- Edgar Reitz erforscht die deutsche Identität
Filmregisseur Edgar Reitz legt mit „Die andere Heimat“ das Schlussstück seiner Arbeit am deutschen Gedächtnis vor – eine Reise zu den Ursprüngen unserer Demokratie
Nach beinahe vier Stunden Kino, irgendwo gegen Ende seines neuen Filmes, sitzt Edgar Reitz plötzlich in den groben Klamotten eines Bauern am Rand eines Getreidefelds und dengelt die Sense. Auf der Leinwand sieht man außer ihm weiten Himmel, reifes Korn und die Dächer eines Dorfes im Hunsrück. Eine Kutsche schaukelt heran. Ihr entsteigt Alexander von Humboldt. Er will die Mitte des 19. Jahrhunderts noch unerforschte Landschaft vermessen. Als Humboldts Blick auf den Bauern fällt, fragt er ihn nach dem Namen des kleinen Dorfes in der Senke. „Dat lo“, antwortet Reitz in der Rolle des „alten Hunsrückers“, „dat is Schabbach.“ Weil Humboldt von Werner Herzog gespielt wird, erlebt der Zuschauer in diesem Moment die außergewöhnliche Begegnung zweier Meister der deutschen Filmgeschichte.
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„Diese Szene war ursprünglich länger“, sagt Reitz. Mit „Die andere Heimat“ ist ihm eines der größten Kinowunder der vergangenen Jahre gelungen, ein bewegendes Leinwandepos von internationalem Rang. Wenige Tage vor der Reise zu den Filmfestspielen von Venedig sitzt Reitz im Halbdunkel des Schneideraums der Münchner „Edgar Reitz Filmproduktion“.
Schabbach bleibt ein mythischer Ort
Im tieferen Dunkel hockt ein Mitarbeiter vor einem Monitor und restauriert ein Bild aus „Heimat“, dem 1984 fertiggestellten ersten Teil der 56-stündigen, aus insgesamt 30 Einzelfilmen bestehenden Trilogie, in der Reitz die Geschichte der im Hunsrück verwurzelten Familie Simon bis zur Wende des Jahres 2000 erzählt. „Die zweite Heimat“ und „Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende“ folgten. „Die andere Heimat“ handelt nun als „Chronik einer Sehnsucht“ nicht nur von den Hoffnungen der verarmten Landbevölkerung, die sich Glück und Reichtum in Brasilien erträumt. Der Film bezeugt auch Edgar Reitz’ Verlangen, ein vielleicht letztes Mal an den Sehnsuchtsort seiner eigenen Fantasie zurückzukehren. „In der ursprünglichen Szene verglich Humboldt die ermittelten Daten mit einer Landkarte und stellte fest, dass das Dorf, das wir da sehen, gar nicht existiert“, sagt Reitz. „Als der Bauer ihm den Namen des Ortes nennt, heißt das natürlich auch, dass das fiktive Schabbach realer ist als alle Dörfer, die auf Humboldts Karte verzeichnet sind.“
Schabbach ist auch in „Die andere Heimat“ ein mythischer Ort. Hier hat ein kollektives Gedächtnis seine Bleibe, das den Alltag der Dorfbevölkerung ebenso akribisch vor dem Vergessen bewahrt wie die Erinnerung an die historischen Ereignisse, die den Einzelnen mitreißen. In den bisherigen Filmen der Trilogie erzählte Reitz gegen die Abwertung der Welt an und ließ etwa den liebenswerten, von seinen persönlichen, gänzlich unideologischen Hoffnungen geleiteten Sohn des Dorfschmieds Simon zu einem Glücksritter des Dritten Reiches werden. Jetzt, in der „anderen Heimat“, verbindet er das Leben und Sterben im Schabbach des Jahres 1843 und die Freiheitsgedanken seines in einer romantischen Traumwelt beheimateten Protagonisten Jakob Simon mit dem revolutionären Aufbegehren des Vormärz. Es ist kein Zufall, dass „Die andere Heimat“ am 3. Oktober in die Kinos kommt. Am Nationalfeiertag blickt sie auf die Anfänge der deutschen Demokratie zurück.
„In der Zeit, in der ‚Die andere Heimat‘ spielt, hat sich das Schwarz-Rot-Gold der Flagge durchgesetzt, die heute bei Fußballspielen unser Nationalsymbol ist“, sagt Reitz. Seine Filmerzählung verwickelt den Zuschauer auf geradezu magische Weise ins Vergangene und erhellt mit dem Licht einer fremden Zeit schließlich auch die Gegenwart.
„Damals bedeutete Freiheit in erster Linie, die Herrschaft zu stürzen und sich von Armut und Unrecht zu befreien“, erläutert Reitz. „Unser heutiges Freiheitsverlangen geht natürlich weit darüber hinaus. Heute geht es nur noch darum, die Freiheit, die Menschen mit ihrem Leben bezahlt haben, zu genießen, und wir tun dies auf eine hemmungslose und gedankenlose Weise.“
Im Halbdunkel des Schneideraums wirkt Reitz wesentlich jünger als seine 80 Jahre. Er wurde im rheinland-pfälzischen Morbach als Sohn eines Uhrmachers geboren. Der nüchterne Ernst des Blickes weicht im Gespräch hin und wieder einem wohlwollenden Lächeln. „Aus der Armutsfiktion, die in meinem Film beschrieben wird, erscheint mir unsere heutige Welt wie ein apokalyptisches Delirium an Konsumwahn und Unnötigkeit des Lebensgenusses, das mir Angst macht. Von Schabbach aus gesehen, tut sich in unserer Gesellschaft ein Abgrund von Chaos auf“, sagt er und scheint von der gleichen Sorge erfüllt wie der „alte Hunsrücker“, der in „Die andere Heimat“ Humboldts Vermessung der Welt beargwöhnt.
„So seltsam es klingen mag: Die Menschen, die ich in meinem Film beschreibe, haben eine Zukunft, und wenn ich nach vier Stunden aus dem Kino auf die Straße trete, spüre ich plötzlich, unsere Welt hat keine.“ Eine Heimat wie Schabbach wird man in Deutschland kein zweites Mal finden.
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