- Hugh. Jackman. Kann. Nicht. Singen.
Relevanter Hagel im Eröffnungsfilm, Scarlett Johannson und ein Porno-Süchtiger, ein Diätcamp mit dicken Kindern und dann noch "Les Misérables", ungeschützt vor einer Horde Filmkritiker. Reporter Constantin Magnis berichtet von der Berlinale
Es ist nicht so, als wäre man mieses Wetter auf der Berlinale nicht gewöhnt, nur weckt der Eröffnungsfilm dieses Jahr den Wunsch, es möge einem glamouröser um die Ohren schlagen. In Berlin flockt es eisig-trüb, das internationale Publikum pfercht sich wärmesuchend dicht an dicht in den Warteschlangen aneinander, Achselhuber aus Tokio, Mundgeruch aus Amsterdam, und wo die scharfe Kohlnote im Gedränge vor der Pressekonferenz herkommt, wer weiß das schon, aus irgendeinem der unzähligen Pelzkappuzen-Arctic-Parkas halt.
Im Eröffnungsfilm, in Wong-Kar Wais „The Grandmaster“, schneit und schifft es auch, aber eben anders. Es schneit relevanter, es schifft prachtvoller, niemandem außer dem großen chinesischen Filmemacher gelingt es, mikroskopischste Details derartig mit Bedeutung und Ernst aufzuladen. Da besiegelt ein fallender Kuchenkrümel das Schicksal einer ganzen Kultur, werden in Zeitlupe wirbelnde Regentropfen zelebriert wie apokalyptischer Hagel, scheint ein Wimpernschlag uns die Antwort auf alle nie gestellten Fragen zu geben. [gallery:Die 500 wichtigsten Intellektuellen]
Nach „My Blueberry Nights“, Wong Kar Wais letztem, gar nicht mal so guten Drehausflug in die USA, ist der Meister der Melancholie wieder in China angekommen. In den 30er Jahren soll dort ein Kung-Fu Kämpfer namens Ip-Man (Tony Leung) die Kampfkunstschulen von Nord und Süd unter seiner Großmeisterschaft vereinen. Als das chinesische Kaisertum fällt, die Kommunisten die Macht ergreifen und die Japaner das Land besetzen, versprengt es die Kämpfer in alle Richtungen. Ip-Man liebt Gong Er (Zhang Ziyi) die Tochter seines verstorbenen Großmeister-Vorgängers, die beiden gestehen sich ihre Liebe aber Jahre zu spät, um dann betrübt das beinahe Gewesene zu kontemplieren – wie es so oft in Wong Kar Wais Filmen geschieht. Das alles ist unfassbar elegant inszeniert, die zurückhaltend aber makellos präzise choreographierten Kampfsportszenen, die üppig ausgestatteten Sets von den traditionellen Tavernen, Bordellen oder Tempeln bis hin zum schummrig im Noir-Stil ausgeleuchtete Neon-Hong-Kong der 50er.
Geklatscht haben in der Pressevorführung trotzdem nur etwa drei Menschen. Es muss daran gelegen haben, dass diese drei vorher ihre Hausaufgaben gemacht, und die Presseinformation zum Film gelesen haben, die restlichen 297 nicht, so wie ich. Hätte man das getan, hätte man begriffen: Es handelt sich bei dem Werk um die leicht fiktionalisierte Verfilmung des ereignisreichen Lebens von Ip-Man, dem Erfinder des Kung-Fu Stils Wing Chun, und späteren Lehrer von Bruce Lee. Man hätte sich nicht nicht von einem etwas verwirrenden Drehbuch gelangweilt gefühlt, sondern den Film genossen, und sicher auch wild geklatscht. Das echte Leben schreibt also Geschichten, die nur dann interessanter als die Erfundenen sind, wenn man vorher weiß, dass sie nicht erfunden sind. Darin steckt eine Weisheit, fragen Sie mich nur nicht welche.
