- Staatsrechtliche Bauchschmerzen
Die deutschen Staatsgeschäfte laufen auf Sparflamme, während Union und SPD eine mögliche Koalition verhandeln – ohne dass eine Regierungsbildung sicher ist. Täglich kommentieren Politiker und Journalisten die Hängepartie. Doch was sagt eigentlich die Verfassung?
Die Deutschen sind pünktlich. Jedenfalls die neu gewählten Bundestagsabgeordneten: Am 22. Oktober traten sie erstmals zusammen und damit innerhalb der Frist von 30 Tagen nach der Wahl, die das Grundgesetz vorschreibt. Der Bundestag ist voll installiert. Voll Handlungsfähig. Theoretisch.
Der Gesetzgebungsprozess liegt auf Eis
Politisch ist er dies nicht. Gesetze sind unwahrscheinlich. „Weil wir in Regierungsmehrheiten denken,“ sagt Professor Christian Waldhoff von der Humboldt Universität. Dieses Denken ist eng mit dem Artikel 39 des Grundgesetzes verknüpft.
Wenn weder Kanzlerin, noch Bundespräsident, noch Bundestagspräsident den Zusammentritt des Bundestags verlangen, bleibt laut des genannten Artikels nur eine Möglichkeit: Mindestens ein Drittel der Abgeordneten zwingt den Präsidenten des Bundestags, den Bundestag einzuberufen. Die Opposition stellt jedoch insgesamt nur rund 20 Prozent der Bundestagsmitglieder, ist also abhängig von Union und SPD, die sich noch nicht auf eine Koalition verständigt haben. Pläne, die rot-rot-grüne Mehrheit für eigene Gesetzesinitiativen zu nutzen, fallen somit flach.
Dass das Parlament als gesetzgebende Gewalt aktiv wird, ist nur wahrscheinlich, „wenn etwas Gravierendes passiert, das sofortige Reaktion in Form eines Gesetzes verlangt“, so der Berliner Verfassungsrechtler Waldhoff. Dann wäre vorstellbar, dass das Parlament zusammentritt, um Gesetze zu erlassen. Doch: „Sollte der Bundestag freilich ein halbes Jahr nicht zusammentreten, würde dies schon staatsrechtliche Bauchschmerzen verursachen“, sagt Waldhoff.
Der gewöhnliche Gesetzgebungsprozess liegt auf Eis. Denn die Ausschüsse, die die legislative Hauptarbeit stemmen, sollen nach dem Willen der Union und SPD erst eingesetzt werden, sobald klar ist, wer welches Ministerium bekommt. Wann diese Frage eine Antwort findet, ist ungewiss. Bis dahin soll ein stark kritisierter „Hauptausschuss“ als Übergangslösung fungieren.
Das Grundgesetz drängt nicht
Warum Union und SPD eine Übergangslösung vor einer schnelleren Regierungsbildung favorisieren, hat etwas mit der deutschen Verfassung zu tun. Merkel, Gabriel und Seehofer haben es schlicht nicht eilig: Kein Artikel im Grundgesetz gibt vor, wann eine neue Regierung sich zu formieren hat. Zur Phase der Koalitionsverhandlungen, die sich theoretisch endlos ausdehnen kann, schweigt das Recht.
Dass es Deutschland wie Belgien ergehen könnte, wo 2011 die Regierungsbildung erst nach etwa anderthalb Jahren Erfolg hatte, hält Verfassungsrechtler Waldhoff für unwahrscheinlich. Er spricht sich auch dagegen aus, die Frist zur Regierungsbildung staatsrechtlich festzulegen. „Bestimmte Sachen sollte man nicht durchnormieren. In der bisherigen Staatspraxis hat die Regierungsbildung ja auch immer letztlich leidlich funktioniert.“
Bessere Gewaltenteilung ohne FDP?
Deutschland ist ohnehin nicht regierungslos. Die alte Regierung ist weiter geschäftsführend im Amt. Große Entscheidungen kann sie allerdings nicht fällen. „Eine geschäftsführende Bundesregierung kann unterhalb der Stufe des Gesetzes alles machen“, erklärt Waldhoff. Mehr sei nicht ohne Weiteres zu machen.
Die Kombination aus provisorischer Regierung von Schwarz-Gelb mit einem Bundestag ohne Freidemokraten ist indes verfassungs- und demokratietheoretisch interessant. Die fünf FDP-Minister und die Bildungsministerin Johanna Wanka sitzen nämlich nicht im Parlament. Legislative und Exekutive sind also weniger stark verschränkt und damit die Gewalten klarer getrennt als im gewöhnlichen Politikalltag in Deutschland.
Laut Waldhoff gibt es unter einigen wenigen deutschen Staatsrechtlern durchaus die Meinung, „dass es bereits unter dem geltenden Verfassungsrecht unzulässig ist, dass Regierungsmitglieder zugleich Parlamentsabgeordnete sind.“ Damit wäre allerdings die Staatspraxis im Wesentlichen seit 1949 verfassungswidrig gewesen, so Waldhoff.
Bis also eine neue Regierung steht, liegt das Schicksal der Parlamentarischen Arbeit in den Händen von Union und SPD. Ob das gut ist?
Das Grundgesetz gibt darauf keine Antwort.
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