- „Ich liebe den Mindfuck“
Danny Boyle inszeniert in seinem neuen Film „Trance – Gefährliche Erinnerung“ ein Verwirrspiel zwischen Wahn und Wirklichkeit. Im Cicero-Online-Interview spricht der britische Regisseur und Oscarpreisträger über den Mindfuck, unmögliche Realitäten und erklärt, warum wir mehr Weltraumfilme brauchen
In einem Raum irgendwo sehr weit links hinten im Berliner Hotel de Rome könnte man meinen, die bisher anwesenden Journalisten hätten sich verirrt. Wie zufällig sitzen sie bei einem Tässchen Tee beisammen, kauen gedankenverloren auf ihren Butterkeksen und betippen seelenruhig ihre Laptops. Keine übergroßen Pappaufsteller, keine aufwändig geschnürten Pressedossiers, keine Aufregung, kein Andrang. Nichts, was nach Hollywood schreit. Und doch sitzt nur einen Wanddurchbruch entfernt Oscarpreisträger Danny Boyle.
Während ich also kurz vor der Schnappatmung bin, könnte die Stimmung sonst nicht entspannter sein.
Als eine ernst dreinblickende Agentur-Dame dann meinen Namen ruft, erhebe ich mich so beiläufig wie möglich, folge ihr mit einem wahnsinnig bemühten Schlendergang 20 konzentrierte Zeitlupenschritte vor eine unscheinbare Flügeltür, die sich nach einem imaginären Trommelwirbel meinerseits auch sogleich öffnet. Und plötzlich ist alles ganz klar: Danny Boyle ist einfach ein saucooler Typ.
Britisch charmant, graue Stoppelhaare, unauffällige Brille, steht er da, größer als gedacht, in seinem gut sitzenden, anthrazitfarbenen Anzug, der ein einziges Understatement ist – wie Boyle selbst. Keine Frage, ich hätte ihn gerne auf meiner Kurzwahltaste für etwaige Donnerstagabend-Noch-Lust-auf-ein-Bier?-Anrufe. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, denke ich mir... Wie dem auch sei, it’s a pleasure, Mister Danny „Coole Socke“ Boyle, Plauderton an, die Zeit läuft!
Es geht um „Trance“, Boyles neuen Film, in dem sich Kunsthändler Simon (James McAvoy) von Gauner Frank (der großartig bösewichtige Vincent Cassel) zu einem millionenschweren Kunstraub anstiften lässt. Jedoch verläuft der geplante Diebstahl nicht ganz reibungslos: Simon bekommt einen Schlag auf den Kopf und kann sich folglich nicht mehr daran erinnern, wo der gestohlenen Goya versteckt liegt. Frank engagiert daraufhin eine Hypnotiseurin (Rosario Dawson), die sich an Simons Gedächtnis zu schaffen macht. Und der Weg in Simons Psyche entwickelt sich zu einem Verwirrspiel, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zunehmend verschwimmen.
Herr Boyle, schon mal unter Hypnose zu einem gackernden Huhn mutiert?
Ha, nein, noch nie. Und je mehr ich über Hypnose herausfinde, desto weniger will ich.
Auch nicht um der Kunst Willen? Eine Recherche im Selbstversuch sozusagen?
Nein, für diesen Film habe ich das den Schauspielern überlassen. Ich befürchte nämlich, dass ich zu diesen fünf bis zehn Prozent der Weltbevölkerung gehören könnte, die als „sehr leicht beeinflussbar“ gelten. Ich hätte Angst davor, was durch die Hypnose vielleicht zutage treten könnte.
Ist das die Angst vor dem totalen Kontrollverlust?
Definitiv. Regisseure sind alle Kontrollfreaks. Vielleicht würde ich allerhand Dinge erzählen und Ideen ausplaudern. Und als Kontrollfreak ist man natürlich darauf bedacht, seine Geheimnisse zu hüten.
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Welche Geheimnisse wären das?
(lacht) Netter Versuch.
Als Sie „Trance“ in New York vorstellten, zitierten Sie Albert Einstein, der einmal gesagt hat: „Der einzige Grund, weshalb Zeit existiert, ist, damit nicht alles auf einmal passiert.“ Was hat Sie daran fasziniert, die Regeln der Zeit zu brechen?
