- Koreanischer Eisbrecher
Es gibt Filme, die sind tief im Berlinale Programm vergraben und entpuppen sich als wahre Highlights. Zum Beispiel der Science-Fiction Thriller „Snowpiercer“. Berlinale Tagebuch, Teil 2
Eine Bombe von einem Film wurde auf der diesjährigen Berlinale im Forum vergraben. In dieser Programmsektion darf man sonst auf sperrige Dokumentarfilme über die Transgenderproblematik unter moldavischen Ziegenhirten hoffen, oder auf melancholische Meditationen über die Einsamkeit usbekischer Briefträgerinnen. Meditativ zu sein, kann man dagegen „Snowpiercer“, dem Science-Fiction Thriller des Koreaners Bong Joon-Ho, eher nicht vorwerfen, ein Schaden ist das aber nicht.
Basierend auf einer französischen Comicvorlage, erzählt der Film die Geschichte einer Menschheit in der postapokalyptischen Eiszeit – der Versuch den Klimawandel durch ein chemisches Kühlmittel zu korrigieren, ist spektakulär nach hinten losgegangen. Flora, Fauna, die komplette Zivilisation sind unter einer Schneeschicht begraben, die wenigen Überlebenden haben sich in einer Arche Noah auf Schienen verschanzt, einem ewig den Globus umfahrenden, gigantischen, kilometerlangen Zug. Es ist ein Modell, von dem die Deutsche Bundesbahn sich fürs nächste Schneechaos eine Scheibe abschneiden kann, ein Eisbrecher der auf seiner Fahrt Gletscher, Eisblöcke und Schneeberge mühelos von den Schienen sprengt.
Die eigentliche Geschichte allerdings, spielt sich fast ausschließlich im inneren des Stahlzuges ab, ein Mikrokosmos der menschlichen Gesellschaft mit ihren Klassenunterschieden. Die hintersten Abteile sind fensterlose Slums aus Stahl, in denen der Hunger die Menschen zu Kannibalen gemacht hat, bis sie begonnen haben, sich von glibbrig-grauen „Proteinblöcken“ aus Kakerlakenpaste zu ernähren. Vorne, in den ersten Klassen, lebt die begüterten Minderheit in Dekadenz und Ausschweifung, auf dem Rücken der Armen, bei denen sie sich bedient, wie in einem Ersatzteillager: Musikanten, Arbeiter, Kinder, wer gebraucht wird, wird gewaltsam abgeholt.
Und ganz vorne, im Maschinenraum, lebt der Erfinder und Bauer des Zuges, der sagenumwobene, „barmherzige“ Wilford, unsichtbar aber omnipräsent wie der Zauberer von Oz, fanatisch verehrt von seinen faschistischen Schergen, an deren Spitze die Ministerin Mason, komplett großartig gespielt von Tilda Swinton als Mutter aller Schreckschrauben und Gouvernante des Grauens.
Erwartbarerweise bricht unter den zerlumpten Massen mit den verkohlten Gesichtern bald ein Aufstand aus. Die, die nichts haben stürmen die Abteile derjenigen, die alles haben, letzte Klasse gegen erste Klasse. Es ist nicht die erste Revolution auf der inzwischen 17jährigen Reise des Zuges, aber alle sind bisher an den hochgesicherten Abteiltüren und Masons Killerkomandos gescheitert und aufgerieben worden, keine hat es je zu ihrem Ziel geschafft: Dem Maschinenraum des ominösen Wilson.
Aber die Revolution unter Rebellenführer Curtis (Chris Evans) und seinem greisen Mentor Gilliam (John Hurt) ist aussichtsreicher: Sie haben Namgoong Minsu (Song Kang-ho) gefunden, den zugedröhnten aber fachkundigen Architekten der Hochsicherheitstüren zwischen den Abteilen. So kämpfen die Aufständischen sich in mit Fäusten, Äxten und Stahlkugeln von Abteil zu Abteil, und oft sind es erst die ultrabrutalen Action-Sequenzen, die einen daran erinnern, es trotz des westlichen Schauspielerensembles mit einem Koreanischen Film in der Tradition des Asia-Extreme Kinos zu tun zu haben.
Mit jedem neuen Abteil erobern die Rebellen sich ein neues Universum, es ist eine Reise vom dreckigen Rumpf eines U-Boots in die Beletagen eines Luxus-Kreuzfahrtschiffes. Gestartet im eigenen, neonbeleuchteten Stahlghetto sehen sie auf einmal zum ersten Mal seit 17 Jahren Tageslicht, arbeiten sich nach vorne durch tropische Gärten, Sushi-Bars, poppig-psychedelische Klassenzimmer, durch Spa-Abteile und holzverkleidete Gentleman-Clubs, es entfaltet sich ein episches Kammerspiel in 30 Abteilen.
Das Filmmarketing gibt sich große Mühe die philosophischen Meriten dieser filmischen Betrachtung einer futuristischen Klassengesellschaft und der Natur des Menschen hervorzuheben. Aber ehrlich gesagt: Die überschaubaren wie erwartbaren Denkanstöße haben uns andere Dystopien auf der Leinwand -von Fritz Langs Metroplolis bis Neil Blomenkamps Elysium -bereits erschöpfend verpasst.
Der Film ist trotzdem eine Rakete. Schauspielerisch erstklassig, visuell frisch und beglückend, vor allem aber dramaturgisch tief befriedigend. Das liegt vielleicht auch an der Videospielartigen Abteilstruktur - jeder Wagen ein neues Level mit neuem Gegner – die einen zu keinem Zeitpunkt das Ziel der Rebellion und der Geschichte vergessen lässt: Der Maschinenraum, Wilson, der Endboss. Wie das Perpetuum Mobile im Motor des nie still stehenden Zuges wird die Story so mit eleganter aber unerbittlicher Hochgeschwindigkeitswindung vorangetrieben, und es ist verblüffend wie sehr diese simpelste aller Handlungsmotivationen – von ganz hinten nach ganz vorne zu kommen – dem Film Antrieb, Rasanz und Genießbarkeit verpasst. Bitte alle einsteigen.
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