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(picture alliance) Die duale Ausbildung – zweifellos ein wichtiger deutscher Wirtschaftsfaktor. Dieser steht mit einer EU-Regierung zur Disposition

Europa - Politische Union bedroht deutsche Wirtschaftsinteressen

Es darf nicht zu den Vereinigten Staaten von Europa kommen, warnt der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser. Eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzregierung würde nicht nur erprobte deutsche Modelle zerstören, sondern auch andere Mitgliedsstaaten unter Druck setzen

Von Anfang an war das Vertrauen auf die Zwangsläufigkeit wirtschaftlich-technokratischer Integrationsprozesse die politische Lebenslüge der Europäischen Gemeinschaft. Nachdem der supranationale Ansatz der Montanunion 1954 gescheitert war, entstand die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 als Vertragsgemeinschaft souveräner Staaten. Ausdrücklich wollten sie Herren der Verträge bleiben. Die Gemeinschaft war nicht darauf ausgelegt, dem Zeitalter der Nationalstaaten ein Ende zu machen. Ganz im Gegenteil, die Mitglieder bedienten sich des Mittels der wirtschaftlichen Integration, um selbst zu überleben.

Dies gilt auch für die Idee, die hinter der Europäischen Währungsunion stand. Das Streben nach wirtschaftlicher Modernisierung musste nach Überzeugung der „Euro-Eliten“ früher oder später auch zur politischen Einheit führen. Vor allem aber ist es der EU nicht gelungen, in Europa ausreichend Raum zur politischen Gestaltung der historisch gewachsenen Vielfalt wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Lebensverhältnisse zu schaffen. Dabei ist dieser Freiraum nicht nur von der Verfassung geboten, sondern auch wirtschaftlich erforderlich. Hier könnte die innere Dynamik einer scheiternden Währungsunion zum Handeln zwingen.

Zum Zeitpunkt ihrer Gründung verfügte die EWG über eine relativ einheitliche Wirtschaftskultur. Über Jahrhunderte ist sie von Skandinavien bis Norditalien und von der Seine bis an die Oder im engen Austausch der Märkte entstanden. Was eine Wirtschaftskultur ausmacht, sind dabei weniger wirtschaftliche Sekundär(un)tugenden (individuelle und kollektive Mentalitäten) als vielmehr wirtschaftliche Primär(un)tugenden, die als komparative institutionelle Vorteile (oder Nachteile) den Wettbewerb auf klar abgegrenzten Märkten regeln. Wirtschaftskulturen sind also Denk- und Handlungsweisen, Spielregeln und Organisationstypen, die das soziale System der Produktion ausmachen.

So unterscheiden sich die Aufgaben von Banken im Kern Europas signifikant von denen in England oder am Mittelmeer, die Arbeitsbeziehungen sind hier kooperativ, dort konfliktorientiert, das duale Ausbildungssystem gibt es nur in Deutschland und wenigen Nachbarstaaten – um nur einige Bereiche hervorzuheben. Unter den Wirtschaftskulturen herrscht keine hierarchische Ordnung. Entscheidend sind allein ihre Eignung im Wettbewerb auf bestimmten Märkten und ihre Funktionsfähigkeit. Individuelle und kollektive Mentalitäten sind dagegen in Europa relativ gleich verteilt, entfalten ihre Wirksamkeit jedoch immer im Rahmen der jeweils herrschenden Wirtschaftskultur.

Was vor diesem Hintergrund mehr Europa bedeuten könnte, verdient eine nähere Betrachtung. Ideal für eine führende Welthandelsnation wie Deutschland ist nach wie vor ein Integrationsziel unterhalb der Supranationalität, das gleichwohl einheitliche Verhältnisse auf dem europäischen Binnenmarkt garantiert und damit eine sichere wirtschaftliche Basis. Dies würde die Aufgabe stellen, den status quo von Lissabon und Nizza abzusichern und komfortabel auszustatten. Dagegen birgt jedes Überschreiten der Grenzlinie zur Supranationalität auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik die Gefahr schwerer Verletzungen deutscher Interessen. Eine einheitliche Wirtschafts- und Finanzregierung könnte zu leicht geneigt sein, Besonderheiten der deutschen Wirtschaftskultur abzuschleifen. Zudem würde sie nur schwer in den standardkapitalistischen Rahmen passen – und noch dazu andere europäische Wirtschaftskulturen unter Erfolgsdruck setzen.