Einer meiner persönlichen Helden ist der britische Filmemacher Nicolas Roeg. In den späten Sechzigern, den Siebzigern und den frühen Achtzigern hat er eine ganze Reihe von großartigen Filmen gedreht. Besonders angetan hat es mir „Eureka“ mit Gene Hackman. Das Besondere daran ist, dass Roeg die Zeit hier als ein völlig flüssiges Element behandelt. Wir sind es gewohnt, an der Zeit als etwas Narrativem, Linearem festzuhalten. Alles muss seine Ordnung haben, damit man weiß, wo beziehungsweise „wann“ man ist. Und wir akzeptieren diesen Zustand, bis wir etwas anderes gesagt bekommen. Dabei sollten wir uns die Zeit viel eher fließend vorstellen. Ähnlich wie das menschliche Bewusstsein, das sich ebenfalls fließend und nicht linear bewegt. Das ist es, was mich fasziniert hat. Denn im Kino kann tatsächlich alles auf einmal passieren. Selbst wenn es irgendwie unmöglich erscheint. Dann werden wir eben Teil des Unmöglichen. Und das Unmögliche wird zur Realität.
Ihre Filme haben immer einen etwas halluzinogenen Touch. Die Figuren als auch die Zuschauer changieren zwischen Realität und Fiktion. Bewusstsein, Unterbewusstsein, Traumstrukturen – dramaturgische Elemente, die schon bei den Surrealisten wie Louis Bunuel oder Salvador Dalì beliebt waren. Eine Referenz?
Ich kenne diese Filme natürlich. In Hitchcocks „Spellbound“ spielen diese Elemente eine Rolle und da mag es Ähnlichkeiten geben. Aber in diesem Film ging es mir eher darum, das menschliche Bewusstsein zu ergründen, was anhand der Figur von James McAvoy durchgespielt wird.
Er spielt den Kunstauktionator Simon, der in einen Gemäldediebstahl verwickelt ist, einen Schlag auf den Kopf bekommt und sich nicht mehr erinnern kann, wo das geraubte Bild geblieben ist. Die Surrealisten griffen auf Freuds Psychoanalyse zurück, um in das menschliche Bewusstsein vorzustoßen. In „Trance“ soll die Erinnerung mithilfe von Hypnose zurückgeholt werden.
Die Idee ist folgende: Unsere Erinnerung ist wie eine Kette beschaffen, bestehend aus einzelnen Gliedern. Die Identität des Menschen wiederum setzt sich aus dieser Erinnerungskette zusammen. Sollte diese Kette einmal abreißen oder unterbrochen werden, sind wir nicht mehr die, die wir einmal waren. An der Alzheimer-Erkrankung lässt sich das gut nachvollziehen: Jemand, der an Alzheimer leidet, ist immer noch da, wir können ihn sehen und er sieht aus wie die Person, die wir einmal kannten. Aber nach und nach verschwindet diese Person, weil seine Erinnerung schwindet und mit ihr alles was ihn als Menschen ausmacht. In „Trance“ greift die Protagonistin mit Hilfe der Hypnose in die Erinnerungskette ein, sie manipuliert sie, was schließlich enorme Konsequenzen für alle Beteiligten hat.
Eine sehr trügerische Methode, wie sich herausstellt.
Das stimmt. Aber im Grunde genommen betrügen wir uns selbst die ganze Zeit.
Weil unsere Erinnerung nie ganz der Wirklichkeit entspricht?
Exakt. Nach unserem netten kleinen Gespräch hier werde ich vermutlich einen kleinen Teil in Ihrem Leben ausmachen, weil Sie sich an mich erinnern. Und Sie werden eine kleine Rolle in meinem Leben spielen, weil ich mich an Sie erinnere. Die Erinnerung ist nun aber alles andere als verlässlich, denn unser Bewusstsein fügt unterbewusst bestimmte Dinge hinzu oder streicht andere weg. Und erst diese verfälschte Erinnerung ist Teil unserer Identität. Und auf diese Weise kommen jeden Tag, jeden Augenblick neue Glieder zu der Kette hinzu.
