetzt 20 Minuten Zeit. Bei wem dann am meisten Namenszettel liegen, der darf eine Regel bestimmen, die den restlichen Tag gilt“, weisen sie an. Mehr nicht.
Zuerst zögerlich, dann immer wilder werden Vorschläge in den Raum geworfen. Ein Student mit streng gebundenem Pferdeschwanz steht auf, um sie auf einer Tafel zu listen. „Warum ist er jetzt plötzlich Moderator, ohne dass wir abgestimmt haben?“, fragt einer. „Ist doch egal, lass doch den Prozess laufen, wenn es auch so geht!“, kommt es genervt zurück. Noch zehn Minuten. Ein paar Leute blasen die Backen auf.
Zu einer geordneten Abstimmung kommt es nicht. Noch eine Minute. Dann liegen drei Namenszettel auf dem Schoß eines Studenten. Sein Vorschlag: Er wollte durch eine Regel die Kaffeepause verlängern. Alle starren auf ihn. Schließlich erklärt er: „Ich fühle mich nicht legitimiert, eine Regel aufzustellen.“
Der Kampf um eine nutzlose Mehrheit war hart. Aber das sollte diese Übung gar nicht aufzeigen, sondern zentrale Annahmen des Pädagogik-Konzeptes Betzavta.
Es geht davon aus, dass Konflikte auf unterschiedlichen Grundbedürfnissen beruhen. Das sind zum Beispiel Mitbestimmung, Sicherheit und Freiheit oder wie im Bibliotheksraum der TU die Prozessorientierung des Studenten, der einen Moderator wählen will und das Bedürfnis des anderen Teilnehmers, schnell zu einem Ergebnis zu kommen. Als ersten Schritt, müssen alle Beteiligten erkennen, welche Bedürfnisse sie selber überhaupt haben.
Deshalb hakt der langhaarige Trainer bei den Teilnehmern nach. „Warum wolltest du keinen Moderator wählen?“ „Warum hast du dich nicht ernsthaft dagegen gewehrt, dass sich jemand selbst zum Moderator ernannt hat?“ „War dir der Prozess vielleicht doch nicht so wichtig, wie du sagst?“ Die zwei Mitbewohner aus dem Anfangsbeispiel müssen sich also fragen: „Warum will ich überhaupt die Orange?“
Nach dem Kurs erzählt der Trainer, dass viele Menschen derartiges Nachbohren nicht aushielten. Er habe schon zahlreiche Betzavta-Seminare besucht, auf welchen Teilnehmer weinend zusammengebrochen seien.
Das erste Opfer der Demokratie in Israel
Um die Antwort auf die Fragen zu finden, müssen die Teilnehmer tief in sich gehen. Diese anstrengende Selbstergründung ist laut Betzavta-Erfinderin Maroshek-Klarmann unabdinglich. Es sei eine falsche demokratische Annahme, schreibt sie in ihrem Buch „Education for Peace Among Equals – Without Compromises & Without Concessions“, dass man die Attitüde anderen gegenüber zu ändern habe. Man muss aus sich selbst heraus eine „eigene Lösung eines Konfliktes finden, die nicht abhängt vom Gegenüber.“ Das heißt auch, Dialog erst einmal zu unterlassen.
Dieser Ansatz ist dann verständlich, wenn man den Hintergrund betrachtet, vor dem Betzavta entstand. Als am 10. Februar 1983 etwa 1.000 Israelis vor dem Sitz des Premierministers gegen die Sicherheitspolitik protestieren, eskaliert die Diskussion mit den jüdischen Nationalisten. Einer von ihnen schleudert eine Granate auf den Demonstrationszug. Die Splitter verletzen zehn Menschen. Der junge Lehrer Emil Greenzweig ist einer von ihnen. Er kann nicht mehr gerettet werden. Später nennen ihn die Menschen das erste Opfer auf dem Altar der israelischen Demokratie.
Einige Bürger versuchen seither, die demokratische Auseinandersetzung anders zu begreifen. Sie gründeten das‚ Adam Institut für Demokratie und Frieden in Erinnerung an Emil Greenzweig‘. Die Institutsdirektorin Uki Maroshek-Klarman entwickelte die Methode ‚Betzavta.
