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(picture alliance) „Diese Krise ist einzigartig, weil es noch nie eine so ambitionierte Währungsunion wie den Euro gab“

„Economist“-Ex-Chef zur Eurokrise - „Es ist wie nach Versailles“

Vor zehn Jahren sagte Bill Emmott voraus, dass schon im ersten Euro-Jahrzehnt einige Länder wieder austreten müssten. Im Interview spricht der ehemalige Chefredakteur des Economist über die Überlebenschancen des Euro, Merkels falsche Wirtschaftspolitik und sein prophetisches Talent

Herr Emmott, vor zehn Jahren haben Sie in Ihrem Buch „Vision 20|21“ geschrieben, der Euro berge politisch „enorme Sprengkraft“, und einige Länder könnten sich „schon im ersten Jahrzehnt des Experiments“ wieder aus der Gemeinschaftswährung verabschieden. Empfinden Sie Genugtuung, dass sich Ihre Prognose zu bewahrheiten scheint?
Nein, mir wäre es lieber gewesen, wenn man dem Euro von Anfang an ein Regelwerk verpasst hätte, mit dem er die erste Krise überstehen kann. Aber die Mischung aus europäischer Solidarität und dem Beharren auf nationaler Souveränität und Verantwortung musste schiefgehen. Zumal die Regeln schon gebrochen wurden, bevor der Euro als Zahlungsmittel eingeführt wurde. Insofern war die Prognose einfach. Ich habe in demselben Buch aber auch geschrieben, die EU habe das Zeug zur Supermacht.

Sind Sie als Engländer froh, dass Großbritannien nie dem Euro beigetreten ist?
Das ist wahrscheinlich das Beste, was wir jemals für die Europäische Union getan haben. Die Europaskepsis der Briten hätte die Krise noch mal erheblich verschärft. Wir wären ein sehr instabiles Euromitglied gewesen.

Sie zitieren in Ihrem Buch Winston Churchill mit dem Satz: „Um Aussagen über die Zukunft machen zu können, muss man die Vergangenheit kennen.“ Gibt es Krisen, aus denen wir in unserer jetzigen Situation Lehren ziehen können?
Ich fürchte, diese Krise ist einzigartig, weil es noch nie eine so ambitionierte Währungsunion wie den Euro gab. Eine Gemeinschaftswährung dieser Größe mit so vielen Mitgliedern, die zudem auch noch politisch und ökonomisch in etwa gleich stark sein sollten, ist schwer mit anderen vergleichbar. Es gibt aber eine gewisse Parallele zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg. Damals war die vorherrschende Ideologie, dass Deutschland den anderen Ländern die Kriegsschäden ersetzen muss, koste es, was es wolle. Der Ökonom John Maynard Keynes schrieb damals in seinem Buch „Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles“, dass eine solche Politik theoretisch richtig sein kann, in der Praxis aber unweigerlich katastrophale Folgen hat.

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Und jetzt führt Angela Merkel mit ihrer Sparpolitik Europa an den Abgrund?
Wer Staatsschulden einzig als Sünden der Vergangenheit brandmarkt und dem ganzen Kontinent ein Spardiktat verordnet, der erreicht am Ende das Gegenteil von dem, was er eigentlich wollte. Wir sehen es in Griechenland, Portugal, Irland, Spanien und bald auch in Italien – diese Länder haben keine Chance, durch Sparen aus der Rezession herauszukommen, sondern werden auf einer Abwärtsspirale weiter nach unten gezogen. Dass dies nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische und gesellschaftliche Konsequenzen haben kann, haben wir schon bei den Ausschreitungen in Griechenland gesehen.

Aus den Wahlen in Griechenland sind jetzt doch wieder die Konservativen als Sieger hervorgegangen. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es den Griechen gelingt, Mitglied der Eurozone zu bleiben?
Unabhängig von der genauen Zusammensetzung der griechischen Regierung gehe ich davon aus, dass die Griechen versuchen werden, die Konditionen der Rettungspakete nachzuverhandeln. Die EU kann an einigen Stellen vielleicht nachgeben, aber wenn Griechenland auch in Zukunft nicht in der Lage sein wird, die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts einzuhalten, müssen sie die Währungsunion verlassen.

Für den Fall sagen viele Ökonomen ein wirtschaftliches Armageddon voraus.
Niemand weiß genau, was dann passiert. Die viel größere Katastrophe wäre ein Auseinanderbrechen der gesamten Eurozone. Wenn Griechenland sich aber alleine verabschiedet, wird es für die anderen mittelfristig einfacher, das Konstrukt Euro zu managen, weil der Austritt eine disziplinierende Wirkung auf die anderen Krisenländer hätte. Im Gegenzug wären Gläubigerländer wie Deutschland dann eher bereit, über eine zeitlich und in der Höhe begrenzte Form von gemeinsamen Eurobonds nachzudenken und ihre strikte Sparpolitik zu überdenken.

