- Tischtennis mit Doktor Tod
Eine „Bestie“ nannten sie ihn, einen „Schlächter“: Der brutale SS-Arzt Aribert Heim lebte jahrzehntelang unbehelligt in Ägypten. Das Buch Dr. Tod. Die lange Jagd nach dem meistgesuchten NS-Verbrecher erzählt erstmals, wie seine Flucht möglich war
Seine Opfer im Konzentrationslager nannten ihn „Doktor Tod“ und „Schlächter von Mauthausen“. Trotzdem blieb der SS-Arzt nach Kriegsende zwei Jahrzehnte lang praktisch unbehelligt. Erst in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde Dr. Aribert Ferdinand Heim zu einem der meistgesuchten NS-Verbrecher in Deutschland.
Selbst mit Aktenzeichen XY-ungelöst wurde nach ihm gefahndet – ohne Erfolg. Bis es den Journalisten Nicholas Kulish und Souad Mekhennet 2009 gelang, siebzehn Jahre nach dessen Tod, die verstaubte Aktentasche des Gesuchten mit Zeichnungen, Manuskripten, medizinischen Berichten und persönlichen Dokumenten in Kairo aufzuspüren. Den brisanten Nachlass hatte die Familie Doma aufbewahrt, in deren Hotel Kasr al-Medina der flüchtige NS-Verbrecher die letzten Jahre seines Lebens bis zum Krebstod 1992 gewohnt hatte.
Mit dem Material gelang es den beiden Autoren, detailgenau und fesselnd geschrieben, Leben und Flucht Heims zu rekonstruieren und gleichzeitig zu kontrastieren mit der deutschen Nachkriegsgeschichte einer zunächst sehr unwilligen, später dann fieberhaften Jagd nach den NS-Verbrechern. Das Buch ist ein detektivisches Meisterwerk, weil es über Heims Einzelfall hinaus erhellt, wie die Fluchtwege der NS-Mörder funktionierten, mit welchen Widerständen und alten Nazi-Seilschaften die Fahnder zu kämpfen hatten und warum eine wirklich intensive Suche in der Bundesrepublik erst so spät in Gang kam.
KZ-Opfer als Schreibtischschmuck
Aribert Heim stammte aus der Steiermark, wo er 1914 geboren wurde. Im Zweiten Weltkrieg war der Österreicher 1941 einige Monate lang nach Mauthausen abkommandiert und wurde in dieser Zeit für seine unvorstellbar sadistischen „Behandlungen“ von Gefangenen berüchtigt. Nach Aussagen von KZ-Überlebenden führte er unnötige Operationen ohne Narkose durch, nach denen praktisch sämtliche Opfer starben. Anderen Häftlingen injizierte er Benzin ins Herz, nachdem er sich zuvor mit ihnen ausführlich und Anteil nehmend über deren Familiensituation unterhalten hatte.
Heim habe die Angewohnheit gehabt, berichtete einer der Zeugen, den Gefangenen in den Mund zu schauen, „um festzustellen, ob ihr Gebiss tadellos instand war. War dies der Fall, so hat er diesen Häftling umgebracht durch Injektion, den Kopf abgeschnitten, im Krematorium stundenlang kochen lassen, bis der nackte Schädel von jedem Fleisch entblößt war, und diesen Schädel für sich und seine Freunde präpariert als Schreibtischschmuck“.
Trotzdem führte Heim, der es als Medizinstudent auch zum österreichischen Eishockey-Nationalspieler gebracht hatte, nach dem Krieg zunächst in Baden-Baden ein bürgerliches Leben als Gynäkologe und Familienvater. Als die Polizei, angestoßen durch den Eichmann-Prozess in Jerusalem, nach ihm zu fahnden begann, tauchte er 1963 in Ägypten unter. Am Nil lernte er Arabisch und baute sich mit Hilfe seiner in Deutschland verbliebenen Familie eine neue Existenz auf. In Berlin verwaltete Heims Schwester Hertha dessen Mietshaus in Moabit in der Tile-Wardenberg-Straße 28 und schickte dem Untergetauchten über Mittelsmänner regelmäßig die Mieteinnahmen.