Gegen Kompromiss und Konsens
Bei Diskussionen im Nahen Osten stehen sich häufig Fundamentalpositionen gegenüber. Gerade im Israel-Palästina-Konflikt, wo sich beide Seiten im Recht wähnen. „Lehrer in Israel unterrichten nur einen Narrativ“, sagt Maroshek-Klarmann gegenüber Cicero Online. Erst aber, wenn es mehre Sichten gebe, könne man „die Art zu denken ändern“. Seit 20 Jahren arbeitet das Adam Institut mit Palästinensern und Israelis zusammen. Ein gegenwärtiges Projekt dreht sich um die UN-Resolution zur Zwei-Staaten-Lösung. Ein halbes Jahr bereiten sich Schulkinder darauf vor. Am ersten Tag simulieren sie die historische Verhandlung als Vertreter der unterschiedlichen UN-Staaten, am zweiten erarbeiten sie ihr eigene Resolution. Die Schüler sollen so mehr als nur die israelische und die palästinensische Perspektive auf den Nahost-Konflikt einnehmen. Maroshek-Klarmann nennt dies ein „multinarratives Event“.
Das Eröffnen neuer Perspektiven, um eingefahrenes Denken zu überwinden. Denn die beiden Lösungsalternativen im demokratischen Prozess – Konsens und Kompromiss – reichen Maroshek-Klarmann nicht. Kompromiss ist immer eine Einschränkung beider Seiten: keine Partei kann ihre Bedürfnisse voll erfüllen. Beide Seiten fühlen sich als Verlierer – daraus kann laut Betzavta Unmut und sogar Aggression entstehen. Sie sind noch stärker, wenn eine Mehrheit über eine Minderheit wegentscheidet.
Die unterschiedlichen Parteien müssen laut Maroshek-Klarman auch nicht zu einer gemeinsamen Meinung finden, also nicht zu einem Konsens kommen. Nach Betzavta ist ein dritter Weg möglich; eine Win-Win-Situation, in der alle Beteiligten maximal zufrieden sind.
Übertragen auf das eingangs erwähnte Orangenproblem, hieße das beispielsweise, dass der eine das Fruchtfleisch bekäme, der andere die Schale, die er vielleicht für ein spezielles Rezept haben wollte. Doch kann etwas, das mit Obst funktioniert, auch in der institutionalisierten Demokratie, in der parlamentarischen Auseinandersetzung fruchten?
„Klar ist es naiv, wenn man meint, das ginge immer“, sagt René Koroliuk, einer von deutschlandweit etwa 200 Betzavta-Trainern und Geschäftsbereichsleiter des Forums Politische Bildung des Bildungswerks des Deutschen Gewerkschaftsbundes. „Ich glaube jedoch, in der Politik und auch im Alltag wird das oft gar nicht erst versucht.“
Beispiel Tempelhofer Feld: Die Berliner Stadtregierung geht davon aus, dass die Initiatoren von 100% Tempelhofer Feld das stillgelegte Flughafengelände vor jedweder Bebauung bewahren wollen. Dabei geht es einigen – darunter dem Chef der Initiative selbst – nicht um eine mögliche Randbebauung, sondern um Bürgerbeteiligung, um direktdemokratische Mitbestimmung. Auf der anderen Seite sehen die Feld-Aktivisten im Masterplan des Stadtsenats nur ein verschwenderisches Prestigeprojekt. Out of the box zu denken, beispielsweise die Bürgerinitiative zu Ausschusssitzungen zu laden, versucht hier niemand.
„Man braucht neue Alternativen“
In Israel gibt es indes ein Beispiel für einen solchen geglückten Versuch. Als ein Streit mit Jordanien darüber entbrannte, auf welcher Seite einer Grenzbrücke nun das Band zur Eröffnung zerschnitten werden solle, spannte man einfach zwei: eines auf dem israelischen, eines auf dem jordanischen Teil der Brücke. Beide Seiten konnten ihre symbolpolitischen Ambitionen erfüllen.
Im Gegensatz zum deutschen Betzavta-Trainer René Koroliuk ist sich Uki Maroshek-Klarmann sicher, dass die Methode auch im parlamentarischen Prozess anwendbar ist. Zwar nähmen in Israel bisher keine Politiker an den Betzavta-Seminaren teil, „aber solche, die es danach werden“, sagt sie lachend.
Ihr Beitrag zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts sei es, dass sie durch ihre Projekte das Schwarz-weiß-Denken aufbrechen. Was man brauche, sei nicht die Wahl zwischen Alternativen, sondern eher die Schaffung neuer Alternativen.
Vielleicht muss man auch manchmal einfach eine zweite Orange kaufen. Wie diese Metapher auf den Nahost-Konflikt übertragen werden kann, bleibt offen.
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