Scarlett Johannson, das ewig Kaugummi kauende Fräuleinwunder
Denkbar unkomplex gestrickt ist dagegen das Regiedebüt des Schauspielers Joseph Gordon-Levitt, die Komödie „Don Johnsons Addiction“. Nicht umsonst erinnert der Name des Titelhelden Don Johnson an Long Dong Silver, den Erwachsenenfilmdarsteller mit dem legendär langen Gemächt: Jon Martello (Gordon-Levitt), katholischer Party-Boy aus New Jersey, liebt sein Auto, liebt seine Familie, liebt es nach einer Nacht im Club Frauen flachzulegen, nichts aber liebt er so sehr wie seine Pornos, die er mit scheinbar unersättlichem Appetit im Internet konsumiert, bis zu 10 Mal am Tag.
Das blonde, ewig Kaugummi kauende Fräuleinwunder Barbara (Scarlett Johannson) die er als Liebe seines Lebens zu erkennen glaubt, scheint Grund genug zu sein vom einsamen Onanieren abzulassen. Aber weil er längst süchtig ist, funktioniert das nicht so einfach. Und weil Barbara, die ihrerseits zu viele schlechte Hollywood-Romanzen guckt, das andere Geschlecht ebenfalls nur als Objekt wahrnimmt und Don für sie also nicht mehr als ein Vehikel ihrer stereotypen Klischeevorstellungen ist. So sind die beiden zusammen, ohne je wirklich beim anderen anzukommen.
Die Qualität einer Komödie lässt sich vielleicht auch an der Schwierigkeit bemessen, ihre Komik in Worte zu fassen, aber dieser Film ist streckenweise sehr, sehr komisch. Indem Gordon Levitt die Geschichte - und das italo-amerikanische Proletenmilieu, in dem sie spielt - slapstickhaft vereinfacht, schafft er reichlich Raum für repetitive Situationskomik, und das Ensemble reizt sein komödiantisches Talent bis zum Anschlag aus, besonders Scarlett Johanson als ordinäres, manipulatives Dummchen ist unerwartet komisch. Dass die menschliche Liebesfähigkeit nicht nur unter der pornographischen, sondern auch der kitschigen Reduzierung der Sexualität verkümmern kann, ist eine ganz originelle Beobachtung.
Erst als Jon in einem dramaturgisch etwas holprigen Nachklapp auf die Witwe Esther (Julianne Moore) trifft, die ihm eine praktische Lektion in Sexualethik verpasst, verliert der Film an Fokus. Und dass er schließlich seine wahre aber wenig verblüffende Lektion (Liebe ist dann erfüllend, wenn sie aus Hingabe besteht, Selbstbefriedigung ist das Gegenteil davon) auf einmal differenziert, einfühlsam und total verträumt erzählen will, verpasst dem ansonsten dicht gestrickten Erzählstrang dann doch ein etwas ausgefranstes Ende.
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Während Gordon-Levitt ein deprimierendes Thema lustig verfilmt hat, verfilmt Ulrich Seidel, wie eigentlich immer, ein lustiges Thema äußerst deprimierend. Nachdem sich der notorisch unangenehm zu schauende Österreicher in den ersten beiden Teilen seiner „Paradies“ Trilogie mit den unbefriedigten Sehnsüchten einer Sextouristin in Kenia, und einer fanatischen Christin befasst hat, widmet er sich in „Paradies: Hoffnung“, den vergleichsweise harmlosen Leidenschaften einer 13jährigen.
Gerahmt in die unbarmherzig blutleeren, streng symmetrisch komponierten Bilder der Kameramänner Edward Lachmann und Wolfgang Thaler folgen wir der übergewichtigen Meli (Melanie Lenz) in ein Diätcamp in einem Schulgebäude in den Bergen. Da rollen die Dicken über blaue Sportmatten, machen ächzend Purzelbäume, üben mit hochrotem Kopf Kniebeugen, singen „if you happy and you know it clap your fat“, und klatschen sich dabei mit den Speckhänden auf die dicken Oberschenkel. Der Sporttrainer mit seiner fettigen Haarmatte ist ein Klischee seiner selbst. Er imitiert die Schnalzlaute einer Dressurpeitsche, als wären die unglücklich im Kreis um ihn herumtanzenden Kinder Lippizaner. Und wenn er sie mit Sätzen wie „Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied“ zusammenschnauzt, als wären sie Marines im Boot-Camp, hat das auch etwas Rührendes: Es sagt weniger über sein Verhältnis zu den Dicken, und viel mehr über das Wunschbild seiner selbst.[gallery:Die 500 wichtigsten Intellektuellen]
In den freien Stunden liegt Meli mit den anderen Mädchen im Zimmer und redet über Jungs („manche haben eh an urgeilen Charakter“) oder über erste sexuelle Erfahrungen („nah, oiso, Blasen, des fänd ich irgendwie urgrindig“). Im Laufe der Tage verliebt sich Meli in den über 40jährigen Camparzt (Joseph Lorenz). Erst heimlich, dann kommt sie ihm durch vorgetäuschte Magenschmerzen näher, schließlich wird sie zur Lolita und macht ihm offene Avancen, die er abweist, und auch wieder nicht. In einer Szene lockt Melanie den Lehrer in den Wald. Und wie der Erwachsene in Badehosen dem Kind im Bikini ins Unterholz folgt, mit gierigen Augen wie der Wolf dem Rotkäppchen, in der Hoffnung auf man will nicht wissen was, bekommt man große Angst um das dicke Mädchen, die man lieb gewinnt im Laufe der Geschichte.
