- Eine Lust zu lesen
Die Neuübersetzung von «Tausendundeine Nacht» holt den klassischen Mythos vom Morgenland in die Gegenwart: erotisch, gewalttätig, direkt
Da erreichte das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen. ‹Ach, Schwester›, sagte Dinarasad zu ihrer Schwester Schahrasad, ‹wie köstlich und wie schön ist deine Geschichte!› – ‹Was ist das schon›, erwiderte sie, ‹gegen das, was ich euch morgen nacht erzählen werde, wenn ich dann noch lebe und mich der König verschont.› Und der König sprach zu sich selbst: ‹Bei Gott, ich töte sie nicht eher, als bis ich das Ende ihrer Geschichte gehört habe. Dann aber werde ich sie genauso behandeln wie alle anderen Frauen!›»
Diese rituelle Formel lesen wir, mit geringen Variationen, in der neuen, von Claudia Ott fulminant übersetzten Ausgabe von «Tausendundeine Nacht» zweihundertzweiundachtzig Mal: Ein Fortsetzungsroman, dessen kunstvoll ineinander verschachtelte Erzählungen stets im spannendsten Moment abbrechen. Die plötzlich im Schwebezustand gehaltene Geschichte, die Verzögerung der Tötung Schahrasads und die brennende Neugierde des Königs, die eins wird mit der Neugierde des Lesers, wie es nun weitergeht, fallen zusammen und treiben das Buch in all seinen wundersamen Verästelungen immer wieder voran. Wie es zur bizarren Ausgangssituation eines Herrschers gekommen ist, der seine Frauen gewohnheitsmäßig am Morgen nach der Liebesnacht töten lässt, sagt uns die einleitende Erzählung, eine der schönsten unter den vielen schönen und beunruhigenden Geschichten des Buches.
«Die Tücke der Weiber ist ungeheuerlich»
Zwei Brüder, König Schahriyar und König Schahsaman, werden von ihren Frauen betrogen. Enttäuscht entsagen sie dem Thron und begeben sich auf Wanderschaft. Von einem Baum aus beobachten sie, wie ein Ifrit, ein böser Geist, eine junge schöne Frau aus einer gläsernen Truhe holt, seinen Kopf auf ihren Schoß bettet und einschläft. Die junge Frau entdeckt die beiden in ihrem Versteck und bedeutet ihnen, mit ihr zu schlafen. «Wenn ihr nicht zu mir heruntersteigt, wecke ich den Ifrit, damit er euch tötet.» Verängstigt schlafen die Brüder mit ihr. Nach der Liebe verlangt das Mädchen ihre Ringe. Sie schüttet den Inhalt eines Säckchens aus; 98 Ringe fallen auf den Boden. «Alle Besitzer dieser Ringe», erklärt sie, «haben mit mir geschlafen, und von jedem, der mir zu Willen war, habe ich mir einen Ring genommen.» Nun sei das Hundert voll. Sie macht sich über den dummen Ifrit lustig, der sie immer noch für eine Jungfrau hält, während Schahriyar und Schahsaman beim Koran Zuflucht nehmen: «Wahrhaftig, der Koran hat Recht: Die Tücke von euch Weibern ist ungeheuerlich.»
Schahriyar beschließt, zurückzukehren und wieder auf seinen Thron zu steigen. Er lässt seine Frau hinrichten, auch alle Sklavinnen und Dienerinnen, und verkündet, in Zukunft nur noch für eine einzige Nacht zu heiraten und seine Ehefrau am nächsten Morgen töten zu lassen, um nie wieder betrogen zu werden. Viele Frauen der Stadt lassen so ihr Leben. Schahrasad, die kluge und viel belesene Tochter des Großwesirs, bittet ihren Vater, sie mit dem König zu verheiraten. Sie hofft, durch ihre Erzählkünste sich und «alle Welt vor ihm zu retten». Und es gelingt ihr. Sie erzählt um ihr Leben – und um das Leben der anderen Frauen.
Dieses Buch ist also, neben vielem anderen, auch eine Hymne an die Macht des Erzählens, an die Macht der Literatur. Diese Macht durchtränkt das ganze Buch, das von Menschen wimmelt, die lüstern sind, Geschichten zuzuhören – und deswegen alle finsteren Vorsätze zunächst einmal aufschieben –, oder auch von solchen, die leidenschaftlich erzählen, um sich und andere in Sicherheit zu bringen.
