- „Religion hat keinen gewalttätigen Kern“
Im Namen Gottes mordeten sich die Kreuzzügler durchs Gelobte Land, im selben Namen wollen radikale Milizen einen islamischen Gottesstaat in Syrien und im Irak errichten. Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong erklärt im Interview, warum heilige Kriege dennoch keine bloßen Religionskriege sind und weshalb Säkularismus Gläubige radikalisieren kann
Karen Armstrong zählt zu den weltweit renommiertesten Religionswissenschaftlern. Sie wurde als Botschafterin der UN-Initiative „The Alliance of Civilizations“ berufen, wo sie sich für religöse Freiheit einsetzt. Als Islam-Kennerin hat sie Regierungen und Parlamente beraten.
Frau Armstrong, Religionen scheinen ein äußerst nützliches Instrument zu sein, um Gewalt zu rechtfertigen. Denn wenn ich eine metaphysische Rechtfertigung für einen Krieg habe, kann mir schließlich keiner was mit irdischen Argumenten. Ist das der Grund, weshalb die Geschichte von der Inquisition bis zum Islamischen Staat von religiöser Gewalt durchtränkt ist?
Transzendente Werte relativieren menschliche Zielsetzungen und verbannen sie auf den zweiten Platz. Religion ist daher immer „nützlich“ gewesen, um eine Handlung wie Krieg mit einer letztgültigen Bedeutung auszustatten. Sie war in der Kriegsführung und strukturellen Gewalt von Gesellschaften eingebunden. Für einen Grund alleine aber sind Menschen noch nie zu Felde gezogen. Das sieht man zum Beispiel an den Kreuzzügen, zu denen Papst Urban II 1095 aufrief. Er wollte damit auch die Macht der westlichen Kirche nach Osten ausdehnen und eine päpstliche Monarchie errichten. Ein Krieg hat immer soziale, ideologische und vor allem wirtschaftliche Gründe. Zu behaupten, Religion habe einen sich nicht verändernden und inhärent gewalttätigen Kern, ist weder genau, noch reflektiert das die Geschichte. Denn sie hat häufig die einzige nichtgewalttätige Alternative geboten.
Nun, Jesus peitschte sich durch den Tempel, er focht einen Kampf der Entkolonialisierung – zumindest verbal. Mohammed führte einen blutigen Krieg auf der arabischen Halbinsel.
Hätte Mohammed nicht gegen Mekka gekämpft, wäre das Gemeinwesen in Medina sicherlich ausgelöscht worden. Sobald sich aber das Kriegsglück zu seinen Gunsten wandte, setzte er eine mutige Politik der Gewaltfreiheit in Gang. Jesus hatte dagegen den Luxus, nicht Staatsoberhaupt zu sein und konnte daher seinen Anhängern sagen, sie sollten die zweite Wange hinhalten und auch ihre Feinde lieben.
Dann schauen wir einmal in die Schriften. Die sind doch voll von Gewalt!
All diese Schriften entstanden in Gesellschaften, in denen Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit vorherrschten. Jesus lebte in Palästina unter römischer Besatzung und starb als Opfer von Staatsterrorismus. Als der Islam im Arabien des 7. Jahrhunderts entstand, hat die Gewalt zwischen den Stämmen einen beispiellosen Höhepunkt erreicht. Natürlich spiegeln religiöse Traditionen dies wider.
…wie auch die antiken polytheistischen Religionen mit teils brutalen Gottheiten.
Die Funktion dieser Götter der Antike bestand darin, Menschen dazu zu zwingen, der Gewalt ins Gesicht zu sehen, denn menschliches Leben hängt gerade in agrarischen Gesellschaften vom Töten anderer Geschöpfe ab. Die Götter haben zwar Gewalt nicht sanktioniert, aber die Menschen dazu verdonnert, ihrem Dilemma ins Auge zu blicken: Wir sind gewalttätige Wesen, die sich nach Frieden sehnen.
Können Judentum, Christentum und Islam denn dieses gewaltsame Erbe der archaischen Agrargesellschaften ablegen?
Die abrahamitischen Religionen protestieren ausnahmslos gegen die agrarische Gesellschaft. Die Propheten Israels haben ständig ihre Herrscher verbal angegriffen für Kriegsverbrechen und schimpften auf die wirtschaftlich und politisch ungerechte Ordnung des Römischen Reiches. Die Grundaussage des Korans ist, dass es falsch ist, ein privates Glück aufzubauen und gut, den Reichtum fair aufzuteilen, um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen. Alle drei Religionen versuchten, eine Lösung zu schaffen für die Ungerechtigkeit der Mainstream-Gesellschaft und Menschen zu zwingen, der Ungerechtigkeit und Gewalt ihrer Zeit entgegenzutreten.
Religionen ordnen Gesellschaften, kreieren abgeschlossene Wertesysteme. Dabei ist es unumgänglich, ein „Wir“ und ein „Die“ zu schaffen. In Ihrem Buch „Im Namen Gottes – Religion und Gewalt“ zitieren Sie den New York Times-Korrespondenten Chris Hedges, der schreibt: Krieg macht die Welt verständlich und zeichnet ein schwarz-weißes Bild von „Uns“ und „Denen“. Funktioniert Religion wie Krieg?
Alle Religionen bestehen darauf, dass die Nächstenliebe auf alle Geschöpfe der Welt ausgedehnt werden muss – nicht nur auf „uns“, sondern eben auch auf „die anderen“. Sonst hätten wir schlicht Egoismus. Und der – da sind sich alle religiösen Traditionen einig – hält uns von der Erleuchtung und einem besseren Selbst ab. Aber sicher kann Religion das „Wir“ und das „die anderen“ bekräftigen und tut das auch oft – genauso wie Krieg. Von derselben Distinktion hängt der säkulare Nationalstaat ab, der auch von Gewalt erhalten wird.