Der Economist, bei dem Sie 13 Jahre Chefredakteur waren, hat kürzlich auf dem Titel die Weltwirtschaft als sinkenden Tanker dargestellt, aus dem Schiffsinnern kommt eine Sprechblase mit der Frage: „Frau Merkel, können wir die Motoren jetzt mal bitte starten?“ Hängt die Weltkonjunktur wirklich von den Entscheidungen der Bundeskanzlerin ab?
Der Titel trifft es recht gut. Die ganze Welt blickt im Moment auf Europa, und Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in der EU. Europa droht in eine Depression abzurutschen. Wenn ich Merkels wirtschaftspolitischer Berater wäre, würde ich ihr raten, in Deutschland ein Konjunkturpaket aufzulegen, das Konsum und Investitionen fördert. Also Steuern senken, Ausgaben erhöhen. Deutschland kann sich das leisten, weil die Zinsen, die es an den Märkten zahlen muss, sich auf einem Rekordtief befinden. In der jetzigen Situation ist eher schädlich, dass Deutschlands Neuverschuldung nur bei 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. Das Motorenanwerfen beginnt zu Hause, und wenn sich alle Gläubigerländer anschließen, wird es seine Wirkung nicht verfehlen.

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Aber holt man sich mit höheren Ausgaben das Vertrauen der Märkte zurück?
Die Investoren kalkulieren nur, ob diese reichen Länder ihr Geld eher zurückzahlen können, wenn Europas Konjunktur wieder anspringt oder wenn der Kontinent ähnlich wie Japan Ende der neunziger Jahre in einer langen Rezession stecken bleibt. Die Antwort diesbezüglich dürfte klar sein.

Welche Rolle muss die Europäische Zentralbank bei der weiteren Krisenbekämpfung spielen?
Sie muss bereit sein, auch weiterhin den Banken im Notfall große Summen an Geld zur Verfügung zu stellen und an den Staatsanleihemärkten einzugreifen. Auch wenn die Bilanzsumme der EZB inzwischen auf über drei Billionen Euro angestiegen ist, müssen wir uns über Inflationsgefahren derzeit keine Sorgen machen.

Die EU-Kommission schlägt zur Stabilisierung des Finanzsektors eine Bankenunion vor, eine gemeinsame europäische Bankenaufsicht, einen europaweiten Einlagensicherungsfonds sowie die Einrichtung eines Geldtopfs für die Rekapitalisierung notleidender Banken.
Wenn ich weiter Merkel beraten soll: Eine gemeinsame Bankenaufsicht ist sinnvoll, damit hätten sich Immobilienkrisen wie in Irland und Spanien wahrscheinlich verhindern lassen. Von einem gemeinsamen Einlagensicherungsfonds würde ich erst mal abraten, weil die deutschen Sparer oder die Bundesregierung damit Haftungsrisiken übernehmen, die sie nicht kontrollieren können. Sie müssten sich dabei auf die neue europäische Bankenaufsicht verlassen, von der sie noch gar nicht wissen, ob sie effektiv arbeiten wird.

Aber reichen diese Maßnahmen, um die Ansteckungsgefahr für Länder wie Spanien oder Italien zu bekämpfen?
Wir sprechen hier von Notfallmaßnahmen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Euro überlebt. Mittelfristig müssen die betroffenen Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Das geht nur über eine Liberalisierung der Märkte und die Förderung des Unternehmertums. Nehmen wir Italien: Dort werden Unternehmensgründer seit den siebziger Jahren massiv behindert. Das Land hat seine unternehmerische Dynamik verloren, weil die Gründung einer Firma, ihr Markteintritt, das Einstellen von Mitarbeitern unglaublich kompliziert sind. Hinzu kommt, dass das Rechtssystem immer schlechter funktioniert und das organisierte Verbrechen überall die Hand aufhält. Wenn Fiat in seinem Heimatland nicht in der Lage ist, wettbewerbsfähige Autos zu produzieren, gleicht das einer Anklage gegen die italienischen Gewerkschaften, das Arbeitsrecht und die gesamte wirtschaftliche Infrastruktur des Landes.

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Würden Subventionen in Bereichen wie erneuerbarer Energie helfen, um die Wirtschaft in den Krisenländern am Mittelmeer anzukurbeln?
Abgesehen davon, dass die EU-Gesetze so etwas verbieten, bin ich ohnehin kein Fan von Subventionen. Wer seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern will, sollte nicht auf die Förderung grüner Energie setzen, weil dadurch zunächst einmal die Energiekosten steigen. Das sollen mal lieber die Deutschen zur Wettbewerbsreife bringen, und die anderen können es dann später billiger einkaufen: Das ist die Art Transferunion, mit der beide Seiten gut leben können.

Vor zehn Jahren haben Sie die Zukunft des Euros richtig prognostiziert. Wagen Sie einen erneuten Ausblick?
Ich bin zu 80 Prozent sicher, dass es den Euro in zehn Jahren noch geben wird. Die Währungsunion wird dann 20 Mitglieder haben, wobei einige aktuelle Mitglieder nicht mehr dabei sein werden. 

Das Gespräch führte Til Knipper.

Foto: Andrea Artz

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