Aus diesen unzuverlässigen Gliedern spinnen Sie in „Trance“ ein Labyrinth, aus dem sich die Figuren zu befreien suchen. Die Rekonstruktion der Wahrheit geht einher mit der Rekonstruktion der Erinnerung beziehungsweise der Identität, ähnlich wie in Christopher Nolans „Memento“ oder „Inception“ und Michel Gondrys „Eternal Sunshine of a Spotless Mind“. Thomas Elsässer hat dieses Spiel mit der Wahrnehmung im Film als Mind Game Movie bezeichnet.
Ein regelrechter Mindfuck! Ich liebe sowas! Ich spiele mit der Wahrnehmung der Figuren im Film, aber auch außerhalb davon. Es gibt hier aber noch eine weitere Ebene. Wenn man einen Film dreht, ist man sich ständig darüber im Klaren, dass das alles nur Illusion ist. Alles ist ein Konstrukt. Alles was man sieht, ist zutiefst unzuverlässig, weil uns unser Gedächtnis jeden Tag betrügt. Es gibt da einen Science-Fiction-Autor, dessen Name mir gerade entfallen ist, und der hat gesagt: Der Mensch hat die Geschichte als solche überhaupt erst erfunden.
Weil wir den Drang haben, alles akribisch zu dokumentieren?
Ja. Wir halten Momente der Geschichte fest und ordnen ihnen eine logische Reihenfolge zu. Und das alles nur aufgrund unserer Erinnerung, die per se falsch ist. Geschichte ist also eine sehr fragwürdige Angelegenheit, zumindest dann, wenn man sie als etwas Absolutes betrachtet.
Der Mindfuck – ein neues Genre?
Ich weiß nicht, ob ich hier direkt von einem neuen Genre sprechen würde. Ich weiß nur, dass ich gerne mehr solche Filme sehen wollen würde. Ich bin mir nur nicht sicher, wie viele Geschichten es gibt, die man auf diese Weise erzählen kann. Ich habe einmal einen Weltraumfilm gedreht, „Sunshine“. Weltraumfilme wirken deshalb immer irgendwie seltsam, weil uns das Weltall als solches ziemlich fremd ist. Es gibt immer wieder dieselben Geschichten über feindliche Übernahmen irgendwelcher Kreaturen, immer irgendein Raumschiff, das sich aufmacht zu neuen Weltraumabenteuern und dann gibt es ein außerirdisches Signal und alle kämpfen. Bla bla bla. Aber tatsächlich einen Film über das Weltall gibt es nicht.
Stanley Kubrick dreht sich jetzt gerade im Grab um…
Mein Punkt ist: Mit dem Weltraum verhält es sich wie mit dem menschlichen Bewusstsein. Wir wissen so unglaublich viel über den menschlichen Körper, wir kennen seine Anatomie, seine DNS. Aber das alles beantwortet nicht einmal annährend die Fragen über die 100 Milliarden Neuronen und die Billionen von Synapsen in unseren Hirnen. Insofern bin ich also für mehr Mind Game Movies, um mehr über das menschliche Bewusstsein zu erfahren.
Und für mehr Weltraumfilme.
Das auch. Auf zu unbekannten Galaxien!
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Auffällig ist auch, dass Sie das erste Mal eine Frau ins Zentrum rücken. Rosario Dawson spielt die attraktive, intelligente Hypnotiseurin, die im Verlauf des Films die Fäden der Macht an sich reißt. Zeichnen Sie hier die Ikone der Femme fatale neu?
Das war der Plan. Wir haben hier bewusst Elemente des Film noir einfließen lassen. Spannend daran ist, dass sie sich Dawson alias Elizabeth erst zur Mitte des Films zu einer richtigen Femme fatale entwickelt, ganz klassisch, indem sie die beiden männlichen Hauptfiguren gegeneinander ausspielt. Sie ist sich ihrer Schönheit, ihrer Sinnlichkeit bewusst und führt damit die Herren der Schöpfung in die Irre.
Konträr zur Figur der Ariadne, die Theseus anhand eines roten Faden aus dem Labyrinth des Minotaurus lotst. Vielmehr führt Ihre „Ariadne“ die anderen immer tiefer hinein.
