- Berlin ist nicht Weimar
Die Sperrklausel von fünf Prozent ist ein Reißwolf, der zu viele Wählerstimmen frisst. Die machtpolitisch kalkuliert verbreitete Angst vor Weimarer Verhältnissen kann sich unsere Demokratie nicht weiter leisten. Eine Abschaffung der Hürde würde dem Bundestag guttun und könnte den deutschen Liberalismus stärken
Man stelle sich einen riesigen Altpapier-Container vor. Darauf steht: Sonstige. Drinnen türmt sich ein Berg aus 2.606.902 gültigen Stimmzetteln auf. Genau so viele Zweitstimmen bekamen bei der vergangenen Bundestagswahl jene Parteien, die es nicht über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft haben. Würde das Bundesland Brandenburg sich dazu entschließen, kollektiv nicht zur Wahl zu gehen, wäre der Berg im Container kleiner.
Die Wahlen sind das Herzstück der repräsentativen Demokratie. Die Mehrzahl der Deutschen ist hungrig darauf mitzubestimmen, mitzuentscheiden. Doch wenn sie nicht satt werden, wenn ihre Interessen von den etablierten Bundestagsparteien nicht abgedeckt werden, wenn sie Nischenparteien in der Wahlkabine ihre Stimme geben, dann wird ihr Wahlzettel zu wertlosem Papier. Wer nicht die etablierten Parteien wählt, wird durch das Wahlrecht abgestraft. Doch das können wir uns nicht länger leisten.
Die Sperrklausel befeuert die Politikverdrossenheit, immer mehr Menschen zweifeln an dem System. So gefährdet die Fünf-Prozent-Hürde unsere Demokratie.
Die Fünf-Prozent-Hürde höhlt den Gleichheitsgrundsatz aus
Einmal hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2011 die Fünf-Prozent-Hürde bereits für verfassungswidrig erklärt. Allerdings nur für die Europawahl. Die Sperrklausel bewirke „eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts“, urteilten die Richter. Der „Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit“ werde so beeinträchtigt. Eine solche Aushöhlung des Gleichheitsgrundsatzes unseres Wahlsystems ist nicht hinzunehmen – und dies nicht nur bei Europawahlen, sondern auch bei Bundestagswahlen. Seit 2002 steigt die Zahl gültiger Stimmen, die bei der Verteilung der Mandate nicht berücksichtigt werden. 2009 holte die „Sonstige Partei“ 6 Prozent. An diesem Sonntag könnten es noch mehr werden.
Die Sperrklausel stellt den Bürger vor eine doppelte Wahl: Er entscheidet sich nicht nur für eine Partei, sondern auch darüber, ob seine Stimme damit direkt ins Altpapier wandert.
Bei der Bundestagswahl 2009 musste eine Partei mindestens 2.168.560 Stimmen zusammenbekommen, um nicht an der Hürde zu straucheln und zu den „Großen“ im Parlament gehören zu können. Wären dagegen alle Stimmen barrierefrei auf die 598 Abgeordneten im Bundestag verteilt worden, hätten für ein Mandat 72.573 ausgereicht. Dann säßen jetzt 13 Parteien im Bundestag. Darunter die ökologisch-demokratische Partei (ödp), die NPD und sogar ein Parlamentarier für Bündnis 21/RRP, das 2009 noch „Rentnerinnen und Rentner Partei“ hieß.
Der Bundestag funktioniert auch mit Abgeordenten von „Splitterparteien“
Da drohen „Weimarer Verhältnisse“ – so haben es mindestens drei Generationen Geschichte- und Sozialkundelehrer gelehrt. Das Bundesverfassungsgericht prägte dafür im Jahr 1990 den Ausdruck „staatspolitische Gefahren für die Demokratie“. Das Jahr dieser Entscheidung des Gerichts zeigt indes, was die Argumente vor allem eines sind: So Nineties!
Good morning Germany! Wir schreiben das Jahr 2013! Unser Grundgesetz hat 64 Jahre auf dem Buckel. Die Demokratisierungsprogramme der Amerikaner haben gewirkt. Die Deutschen haben die Demokratie ausgebaut, helfen nun selbst anderen Staaten. Das parlamentarische System ist entscheidungsfähig und bleibt es auch dann, wenn als „Splitterparteien“ verunglimpfte Kleinparteien ins Parlament einziehen.
Die PDS hat das bewiesen, als sie – dank der Grundmandatsklausel – von 2002 bis 2005 mit nur zwei Abgeordneten im Bundestag saß.
Dass ein Parlament ohne Hürde unser politisches System destabilisieren würde, ist eine Mär der sogenannten Volksparteien. Finnland, Portugal und Südafrika entlarven dies als das, was es ist: ein Narrativ zum Machterhalt. Denn alle diese Länder sind bis heute nicht untergegangen, obwohl ihre nationalen Parlamente barrierefrei gewählt werden. Mehr kleinere Gruppen und Fraktionen würden dem Bundestag nicht schaden!
Ohne Prozent-Hürde könnte ein liberales Gegengewicht im Bundestag entstehen
Sie würden ihm vielmehr wohlbekommen. Allianzen könnten schneller wechseln – je nach Sachfrage. Die großen Oppositionsfraktionen und Abgeordnete der Regierungskoalition wären somit gezwungen, weniger verbissen-ideologisch abzustimmen, sondern mit mehr Kompromissbereitschaft um Mehrheiten zu werben.
Der Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde hätte auch positive Auswirkungen auf den kränkelnden Liberalismus in Deutschland. Die FDP müsste aus Sorge um den Wiedereinzug in den Bundestag nicht mehr bei Unionswählern untertänigst um Zweitstimmen betteln gehen. Die Liberalen könnten sich endlich wieder ihres Kernes besinnen und sich aus der konservativen Todesumarmung befreien.
Gemeinsam mit den in Ansätzen linksliberalen Piraten und der einen oder anderen Kleinpartei entstünde so ein freiheitliches Gegengewicht zum schwarz-rot-rot-grünen Etatismus und zur Bevormundung durch die großen und etablierten Parteien.
Das Verfassungsgericht könnte den Spuk des Weimarer Gespenstes beenden
Wie in Europa sollte das Bundesverfassungsgericht auch im Bund dem Spuk des Weimarer Gespenstes, dem machtpolitisch kalkulierten Diskurs der großen Parteien, ein Ende bereiten. Es besteht kein Grund, eine Sperrklausel bei den Wahlen zum Europaparlament für verfassungswidrig zu erklären und gleichzeitig dieselbe Hürde auf Bundesebene zuzulassen.
Bereits 1990 sagten die Karlsruher Richter, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl „nicht ein für alle Mal abstrakt beurteilt werden“ könne. Von den Bundestagsparteien, die ihre Privilegien verteidigen, ist eine Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde nicht zu erwarten. Aber das Bundesverfassungsgericht sollte noch einmal in sich gehen.
Selbst ein paar NPD-Abgeordneten würden nichts daran ändern: Berlin ist schon lange nicht mehr Weimar!
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