Aribert Heim, die „Bestie in Menschengestalt“
Sohn Rüdiger besuchte ihn sogar mehrfach in Ägypten, ohne dass die deutsche Polizei ihm auf die Spur kam. 1979 endlich machte die Berliner Justiz dem gesuchten NS-Verbrecher erstmals in Abwesenheit den Prozess. Der Staatsanwalt nannte Heim „eine Bestie in Menschengestalt“. Während der Zeugenaussagen herrschte „Totenstille im Saal“, wie damals Berliner Gerichtsreporter schrieben – „Grausamkeiten, die einem die Luft nehmen, Brechreiz verursachen“. Die Kammer verurteilte Heim zu einer Geldstrafe von 510.000 D-Mark, was dem Zeitwert seines Mietshauses entsprach.
In Ägypten musste sich der Gesuchte daraufhin deutlich einschränken, konvertierte zum Islam und nahm zur besseren Tarnung einen arabischen Namen an. Er mietete in dem heruntergekommenen Kasr al-Medina Hotel ein kleines Zimmer im siebten Stock, wo er die letzten Jahre seines Lebens wohnte. Bei seinen arabischen Nachbarn war Tarek Farid Hussein alias Aribert Heim ausgesprochen beliebt, denen gegenüber er sich als Besitzer einer Abrissfirma ausgab.
Selbst in fortgeschrittenem Alter machte der hoch gewachsene, schlanke Mann noch ausgedehnte Spaziergänge durch die Stadt. Er lief zur berühmten Al Azhar Moschee, wo er 1980 sein islamisches Glaubensbekenntnis abgelegt hatte. Oder er machte Pause in dem alteingesessenen Café Groppi am Talat Harb Platz, wo er Schokoladenkuchen für seine arabischen Freunde kaufte. Auf der Dachterrasse des Hotels spielte er mit den Kindern Tischtennis oder versuchte, ihnen Englisch und Französisch beizubringen. „Onkel Tarek“, wie ihn die Kleinen nannten, war auch ein passionierter Amateurfotograf, der stets eine Kamera um den Hals hatte, gleichzeitig aber penibel darüber wachte, dass er nie selbst auf den Fotos zu sehen war.
Durch seine umsichtige Tarnung und die aktive Unterstützung seiner Familie blieb Heim bis zuletzt unentdeckt, obwohl ihm in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens nicht nur der Nazi-Jäger Simon Wiesenthal, sondern auch der baden-württembergische Polizeikommissar Alfred Aedtner auf den Fersen waren, der selbst nach seiner Pensionierung noch auf eigene Faust weiter nach dem NS-Verbrecher suchte.
Späte Anerkennung der Nazi-Jäger
Und so ist das Buch auch ein Dokument über die zunächst kleine Schar mutiger NS-Strafverfolger nach dem Zweiten Weltkrieg. „Die Bürde der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Landes lastete auf den Schultern von wenigen Männern und Frauen: Polizeibeamten, Staatsanwälten und Politikern, die sich durch ihr Gewissen den Opfern verpflichtet fühlten“, urteilen die Autoren Nicholas Kulish und Souad Mekhennet.
Jahrelang hätten sie für ihr Streben nach Gerechtigkeit keine Anerkennung geerntet, sondern nur Beschimpfungen. Dabei hätten die Angefeindeten mit ihrer beharrlichen Arbeit letztlich „einen Präzedenzfall für die Ahndung von Völkermord überall in der Welt geschaffen“, der 2002 in der Gründung des „ständigen internationalen Strafgerichtshofes zur Verfolgung von Kriegsverbrechern“ mündete.
Die Jagd nach NS-Kriegsverbrechern mag nicht sehr konsequent und eher unzureichend gewesen sein, lautet das Fazit des Autoren-Duos. Doch „das Vermächtnis, das berühmte Männer wie Simon Wiesenthal und eher Unbekannte wie Alfred Aedtner hinterlassen haben, setzt neue Maßstäbe der Gerechtigkeit“.
Nicholas Kulish / Souad Mekhennet: Dr. Tod. Die lange Jagd nach dem meistgesuchten NS-Verbrecher. C.H. Beck Verlag 2015, 352 Seiten, 22,95 Euro.
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