So ähnlich. Für Elizabeth ist es von essenzieller Wichtigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen. Dabei ist sie nicht die kühle Blonde aus der Hitchcockwelt, unfähig, Gefühle an sich heranzulassen. Im Gegenteil: Sie erweist sich als leidenschaftliche, aber auch als verletzliche und zerbrechliche Frau. Doch sie ist eben kein Mittel zum Zweck, kein Medium. Sie geht keine Kompromisse ein und lebt nach ihren eigenen Vorstellungen – und es gelingt. Für sie ist am Ende das gestohlene Bild, um deren Wiederbeschaffung es geht, dann auch kein materielles Gut, das einen bestimmten Gegenwert besitzt, sondern ein Symbol für ihre Unabhängigkeit.
Der Film noir hat der Filmwelt neben der Femme fatale auch eine neue Heldenfigur geschenkt. Den strahlenden Ritter gab es plötzlich nicht mehr, an seine Stelle trat ein neuer Typus, geplagt von moralischen Konflikten, voller Makel und einem Hang zur düsteren Seite. In „Trance“ haben wir drei solcher Antihelden – wer ist Ihr liebster?
Keiner der sogenannten „Helden“ im Film erntet die Sympathie oder die Unterstützung des Zuschauers. Das sollen sie auch gar nicht. Die Figur des Simon verleitet einen zwar dazu, weil er nett aussieht, charmant und erfolgreich ist. Doch im nächsten Moment wird einem die Zuneigung, die man für ihn automatisch entwickelt, auch schon wieder entrissen. So ist das Leben. Meine Lieblingsheldin ist die Femme fatale.
Das Thema Gewalt behandeln Sie offensiv. Als Sie „28 Days later“ drehten, sagten Sie, Gewalt sei eine Krankheit, die von innen und nicht von außen kommt. Auch in „Trance“ gibt es wieder diesen Dualismus zwischen Gut und Böse, als ein unendlicher Kampf, der in jedem von uns tobt. Moralische Instanzen sucht man vergeblich – auch oder gerade in der Femme fatale.
Das ist jetzt vielleicht zu sehr aus der Perspektive eines Mannes gesprochen, aber wir sind nun einmal zu Gewalt fähig, was schlicht und einfach mit der physischen Muskelkraft des Mannes zusammenhängt. Diese Kraft ist da und sie lässt sich nicht leugnen. Eine beängstigende Tatsache. Der Film dreht sich nicht direkt um häusliche Gewalt. Aber was Dawson im Film sagt, ist wichtig. Jede dritte oder vierte Frau wird heutzutage einmal in ihrem Leben zum Opfer. Und auch wenn Großbritannien ein fortschrittliches, liberales Land ist, wird Frauen häufig der Rat gegeben, davonzulaufen. Sie sollen ihre Identitäten aufgeben, ihre Telefonnummern ändern und in eine andere Stadt ziehen. Als sich mit den Tätern zu befassen, rät die Polizei den Frauen lieber, ihr Schicksal hinzunehmen und damit klarzukommen. Die Figur der Elizabeth lässt sich nicht auf dieses Versteckspiel ein. Sie lässt sich nicht zum Opfer machen.
Dabei bleibt sie selbst nicht ganz ohne Schuld.
Rückblickend betrachtet sind die Entscheidungen, die sie trifft, riskant – und vielleicht auch nicht immer ethisch korrekt. Aber sie hat sich ihrem Schicksal verschrieben. Sie nimmt das Risiko auf sich, auch wenn es eigentlich unmöglich ist, der Gewalt der Männer zu entkommen.
Das Spiel mit der Unmöglichkeit ist ja eines Ihrer liebsten…
Es kommt immer wieder, das Unmögliche. Es ist unmöglich, „Wer wird Millionär?“ zu gewinnen. Es ist unmöglich, sich nach 127 Stunden aus einem Canyon zu befreien – aber irgendwie gelingt es doch. Und dieses Mal gelingt das Unmögliche eben einer Frau, und nicht dem Mann.
Eine kleine Ode an den Feminismus?
An die starke Frau auf jeden Fall.
Herr Boyle, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sarah-Maria Deckert.
„Trance“ läuft ab dem 8. August in den deutschen Kinos.
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