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Die Deutschen und Syrien - Ahndet die Giftgasmorde!

Der Einsatz von Giftgas in Syrien ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Was bedeutet das für die Deutschen? Sie haben aus der Vergangenheit die Lehre gezogen, dass Krieg keine Probleme löst. Eine Lehre aus dieser Vergangenheit müsste aber auch sein, dass Giftgasmorde geahndet werden

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Malte Lehming ist Autor und Leitender Redakteur des Berliner "Tagesspiegels".

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Empörung ist kein Kennzeichen von Moral, Gefühlskälte keine Bedingung für Vernunft. Nicht jedes Unrecht kann geahndet, nicht jedes darf ungesühnt bleiben. Denn es gibt Momente, in denen sich nicht allein der Gefühlige ob seines Tatendrangs erklären muss, sondern vor allem der Unrührbare ob seiner Apathie. In Syrien ist ein solcher Moment gekommen. Der Einsatz von Giftgas ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Er bedroht das Fundament, auf dem die internationale Ordnung beruht. Einen Übergang zur Tagesordnung kann es nicht geben.

Deutschland hat aus seiner Vergangenheit gelernt, zum Teil jedenfalls. Nie wieder Krieg führen, nie wieder Massaker verüben: Diese Lektion hat sich tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben.

Hannah Arendt, als sie 1950 Deutschland bereiste, notierte damals bereits: „Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten.“ Symptome dafür fand sie zuhauf: Flucht vor der Verantwortung, Flucht in die Neutralität.

Arendt war verwundert: „Furcht vor einer russischen Aggression führt nicht notwendigerweise zu einer unzweideutigen proamerikanischen Haltung, sondern oftmals zu einer entschiedenen Neutralität, als ob eine Parteinahme in dem Konflikt ebenso absurd wäre wie bei einem Erdbeben.“ Es war Joschka Fischer, der im Vorfeld des Kosovokrieges den anderen Teil der Lehre aus Auschwitz anmahnte: Nie wieder Verbrechen dulden, Massaker hinnehmen, Völkermord geschehen lassen.

Ob man es humanitäre Intervention nennt oder Schutzverantwortung, das Völkerrecht öffnet sich einer Aufweichung des nationalstaatlichen Souveränitätsprinzips. So wie ein Familienvater nicht durch das Haus geschützt wird, in dem er Schutzbefohlene missbraucht, so wenig darf ein Tyrann darauf vertrauen, ungestört innerhalb der Grenzen seines Landes nach Belieben zu wüten. Wenn aber eingegriffen werden kann, ist jenen, die sich reflexiv heraushalten wollen, die Pose des bloßen Achselzuckens verwehrt.

Verbrechen sind kein Naturereignis, sie werden von Menschen begangen. „Die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperateste Erbitterung“, schreibt Friedrich Nietzsche. Keiner empört sich über ein Erdbeben oder eine Seuche. Es sind Taten und Untaten, die erzürnen und zum Handeln zwingen. Wer Massenvernichtungswaffen einsetzt, der ermordet nicht nur Unschuldige, sondern verletzt den Gerechtigkeitssinn der gesamten Menschheit. Jedenfalls sollte es so sein.

Doch im Lot ist die doppelte Lehre aus der Vergangenheit – Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Krieg! – in Deutschland nicht. Eine Mehrheit sprach sich bei einer ARD-Umfrage unlängst für einen Militärschlag mit UN-Mandat gegen die syrische Regierung aus. Eine noch größere Mehrheit ist der Meinung, Deutschland sollte sich auf keinen Fall an einem solchen Militärschlag beteiligen.

Bundespräsident Joachim Gauck verkörpert diesen Zwiespalt. Bei seinem Staatsbesuch in Frankreich sagte er, dass „Rechtsbrüche wie ein Giftgasangriff unerträglich sind und eine angemessene Reaktion erfordern“. Gleichzeitig bat er um Verständnis dafür, „dass Deutschland bei internationalen Einsätzen anders vorgeht als Frankreich“. Frei und salopp übersetzt heißt das: Schickt Raketen, aber lasst uns aus dem Spiel!

Höhepunkt von Gaucks Frankreichreise war sein Besuch des Dorfes Oradour sur Glane. SS-Soldaten hatten dessen Bewohner am 10. Juni 1944 zusammengetrieben und erschossen. 642 Menschen starben, nur sechs überlebten. Gauck gedachte der Opfer. Doch dieses Gedenken vollzog sich seltsam losgelöst von den Ereignissen in Syrien. Dabei steht nicht nur in Frankreich längst die Frage im Raum: Erinnern sich die Deutschen auch deshalb so leidenschaftlich an ihre Vergangenheit, um eine Entschuldigung dafür zu haben, den gegenwärtig Bedrängten nicht aktiv beistehen zu müssen?

Auf der Internetseite der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“, die die Zahl der Toten in dem Bürgerkrieg dokumentiert, schreibt der Oppositionelle George Sabra, die Anti-Kriegs-Bewegung in Europa und den USA sei faktisch eine Pro-Kriegs-Bewegung – für den Krieg von Baschar al Assad, der jeden Monat 5000 Menschenleben fordert. Wer mit Assad-Anhängern gegen eine Militärintervention protestiere, könne sich genauso gut mit Neonazis gegen Israel verbünden oder mit Mitgliedern des Ku-Klux-Klans gegen Barack Obama.

Sich heraushalten: Das garantiert keine saubere Weste mehr. Die Bundeswehr ist heute im Kosovo und in Afghanistan stationiert. Und immer noch quält es die Deutschen mehr, Unrecht zu tun als Unrecht zu dulden. Während Gauck an die Toten von Oradour erinnert und Obama Verbündete sucht für eine Intervention, strahlt die ARD das Doku-Drama „Eine mörderische Entscheidung“ über das Bombardement von Kundus aus. Im Anschluss diskutiert darüber Anne Will mit Gästen. Wenn schon Krieg, dann möglichst anständig. Hauptsache, wir Deutsche machen nichts falsch. Und wenn wir es doch einmal aus Versehen getan haben, arbeiten wir es ordentlich auf. Das Gedenken ist ein Meister aus Deutschland. Gab es schon eine Talkshow über die deutsche Syrienpolitik unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Vergangenheit?

„Wo der begründete Verdacht besteht, dass Bedingungen geändert werden könnten und dennoch nichts geschieht, stellt Wut sich ein“, schreibt Hannah Arendt. Eine Intervention in Syrien birgt Risiken. Wie reagiert Assad? Was tut die Hisbollah? Werden Russland und der Iran gegenhalten? Doch die Risiken des Nichtstuns sind keineswegs kleiner. 60 000 Tote im Jahr, Millionen Flüchtlinge, Al Qaida auf dem Vormarsch, erneute Einsätze von Massenvernichtungswaffen. Vietnam, Afghanistan und Irak sind abschreckende Beispiele – Bosnien, Kosovo, Mali und Sierra Leone zeigen, dass es anders geht.

Empörung ist kein Kennzeichen von Moral, Gefühlskälte keine Bedingung für Vernunft. Irgendwo zwischen diesen Polen muss Politik sich verorten, die Folgen bedenkt – und einem ethischen Kompass folgt. Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz: Wer nur eine der beiden Lektionen beherzigt, hat weder Herz noch Verstand.

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