Sindbad, Ali Baba und Aladin spielen nicht mit
So ist auch «Tausendundeine Nacht» nichts anderes als ein Kompendium vieler anonymer Erzähler, die schriftliche Fixierung einer jahrhundertealten, ziemlich gleich bleibenden mündlichen Praxis. Sie ist ein Stück Volksliteratur, gehörte nie zum Kanon der klassischen arabischen Bildung. Das älteste bekannte Manuskript datiert aus dem 15. Jahrhundert. Es wurde erst 1984 von Muhsin Mahdi wissenschaftlich akribisch ediert. Es ist diese arabische Handschrift, die uns nun – quasi im Urzustand – von der Übersetzerin Claudia Ott präsentiert wird.
Paradoxerweise war es die selbe Handschrift, auf deren Grundlage der französische Orientalist Antoine Galland vor exakt 300 Jahren den ersten Band seiner französischen Übersetzung von «Tausendundeine Nacht» herausbrachte und damit das in Indien entstandene und vor mehr als tausend Jahren über Persien in den arabischen Raum überlieferte Werk erstmals in Europa bekannt machte. Mit überwältigendem Erfolg. Bald gab es eine populäre englische Ausgabe, dann auch eine deutsche, italienische, spanische. Doch war Galland ein nicht gerade treuer Übersetzer. Er glättete erotische und gewalttätige Passagen, passte viele Episoden dem damaligen Geschmack der französischen Salons an und setzte die rund 250 Gedichte, die das Erzählcorpus trüffeln, in Prosa.
Vor allem aber bricht die Handschrift in der 282. Nacht ab. Galland, von der immensen Nachfrage animiert, behalf sich, indem er immer neue arabische Erzählungen, darunter auch Klassiker wie «Sindbad der Seefahrer», «Ali Baba und die vierzig Räuber» und «Aladin und die Wunderlampe» in die Sammlung schmuggelte und es so schließlich auf 1001 Nächte brachte. Seine Fassung spiegelte nun aber mehr das romantisch-exotische Orientbild des Europäers vom Anfang des 18. Jahrhunderts wider als den Orient selbst.
Auch die bisherigen deutschen Übersetzungen fußten ganz überwiegend auf der Gallandschen Version. Im Vergleich dazu hat die Neuausgabe des Beck-Verlages zwei gewaltige Vorzüge. Zum einen ist sie von allen Schichten befreit, die in den letzten dreihundert Jahren darüber gemalt wurden, und zum andern zeichnet sich die Übersetzung von Claudia Ott durch eine Frische und Lebensnähe aus, die den ermüdeten, von Manierismen fast schon erdrückten Text für uns wieder ganz neu macht.
Zwar ist der Vergleich ihrer Übersetzung mit der von Enno Littmann, dem bislang unangefochtenen Champion im Chor der zahllosen «Tausendundeine Nacht»-Übersetzer, kompliziert, weil Littmann eben von Galland ausging und die wissenschaftliche Edition der Handschrift noch gar nicht kennen konnte. Man kann aber, jenseits dieser Ausschmückungen und späteren Ergänzungen, sagen, dass Littmanns Übertragung klassischer, statuarischer ist, auch knapper – und viel prüder, wenn es zu den Liebesabenteuern kommt. Claudia Ott dagegen gelingt es immer wieder, die sehr direkte Erzählkunst der Araber auch im Deutschen unmittelbar zur Anschauung zu bringen, also mit genau der Unbefangenheit und stilistischen Klarheit, die das Original auszeichnen. Hugo von Hofmannsthals Diktum – «Es ist kein Sinn in uns, der sich nicht regen müsste, vom obersten bis zum tiefsten; alles, was in uns ist, wird hier belebt und zum Genießen aufgerufen» – gilt daher ganz besonders für diese Neuübersetzung. Übrigens hat uns schon Raoul Schrott bei der Eindeutschung frühester Dichterinnen wie Enheduanna oder Sappho vorgemacht, wie durch moderne Alltagsausdrücke sehr ferne Texte an uns herangeholt werden, ohne anachronistisch zu wirken.
Woher der «Orient des Geistes» seine Bilder bezog
Für diese schön unzimperliche Vorgehensweise bietet die Geschichte der einunddreißigsten Nacht ein blendendes Beispiel. Drei Palastmädchen treiben ein exhibitionistisches Spiel mit einem Lastenträger. Sie zeigen neckisch auf ihre Scham und wollen vom Gast wissen: «Was haben wir denn hier?» In Claudia Otts Fassung rätselt der Lastenträger: Vagina? Möse? Klitoris? Fotze? Tausendfüßler? Fickparadies? Der richtige Name aber, so wird er belehrt, lautet: «Basilikum, das auf den Brücken sprießt.» Ein Bild übrigens, das sich noch in den zeitgenössischen Gedichten eines Adonis oder Mohammed Bennis wiederfindet.