Dass das so ist, ist ungewöhnlich für einen Seidel Film, der diesmal gnädig ist, und allen Figuren ihre Würde lässt. Und die Pirouette, die Seidl dreht ist interessant, wie er dem klassische Genre des Teenager-Sommercamp-Films durch den beklemmenden Drehort und die scheinbare Abwesenheit körperlicher Anmut jeglichen Zauber entzieht, um dann zwischen Linoleumböden und Neonröhren genau diese Magie der Jugend wieder aufleben zu lassen, Flaschendrehen, heimlich gerauchte Zigaretten, unerlaubte Biere zu viert auf dem Zimmer, nächtlicher Fensterausstieg, die erste Verliebtheit. Und dann Melanie Lenz, die das gleichnamige Mädchen spielt, ohne eine einzige unechte Note.
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Es braucht eine gewisse Konditionierung, um Filme wie den eben Beschriebenen wertschätzen zu können. Man muss - im Dienste der Wahrheitsfindung und der Kunst - bereit sein, auf bestimmte Annehmlichkeiten zu verzichten: Erbauliche Musik, attraktive Schauspieler, eine aufmunternde Thematik, schöne Bilder, ein Happy End, zum Beispiel. Die Berlinale ist die Art von Festival, für die es gut ist, diesen Verzicht zu trainieren. Und wenn man gerade soweit ist, kommt ein Film wie Tom Hoopers „Les Miserables“, und macht alles wieder kaputt.
Die Verfilmung des Musicals über den Befreiungskampf des Gefangenen Jean Valjean (Hugh Jackman) und schließlich den Pariser Juniaufstand von 1832 ist im Prinzip alles was man nicht braucht, wenn man gerade dabei ist, sich die Geduld für ein Kino der leisen Zwischentöne anzutrainieren. Nach „Les Miserables“ sausen einem die Ohren vom bombastischen Orchester, es juckt die Netzhaut vor lauter Farbe, und das Herz puckert nervös dem nicht enden wollenden Pathos hinterher. Es ist, als würde man zwischen zwei exzellenten Rotweinen einen Wodka-Red-Bull serviert bekommen. Auch verharrt man verzweifelt bei der Frage, wessen Idee es gewesen sein könnte, für einen Kostümfilm, dessen komplette Dialoge gesungen sind, einen Hauptdarsteller einzustellen, dessen Singstimme klingt wie ein Schaf mit Schnupfen. Hugh. Jackman. Kann. Nicht. Singen. Mir ist bewusst, dass in allen Zeitungen das Gegenteil steht, aber ich habe es mit eigenen Ohren gehört, und es war grauenvoll.
Im Übrigen: Einen Film, der derartig vor opulent-frommem Katholizismus strotzt, ungeschützt einer Horde Filmkritiker auszusetzen, ist in etwa so, als würde man die Fürstin Thurn und Taxis allein in der Redaktion der TAZ aufmarschieren lassen: Es kann nicht gut gehen. Es hat dann – und das ist bemerkenswert – tatsächlich genau ein Mensch geklatscht. Irgendwo hinten rechts, ganz kurz und verängstigt. Dabei war der Film eigentlich ganz schön.
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