Seite 2: Wie Brüssel die Landesbanken ins Verderben stürzte

Dazu zählt etwa das deutsche Bankensystem mit seinem mehrheitlichen Anteil öffentlich-rechtlicher Institute. Dieses entspricht zwar den Bedürfnissen der wichtigen mittelständischen Wirtschaft, was  in der Fläche einigermaßen für Stabilität sorgt. Dafür wurden die Sparkassen und Genossenschaftsbanken einst gegründet  – weshalb sie noch immer ein Erfolgsmodell sind. Ein genossenschaftlich oder öffentlich-rechtlich organisiertes Bankensystem entspricht aber nicht dem Muster eines nach reinen Wettbewerbsgesichtspunkten organisierten Kapitalmarktes.

Seit den 1990er Jahren übt die EU deshalb Druck auf die Sparkassen aus, sich dem europäischen Standard anzupassen. Sie konnte dabei einen Teilerfolg erringen und zum Beispiel die Gewährsträgerhaftung der Gebietskörperschaften als unvereinbar mit den Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes ächten. Das Ergebnis war für die Landesbanken verheerend. Auf der Suche nach einem neuem Geschäft gerieten sie 2008 in den Strudel der Bankenkrise.

Immerhin konnten sich die deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken im Kern dem europäischen Zugriff entziehen und ihren solidarischen Zuschnitt erhalten. In der schwelenden  Bankenkrise erweist sich dies als Segen. Die spanischen Sparkassen dagegen, die – ähnlich wie die deutschen – öffentlich-rechtlich und regional organisiert waren, gaben dem Druck nach, fusionierten zur Megabank, gingen an die Börse und stürzten sich ins Hypothekengeschäft. Das Ergebnis ist bekannt. Der Bankia-Konzern musste im Mai 2012 verstaatlicht werden und hängt nun am europäischen Tropf. Warum sollten sich deutsche Sparkassen aber eine aufwändige solidarische Haftung leisten, wenn es in der geplanten europäischen Bankenunion auch ohne geht?

Ähnliches gilt für das duale System der Berufsbildung, das von außen gesehen den Nachteil niedrigerer Studierendenquoten zu haben scheint. Dabei ist es leichter, eine „Elite“ von Universitätsabsolventen auszuwerfen, als im dualen Rahmen Facharbeiter, Ingenieure und Techniker aufwändig auszubilden, wie sie die deutsche Wirtschaft für ihre nachindustrielle Maßschneiderei und Qualitätsproduktion braucht. Da für eine Übertragung des dualen Systems innerhalb Europas viele historisch gewachsene Voraussetzungen fehlen, könnte Deutschland kaum Verständnis für diese wirtschaftskulturelle Besonderheit erwarten. Die Mitbestimmung und der Sozialstaat wären weitere Felder, auf denen komparative institutionelle Wettbewerbsvorteile auf dem Spiel stünden. Die Gefahr ist umso größer, als auch viele Akteure deren Wert selbst nach der jüngsten Krisenerfahrung noch immer nicht verstanden haben. So hatten deutsche Mittelständler zuletzt immer weniger Facharbeiter ausgebildet, ehe ihnen schmerzhaft bewusst wurde, dass Facharbeiter nicht einfach auf dem Markt zu „kaufen“ sind.

In einem Europa der wirtschaftskulturellen Vielfalt steht und fällt die Wettbewerbsfähigkeit aller Beteiligten mit der Durchschlagskraft ihrer jeweiligen komparativen Wettbewerbsvorteile auf den Märkten. Es wäre daher die Herkulesaufgabe einer europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik, diese sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Spielregeln zu identifizieren, um sie durch produktive Ordnungspolitik zu gestalten und zu fördern – und nicht, sie innerhalb eines europäischen Superstaates zu „harmonisieren“. Insoweit öffnet die Flucht nach vorne – in die Vereinigten Staaten von Europa – keine Problemlösungsperspektive, sondern ist Teil des Problems selbst.

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