Dass im Vorfeld des Schwerpunkts «Arabische Literaturen» auf der Frankfurter Buchmesse 2004 gerade diese Neuausgabe erscheint, ist sehr zu begrüßen. Denn diese Geschichten prägten bei ihrem Siegeszug im frühen 18. Jahrhundert ganz wesentlich das romantische Orientbild Europas. Eine Wunderwelt schien sich zu öffnen, die die Phantasie zahlloser Schriftsteller – in Deutschland allein Lichtenberg, Lessing, Schlegel, Herder, Wieland und Goethe – und Lesergenerationen anregte. Nach 1938 bezeichnete Paul Valéry dies Fabelreich der Phantasie als eine «ménagerie mentale». Der Name «Orient» könne nur dann seine ganze Wirkung auf die Einbildungskraft eines Menschen ausstrahlen, wenn dieser noch nie in jener kaum definierten Gegend gewesen sei: «C’est là l’ORIENT de l’esprit.»
Ein problematisches, spannendes MorgenlandInzwischen gibt es einen regelmäßigen, wenn auch politisch und ideologisch gefärbten Informationsfluss. Abendland und Morgenland sind einander näher und zugleich ferner gerückt. Es wäre sehr zu wünschen, dass die Romanwerke von al-Charrat oder Ghitani, die Dichtungen von Adonis oder Darwisch einen ähnlichen Siegeszug antreten könnten wie einst «Tausendundeine Nacht». Nach wie vor geht es um die Vermittlung uralter Weisheiten in einer modernen Sprache, um ein problematisches, nüchtern ästhetisiertes, spannendes Morgenland. Auch die neue arabische Literatur zeichnet sich, durchaus mit Rückbezügen zu «Tausendundeine Nacht» und dessen raffinierter Symbolik, durch Vertrauen in die Welt aus; sie ist zeitlos, von epischem Atem, also uralt und erschreckend aktuell.
Als Bagdad, einst Sitz des Kalifen Harun al-Raschid und mythischer Schauplatz fast aller Geschichten aus «Tausendundeine Nacht», nach Beginn des Irak-Krieges am 23. März 2003 zum Hauptziel der amerikanischen Bombenangriffe wurde, betitelte die F.A.Z. ihren Aufmacher im Feuilleton «Die 1002. Nacht». Es folgten kurze Auszüge aus den Erzählungen Schahrasads, «eine Wiederbegegnung», wie die Zeitung schrieb, «mit den Anfangssätzen unserer Kindheit». Das ist gut gesagt, denn tatsächlich hat sich Gallands Übersetzung in die Seelenlandschaften des alten Europa eingeschrieben. Doch haben wir als Kinder, neben all der Genugtuung, dass die Guten stets belohnt, die Bösen bestraft wurden, auch die pralle, schön zügellose Version von «Tausendundeine Nacht» zu Gehör bekommen? Wohl eher die Version light. Aber eines grub sich sicherlich bereits unserem kindlichen Gedächtnis ein – die Stimme Schahrasads, wenn der Morgen graute: «Was ist das schon gegen das, was ich euch morgen nacht erzählen werde, wenn ich dann noch lebe und mich der König verschont. Das wird noch spannender, noch aufregender und noch viel schöner sein!»
Joachim Sartorius, Jahrgang 1946, ist gelernter Diplomat und leitet die Berliner Festspiele. Er veröffentlichte fünf Gedichtbände und ist Herausgeber der Werkeditionen von Malcolm Lowry und William Carlos Williams sowie der Anthologien «Atlas der neuen Poesie» und «Alexandria Fata Morgana».
Muhsin Mahdi
Tausendundeine Nacht
Aus dem Arabischen von Claudia Ott.
C. H. Beck, München 2004. 687 S., 29,90 €
Tausendundeine Nacht (Das Hörbuch)
Regie: Helma Sanders-Brahms. Sprecher: Eva Mattes, Jürgen Hentsch,
Jörg Gudzuhn u. a.
4 Pakete mit jeweils 3 bzw. 4 CDs.
Hörverlag, Hamburg 2002–2004. Jeweils 32 bzw. 42 €
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