Ein Argument der Religiophilen, wenn man so will, ist genau diese Gewalt des Säkularismus. Sie selbst führen in Ihrem Buch die beiden Weltkriege an. Die Krux aber ist: Im Dritten Reich wurden Adolf Hitler und die arische Rasse verehrt. Im Kommunismus erhob sich der Neue Mensch selbst zum Gott, die Bilder von Lenin und Stalin wurden dort platziert, wo gewöhnlich orthodoxe Ikonen hingen. Muss man nicht den Begriff der Religion erweitern, anstatt einfach zu sagen, das Nazi- und das Sowjet-Regime waren säkular?
Ja, absolut! Historisch und linguistisch ist es schwer, Religion zu definieren. Das moderne Religionskonzept ist viel zu eng. Im 18. und 19. Jahrhundert, als wir das Christentum aus dem öffentlichen Leben warfen, begannen wir damit, es mit dem Nationalstaat zu ersetzen. Und die von Ihnen angesprochene Religiosität von Nationalismus und Kommunismus zeigt, wie schwer und künstlich es ist, Religion auf eine separate „spirituelle“ Sphäre zu begrenzen, die abgetrennt ist vom politischen Leben. Wie ich im Buch erkläre, können wir prinzipiell jedes Ding mit absoluter Bedeutung ausstatten. Wenn Sie also einen ausschließlich menschlichen Wert wie das Volk als absolutes Ziel ausweisen, dann haben Sie – in religiösen Begriffen – eine Vergötterung. Wenn eine Nation zum allerhöchsten Wert erklärt wird, dann ist jedes Mittel entschuldbar, um es zu bewahren, den Feind, „die anderen“ zu zerstören.
In diesem Schema denken auch religiöse Terroristen. Da heiligt – im wahrsten Sinne des Wortes – der Zweck die Mittel.
Terrorismus ist immer unausweichlich politisch – auch wenn andere Faktoren, wie Religion, involviert sind. Wenn man die Hamas oder Al Qaida betrachtet, kann man sehen, wie Nationalismus und politische Ziele mit religiösen verschmelzen. Wenn man behauptet, dass solche Terroristen ausschließlich aus religiösen Gründen handeln, dann vereinfachen wir zu sehr.
Sie schreiben, dass Religion zu einer Art Sündenbock in modernen Gesellschaften wurde. Sie verwenden das Bild des Bocks, der in der Wüste seine Wunden leckt und mit all seinem Zorn in die Stadt zurückkehrt, aus der er vertrieben wurde. Sehen Sie die gegenwärtige religiöse Gewalt als eine verständliche Reaktion auf den Säkularismus?
Nichts rechtfertigt Terrorismus. Aber es ist wahr, dass der Säkularismus in seinen aggressivsten Formen Religion in eine extremere Form gedrückt hat. Jede fundamentalistische Bewegung, die ich im Judentum, Christentum und Islam untersucht habe, hat mit einer Sache begonnen, die als Angriff durch das liberale oder säkulare Establishment emfpunden wurde. Jede einzelne dieser Bewegungen gründet auf einer großen Angst vor Vernichtung des eigenen Glaubens und der eigenen Lebensweise. Das ist nicht nur Paranoia.
Der Säkularismus ist also Schuld?
Nein. Er ist höchst förderlich – nicht zuletzt, weil er die religiösen Traditionen von der strukturellen Gewalt des Staates befreit hat. Der Säkularismus war essentiell für unsere Modernisierung. Er hat uns gute Dienste geleistet und mein Buch ist sicherlich keine Verteidigung der Theokratie. Aber kein menschliches System ist perfekt und das säkulare ist hierbei keine Ausnahme. Das säkulare Ideal der Menschenrechte beispeilsweise ist wertvoll und erstrebenswert. Aber dessen Befürworter wie John Locke dehnten es gar nicht auf indigene Völker der Neuen Welt aus. Religiöse Traditionen haben oft Menschen dabei geholfen, solchen Inkonsistenzen zwischen Prinzip und Praxis ins Auge zu blicken. In unserer säkularen Welt müssen wir dasselbe tun. Wir dürfen nicht selbstzufrieden sein mit unseren säkularen Gesellschaften. Wir müssen auf eine säkulare Art ein „Interesse für jeden“ entwickeln. Wir brauchen eine gesunde säkularistische Kritik.
Das Buch „Im Namen Gottes – Religion und Gewalt“ ist vor Kurzem im Droemer Knaur Verlag erschienen.
Foto: Michael Lionstar
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Die Programmierung des kollektiven Unbewussten war in früheren Zeiten erforderlich, um die Arbeitsteilung in Gang zu setzen, die den Menschen über den Tierzustand erhob und bis zu einem gewissen Grad zivilisierte. Solange noch niemand wusste, wie eine perfekte Arbeitsteilung ohne systemische Ungerechtigkeit zu gestalten ist, musste das arbeitende Volk "wahnsinnig genug" für eine unperfekte Arbeitsteilung gemacht und die systemische Ungerechtigkeit aus dem allgemeinen Begriffsvermögen ausgeblendet werden. Dafür bedurfte es der Religion (Rückbindung auf künstliche Archetypen), die bis zum 6. vorchristlichen Jahrhundert noch eine exakte Wissenschaft zur Programmierung von Untertanen war. Jene Priester, die noch wussten, was sie taten, starben aus; die Programmierung des kollektiv Unbewussten blieb bestehen. Und so sind wir heute alle "poor lost children of the sea":
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