- ...wo eigentlich heute die Front verläuft?
Versteht die SPD inzwischen mehr vom Kapitalismus als die FDP? Ist Heiner Geißler noch in der richtigen Partei? Und warum gibt es keine echten Bösewichter mehr, so wie Franz Josef Strauß? Amelie Fried über das neue weltanschauliche Potpourri
Früher hätte ich mit einem, der Franz Josef Strauß wählt, nicht mal geredet. Heute bin ich mit Leuten befreundet, die nicht nur für Mitt Romney gestimmt haben, sondern auch daran glauben, dass Homosexualität eine Todsünde ist und Gott die Welt vor 6000 Jahren erschaffen hat. Sie halten Obama für einen getarnten Moslem und natürlich für einen Sozialisten. Unsere politischen Ansichten könnten nicht weiter voneinander entfernt sein, und wenn ich mit ihnen diskutiere, stehen mir die Haare zu Berge. Trotzdem schätze und achte ich sie und habe ihnen sogar meine Kinder anvertraut. Mein Sohn und meine Tochter haben jeweils ein Jahr bei ihnen in Kentucky gelebt und eine wertvolle Lektion in Toleranz und Respekt gelernt. Sie besuchten jeden Sonntag die Gottesdienste der „Kirche des lebendigen Wassers“, durften mit zu Wahlkampfveranstaltungen von Sarah Palin und wurden mit Fox News dauerberieselt. Sie führten lange Gespräche mit ihrer Gastmutter und lernten zu verstehen, dass Menschen auf erstaunliche Weise anders denken und dennoch ähnliche Grundwerte haben können.
Mein schön geordnetes Weltbild ist – nicht nur durch diese Erfahrung – ins Wanken gekommen. Heute rede ich nicht nur mit CDU-Wählern, ich muss sogar zugeben, dass Ursula von der Leyen in kürzester Zeit mehr für Frauen und Familien getan hat als die SPD in Jahrzehnten. Der ehemalige NRW-Familienminister Armin Laschet (CDU) ist ein so vernünftiger Mann – man kann nur bedauern, dass Hannelore Kraft ihn in ihrem Kabinett nicht weiter beschäftigen konnte. Und dass Heiner Geißler nicht längst die Partei gewechselt hat, ist wohl nur seinem unbändigen Spaß an der Provokation zuzuschreiben. Zum Ausgleich gibt’s in der CDU glücklicherweise noch Erika Steinbach und Volker Kauder, die dafür sorgen, dass man nicht beginnt, am eigenen Verstand zu zweifeln.
Andererseits gehen mir viele Vertreter der Linken mit ihrer Verbohrtheit auf die Nerven, ebenso wie einige grüne Ökospießer, von den Piraten ganz zu schweigen. Mit Staunen nehme ich weiterhin zur Kenntnis, dass der Kanzlerkandidat der SPD den Kapitalismus besser begriffen hat als mancher Wirtschaftsliberale in der FDP, und so frage ich mich, wo eigentlich heute die Front verläuft? Wo kann ich mich weltanschaulich verorten, wenn nicht mehr klar ist, wer die Guten und wer die Bösen sind? Einerseits finde ich es toll, dass uns die Ideologie nicht mehr automatisch den Blick auf einen Menschen verstellt, andererseits war die Welt früher übersichtlicher. Manchmal wünsche ich mir deshalb die alten Feindbilder zurück. Und hin und wieder sogar Franz Josef Strauß.
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